Der Gegenstand von Kulturpolitik erscheint in dieser Regierungserklärung als eine Ansammlung von Einrichtungen, die in dieser oder jener Weise renoviert, ausgebaut oder umstrukturiert werden. Das fällt weit hinter den umfassenden Kulturbegriff zurück, der sich in den letzten Jahrzehnten längst durchgesetzt hat. Schon gar nicht taucht die zentrale Rolle auf, die Kunst und Kultur bei der gesellschaftlichen Verständigung darüber spielen, wohin sich die Gesellschaft entwickeln soll.
Kunst, kulturelle Bildung, Erinnerungskultur sind Grundlagen einer lebendigen Demokratie. Ich sage: Dazu braucht es eine Ermöglichung von Teilhabe an Kultur unabhängig von Geldbeutel, Herkunft und Bildungsgrad.
Ich komme zum Schluss. – Ich will noch eines hinzufügen: Kulturelle Vielfalt kennt keine Leitkultur und keine nationale Enge. Kunst und Kultur sind geprägt von immer neuen Einflüssen, von internationalem Austausch und dem Überwinden von Grenzen. Kunst und Kultur reflektieren gesellschaftliche Entwicklungen. Sie hinterfragen sie, und sie haben in vielen emanzipatorischen gesellschaftlichen und sozialen Bewegungen eine wichtige Rolle.
Deshalb letzter Satz: Kunst und Kultur sind nicht dazu da, dass sich eine Landesregierung damit schmücken kann – den Eindruck konnte man bei der Regierungserklärung ein bisschen gewinnen –, sondern Kunst ist gesellschaftliche Teilhabe, ist Demokratie. Deswegen: Kunst für alle, von Anfang an. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Wissler. – Als Nächste spricht Kollegin Nicola Beer für die Freien Demokraten. Bitte sehr.
Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kunst und Kultur sind für die Bürgerinnen und Bürger jedes Landes von zentraler Bedeutung. Nach dem Verlauf der Debatte glaube ich, doch noch einmal darauf hinweisen zu müssen, warum das so ist. Das ist so, weil sie maßgeblich zur Identitätsbildung, zur Lebenserfüllung, zur Selbstfindung jedes Einzelnen sowie zur Selbstreflexion einer Gesellschaft beitragen.
Genau deswegen möchte ich heute in meinem Beitrag nicht mit Zahlen des Haushalts und mit sich überbietenden Beträgen um mich werfen. Ich habe auch Probleme mit dem vielen Eigenlob, das hier durch den Raum wehte,
auch wenn Weihrauch durchaus zur Weihnachtszeit passt. Vielmehr will ich einmal mit etwas anderem anfangen. Gerade wenn man die Auffassung hinsichtlich der grundsätzlichen Bedeutung der Kunst und Kultur teilt, so wie wir das empfinden, möchte ich damit beginnen, mich bei denen zu bedanken, die mit ihrem Beitrag als Künstlerinnen und Künstler, als Kulturschaffende in Hessen und darüber hinaus, Herr Minister, nicht nur in den letzten 70 Jahren, sondern in weiter zurückreichenden Zeiten, aber auch gerade in der Gegenwart, einen großen Beitrag zu unserer Gesellschaft geleistet haben. Ich möchte mich schlicht einmal bedanken und sie für ihre Arbeit würdigen. Denn ich glaube, diese Arbeit kann nicht hoch genug gepriesen werden.
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Hans-Jürgen Ir- mer (CDU), Heike Hofmann (SPD) und Janine Wissler (DIE LINKE))
Das sind alles Menschen, Frauen und Männer, die sicherlich oft genug gegen den Ratschlag der eigenen Eltern oder den von Freunden und Bekannten an ihren Traum glauben.
Sie wollen als Kulturschaffende sowie als Künstlerinnen und Künstler in unserer Gesellschaft wirken, und zwar nicht nur für sich. Vielmehr wollen sie für diese Gesellschaft etwas bewirken und das – die Kolleginnen und Kollegen Vorredner haben es schon genannt – häufig unter sehr schwierigen Bedingungen.
Deswegen möchte ich noch einmal daran erinnern, wie wichtig es ist, dass wir mit Art. 62 Hessische Verfassung ein Kulturstaatsgebot haben. Daraus erwächst der Auftrag – ich sage jetzt einmal nicht nur für die Landesregierung und die Abgeordneten, sondern für uns alle in Hessen –, Kunst und Kultur angemessen zu unterstützen.
Herr Minister, mit Blick auf die Rede von Ihnen ist es, so denke ich, doch noch einmal notwendig, darauf hinzuweisen, dass zu einer solchen Unterstützung und zu solchen kulturpolitischen Aufgaben nicht nur die Bewahrung des kulturellen Erbes zählt. Vielmehr gehören dazu auch die Sicherstellung eines Umfeldes zur freien Entfaltung künst
lerischer Aktivitäten und die Weiterentwicklung der kulturellen Vielfalt. Es geht um die Schaffung von Räumen, gerade für neuartige experimentelle Kunst- und Kulturformen, sowie um den möglichst freien und zielgruppenübergreifenden Zugang zu kulturellen Inhalten.
In der Debatte fehlt mir auch noch, dass die Kulturlandschaft nicht nur vom öffentlichen Kulturbetrieb lebt. Vielmehr haben wir noch zwei weitere Säulen, nämlich den gemeinnützigen und auch den wirtschaftlichen Kulturbetrieb. Unser Kulturbetrieb und unser kulturelles Leben leben ganz besonders von einem hohen gesellschaftlichen und ehrenamtlichen Engagement, das mit dazu beiträgt, dass die Freiheit der Kunst und der Kultur gewahrt bleibt. Für mich als Freie Demokratin ist das ein unverzichtbares Gut für alle Bürgerinnen und Bürger.
Das ist etwas, von dem wir nicht nur mit Blick auf die Vergangenheit sagen können, dass es häufig angegriffen wurde. Wenn wir in die Gegenwart einiger Staaten schauen, sehen wir, dass es auch heute notwendig ist, darauf hinzuweisen, dass die Freiheit der Kunst und Kultur nicht eingeschränkt werden darf. Das gilt nicht nur, weil wir unseren Schiller gelesen haben, der herausgestrichen hat, dass Kunst eine Tochter der Freiheit ist.
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Heike Hofmann (SPD) und Martina Feldmayer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Deswegen halte ich es für notwendig, einen weiteren Aspekt hinzuzufügen, nämlich den des Brückenschlags zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart und zwischen dem, was Historie und was aktuell ist. Herr Minister, denn gerade das gelingt Kunst und Kultur ausgesprochen gut. Da kann in dem Sinne, wie Sie es in der Überschrift Ihrer Regierungserklärung angedeutet haben, die Identität, auch die hessische Identität, aufgebaut, das Zusammenleben bereichert und auch gefestigt werden.
Genau deswegen ist es richtig und notwendig, dass sich Kulturschaffende und kulturelle Institutionen heute aktiv in die Bewältigung aktueller Problemlagen einbringen. Sie leisten Beiträge zur Integration, zur Prävention und zur kulturellen Bildung, und zwar unabhängig davon, über welche Altersgruppen, welche Bildungsabschlüsse, Nationalitäten oder Religionen wir sprechen. Sie leisten diese sehr große Aufgabe in unserer und für unsere Gesellschaft.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, damit leisten sie weit mehr, als vielen Menschen – ich glaube, auch vielen Menschen in unseren Reihen – häufig bewusst ist. Denn Kunst und Kultur sind weit mehr als nur ein Schaufenster. Sie sind ein Bildungs- und manchmal sogar ein Sozialbetrieb.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: Gestern gab es eine dpa-Meldung, die aktuell über die Ticker lief. Darin wurde noch einmal herausgestellt, dass kulturelle Bildung die beruflichen Chancen steigert. Das ist nämlich genau deswegen der Fall, weil es um kompetenzübergreifende interdisziplinäre Ansätze geht. Zum fachlichen Können treten soziale Kompetenzen hinzu, die sich positiv auf die Befähigung zur Berufsausübung auswirken.
Damit geht es sowohl um die künstlerische Auseinandersetzung und Darstellung als auch darum, dass Kunst und Kultur wirken, und zwar sichtbar und unsichtbar in allen gesellschaftlichen Bereichen und Themengebieten. Meines
Erachtens bieten sie wie kaum eine andere Materie die Chance, als Triebfeder für unsere zivilgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu dienen. Genau deswegen müssen wir uns bewusst sein, dass es immer wieder neue Anforderungen an Kunst und Kultur gibt. Wir müssen deswegen immer wieder neue Modelle, Projekte und Angebote entwickeln, damit diese Triebfeder weiterhin erhalten bleibt.
Ich werde deswegen jetzt schlichtweg darüber hinwegsehen, dass in der Regierungserklärung, die wir hier vernommen haben, wieder nur die üblichen Verdächtigen genannt wurden. Herr Minister, wir alle unterstützen das. Das betrifft die Landesmuseen, die Staatstheater und die sonstigen Prestigeobjekte, die Sie aufgeführt haben. Da geht es auch um die Erhöhung der Haushalte. Wir hätten uns an der einen oder anderen Stelle noch etwas anderes vorstellen können. Das ist alles schön und gut, aber in meinen Augen zu kurz gesprungen.
Ich will zwei Bereiche herausheben, an denen ich das deutlich machen will. Zum einen betrifft das die Literatur. Aber ich werde auf etwas anderes als das eingehen, was Frau Kollegin Wissler und Herr Kollege Schäfer-Gümbel angesprochen haben. Ich sage das nicht nur, weil wir ein Literaturland und ein Buchland sind. Wir haben dafür eine ganz besondere Verantwortung. Wir sollten deutlich machen, dass die Literatur in unserem Land und weit darüber hinaus sehr aktuell Brücken zwischen der Historie und der – sagen wir einmal so – häufig auch beängstigenden Gegenwart schlagen kann.
Hessische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Übersetzerinnen und Übersetzer, Verlage und Buchhandlungen tragen an sehr herausgehobener Stelle mit dazu bei, dass die Freiheit des Wortes nicht verhandelbar ist. Herr Minister, das wurde auch auf der Buchmesse in diesem Jahr wieder herausgestellt.
Aufgrund der begrenzten Redezeit kann ich nur einige wenige Institutionen und Organisationen nennen. Die Frankfurter Buchmesse und die Schriftstellervereinigung PEN tragen mit dazu bei, dass Leute wie Salman Rushdie letztes Jahr und Can Dündar und Elif Shafak dieses Jahr auf der Buchmesse weiter dafür kämpfen und deutlich machen konnten, wie wichtig es ist, dass die Freiheit des Wortes und die Freiheit der Kunst nicht unter die Räder geraten. Wir alle wissen, in wie vielen Regionen unseres Erdballs genau das passiert. Es werden immer mehr Regionen. Lieber Boris Rhein, da wäre der Einsatz eines Kulturministers wichtig. Das wäre gerade da nötig gewesen.
Ich will einen zweiten Bereich herausgreifen, der heute in der Diskussion unterrepräsentiert war. Das ist die Musik.
Wir haben in Hessen ein facettenreiches Angebot an Staats-, Landes- und Stadttheatern, Orchestern, Big Bands, Ballettensembles, Opernhäusern, Musikfestivals und Festspielen. Ich glaube, gerade die Musik und die vielen jenseits der klassischen großen staatlichen Angebote existierenden Initiativen sind ein exzellentes Beispiel für die Nachwuchsförderung in unserem Land.
Wenn ich einmal an das Frankfurt LAB denke: Herr Minister, das ist eine Einrichtung, die jetzt gerade auf den letzten Drücker wieder für einen Kurzzeitraum finanziell abgesichert wurde. Sie ist aber immer noch nicht langfristig fi
nanziell abgesichert. Ich denke an das Tanzlabor 21 oder auch die Kronberg Academy, an die Junge Deutsche Philharmonie oder das internationale Ensemble Modern – dort wird Nachwuchsförderung gleichzeitig mit Austausch und Dialog mit wichtigen Regionen rund um den Erdball verbunden, auch mit Regionen, wo Kunst und Kultur sowie die Freiheit der Künstlerinnen und Künstler unter Druck stehen, so wie das z. B. die Junge Deutsche Philharmonie mit ihren Aktivitäten in Richtung Osteuropa oder auch mit anderen Regionen unseres Erdballs betreibt.
Herr Minister, gerade die Musik ist doch die einfachste und unkomplizierteste Form, um von Anfang an einen Zugang zu Kunst und Kultur zu finden. Initiativen wie Primacanta hätten doch längst dazu dienen müssen – ich will Ihnen das sagen, weil ich Ihnen das schon häufiger ans Herz gelegt habe –, hier in der Hochschulausbildung von Lehrerinnen und Lehrern weit grundständiger einzusteigen. Denn wir alle miteinander wissen, wie erfolgreich Projekte sind, in denen Kinder von klein auf erleben, dass sie ohne jegliches weiteres Zubehör, das teuer erworben werden muss, selbst und mit anderen zusammen Musik und damit Kunst und Kultur gestalten können.
Meine Damen und Herren, ich glaube aber, es ist auch der Ort und die Zeit, darauf hinzudeuten, dass Hessens Kulturlandschaft insbesondere auch von den vielen kleinen, regionalen und nicht ständig in der öffentlichen Wahrnehmung herausgehobenen Angeboten lebt.
Das sind Angebote, die vielleicht deswegen häufig übersehen werden, weil sie sich an spezielle Zielgruppen richten. Das ist aber nicht weniger bedeutsam für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Wenn wir z. B. sehen, dass im Jahr 2015 jugendliche Häftlinge aus Wiesbaden den Publikumspreis der Hessischen Theatertage bekommen, dann können wir feststellen, wie erfolgreich Kunst und Kultur in der Resozialisierungsarbeit eingesetzt werden.
Wenn wir sehen, wie z. B. der NINO-Kulturbus in Mittelhessen zusammen mit der dortigen Flüchtlingshilfe und dem Bundesverband Leseförderung ein Angebot für Flüchtlinge schafft, um sie an die neue Kultur in ihrer neuen Heimat heranzuführen, wenn wir sehen, wie das Atelier Goldstein zusammen mit der Lebenshilfe Frankfurt Künstlerinnen und Künstler darin unterstützt, die Marienkirche in Aulhausen neu auszustatten – von den Kirchenfenstern bis zum Altar, vom Altarkreuz bis zu den Stelen, die sich heute im Kirchenraum befinden –, dann wären das Beispiele, Herr Minister, bei denen Sie nicht nur das künstlerische Schaffen von Gruppen, die Ihnen häufig aus dem Blick geraten, feststellen würden, sondern an denen Sie auch erkennen würden, wie viele Einzel- und Privatpersonen solche Initiativen unterstützen, damit diese erfolgreich sein können.
Deshalb will ich an dieser Stelle auch die Kunstkoffer hier in Wiesbaden nennen. Herr Minister, sie unterscheiden sich maßgeblich von dem, was Sie Kulturkoffer nennen; denn sie arbeiten auf der Schnittstelle von ästhetischer Bildung und sozialem Engagement, und zwar schon seit 2004. Es gibt unglaublich viele Einzelpersönlichkeiten, die hier im Stadtteil unterwegs sind und das bewusste Erleben,
selbst künstlerisch tätig zu werden, möglich machen. Oder auch die speziellen Veranstaltungen des Städels mit Demenzkranken: Es ist letztendlich einfach erwiesen, dass Kranke und insbesondere auch Demenzkranke einen unglaublichen Vorteil in ihrer Lebensgestaltung dadurch haben, dass sie fit gehalten werden und über Kunst und Kultur Anregungen bekommen. Damit können auch die Auswirkungen ihrer Krankheit gemindert werden.
Der Wiesbadener gemeinnützige Verein oscar sollte noch erwähnt werden, der mit Film- und Theaterprojekten Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit gibt, ihr Selbstbewusstsein und ihre Persönlichkeit zu stärken, Herr Minister, auch weil ich anmahnen möchte, dass – nachdem die Stärkung des darstellenden Spiels neben Musik und Kunst in unseren Schulen gelungen ist – die Schaffung eines Lehramtsstudiengangs für diesen Bereich immer noch aussteht. Dieser hätte in Gießen schon längst gegründet werden können, wenn Sie an dieser Stelle zum Kunstminister auch den Wissenschaftsminister hinzunähmen und Ihr Herz ein bisschen über die Hürden werfen könnten,
auch weil wir aus den Gesprächen mit so vielen dieser privaten, ehrenamtlich geführten Initiativen wissen, dass es ein immer größeres Problem sein wird, Spenden oder Sponsoringtätigkeiten zu akquirieren.