Protocol of the Session on June 24, 2015

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da ich weiß, dass es etwas peinlich sein kann, wenn Politiker Kunst interpretieren, will ich es bei meinen Assoziationen bewenden lassen und das Thema nicht weiter ausführen. Ich hoffe nur, dass Arnold Bodes Satz „Wir meinen aber, man könnte etwas Neues versuchen“ immer wieder Antrieb für neue künstlerische Ideen abseits des Mainstreams ist. Happy Birthday, documenta.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Danke schön. – Als Nächste spricht Kollegin Wissler, Fraktion DIE LINKE.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ja, die documenta ist seit nunmehr 60 Jahren ein herausragender Teil der hessischen Kunstlandschaft, und dem Dank an die Menschen, die sie möglich machen, schließen wir uns natürlich an.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist aber kein Verdienst der Landesregierung, auch wenn Sie heute wieder ein bisschen versuchen, sich mit diesen Federn zu schmücken.

Dass gerade die CDU die documenta heute feiert und in der Reihe der Gratulanten zum 60-jährigen Jubiläum der documenta ganz vorneweg geht, ist schon interessant; denn die documenta war eines wohl nie: konservativ. Die documenta ist progressiv. Sie entwickelt sich weiter, sie zeigt Missstände auf, und auch das unterscheidet sie wohltuend von der CDU.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Gerald Kum- mer (SPD))

Ich will die Debatte nutzen, um ein bisschen auf die bewegte Geschichte der documenta zurückzublicken. Die ersten documenten unter der Leitung von Arnold Bode in den 1950er-Jahren waren – darauf ist schon hingewiesen worden – konzeptionell eine direkte Reaktion auf die gerade zurückliegende Nazizeit und ihre Diffamierung der zeitgenössischen Kunst als „entartet“. So widmete sich die erste documenta 1955 den Kunstwerken aus den 1920er- und 1930er-Jahren, die während des Dritten Reichs nicht gezeigt werden durften.

Bode sagte später:

Wir waren der Meinung, etwas sagen zu müssen zu den verlorenen Jahren 1933 bis 1945.

Das in einer Zeit, in der viele über diese Jahre nicht sprechen wollten. Dies trotzdem zum Konzept zu machen, erforderte Mut und bis heute Respekt.

(Beifall bei der LINKEN)

Seitdem war der Bruch mit dem Gewohnten, der Schritt aus der Komfortzone, ein wiederkehrendes Element der Ausstellungen in Kassel. Wenn die Kunst plötzlich eine dauerhafte Veränderung im gemütlichen Alltag bedeutet – sei es nur eine Menge neuer Bäume, wie in dem Fall, als sich die Kasseler in den 1980er-Jahren plötzlich mit 7.000 Eichen der beuysschen „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ konfrontiert sahen –, dann stößt sie auf Widerstand. Heute erscheinen die Eichen vielleicht gar nicht mehr so gewagt, und die Kasseler pflegen ihre liebgewonnen Beuys-Eichen. Aber zum Zeitpunkt ihrer Entstehung gab es große Befürchtungen und große Widerstände gegen die Eichen: Unter anderem wurde damals vor zu viel Vogelkot gewarnt – um noch einmal deutlich zu machen, wie profan die Gegenargumente zum Teil waren.

Die documenta hat immer wieder den Finger in die Wunde gelegt, sie hat aktuelle politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen aufgegriffen. Ich will daran erinnern, dass die letzte documenta eine Dependance mitten im zerbombten Kabul hatte. Dort sollte gezeigt werden, welche Kräfte die Kunst zu entfalten vermag, auch inmitten von Zusammenbruch und Krieg.

Die Künstlerin Martha Rosler thematisierte auf der documenta 12 die Dominanz der Rüstungsindustrie und brachte ihre Kunst auch an die Standorte der Rüstungsindustrie in und um Kassel. Ebenfalls auf der documenta 12 zu sehen war die Installation „Dream“ des aus Benin stammenden Künstlers Hazoumé, der das Schicksal afrikanischer Bootsflüchtlinge und ihren Traum von Europa thematisierte und mit dem Arnold-Bode-Preis ausgezeichnet wurde. Dieses Kunstwerk hat das zum Thema gemacht, lange bevor das Sterben im Mittelmer die Schlagzeilen dominierte und eine breite Öffentlichkeit erreichte.

Ich finde auch „Die Exklusive. Zur Politik des ausgeschlossenen Vierten“ des Künstlers Andreas Siekmann ein spannendes Werk, das die gesellschaftliche Ausgrenzung im Rahmen der Globalisierung zum Thema hatte. Dort waren Polizisten zu sehen, die gegen Demonstranten vorgingen, Flüchtlinge, aber auch der Weltbankpräsident und Arbeiterinnen aus Niedriglohnfabriken. Das Interessante daran ist, dass dieses Werk in Kassel auf der documenta gezeigt wurde. Im Jahr 2003 sollte diese Arbeit auch in Dresden ausgestellt werden, aber das dortige Regierungspräsidium verbot die Installation rund um das Reiterstandbild August des Starken, weil sie befürchteten, dass „der Fürst quasi seiner Macht und Überlegenheit im eigentlichen und übertragenen Sinne beraubt“ werde.

(Heiterkeit der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE))

Kassel hatte das nicht gemacht. Kassel hat den Mut gehabt, dieses Werk im Rahmen der documenta um das Standbild von Landgraf Friedrich II. zu gruppieren. Auch das ist ein kleines Beispiel dafür, dass Kassel und die documenta eine Menge Mut haben, der vielleicht nicht überall zu finden ist.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Gerald Kum- mer (SPD))

Meine Damen und Herren, zeitgenössische Kunst definiert sich durch den Bruch mit den altbekannten Stilarten, und Abwehrreaktionen sind daher ein regelmäßiger Effekt. Das kann sich in schlichtem Unverständnis ausdrücken. Im – aus meiner Sicht – idealen Fall stört sie die festgefahrenen Denkmuster und sorgt für Aha-Effekte. Produktive Missverständnisse auslösen – so beschrieb die „taz“ das Verdienst beispielsweise der letzten documenta. Die zeitgenössische Kunst ist immer wieder schmerzhaft politisch, sie regt auf und regt an. Sie legt Finger in Wunden und bricht mit Konventionen.

Das gilt aber gerade bei zeitgenössischer Kunst immer für den jeweils aktuellen zeitlichen Rahmen. So wurde 2012 einmütig eine Kasseler Straße nach Joseph Beuys benannt, der zu Lebzeiten bekanntermaßen die Meinungen der Menschen spaltete und gerade aus den konservativen Kreisen heraus teilweise herb kritisiert wurde. Das heißt also, die Provokation von gestern ist heute oft gar keine Kontroverse mehr. Deshalb gilt: Mit der nächsten documenta werden auch Provokationen kommen und neue Tabus gebrochen.

Nun empfinden es einige – das ist schon angesprochen worden – als Zumutung, dass sie ihre nächste documenta

2017 mit Athen teilen sollen. Dass der Arbeitstitel der Ausstellung auch noch „Von Athen lernen“ lautet, ist offensichtlich unerträglich für einige, die im Glauben sind, dass die faulen Griechen von den fleißigen Deutschen ihr Luxusleben subventioniert bekämen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich glaube, diese vermeintliche Provokation durch die künstlerische Leitung trifft besonders diejenigen hart, die die documenta nicht nach ihrem künstlerischen, sondern primär nach ihrem wirtschaftlichen Einfluss bemessen. Als diese Entscheidung im letzten Herbst vom Leiter Adam Szymczyk verkündet wurde, sahen – wie es die FAZ formulierte – „die Lokalpatrioten mit Entsetzen die Gegenwartskunst hinter den Rettungsschirm-Euros nach Süden rollen“.

Die Kasseler CDU war an vorderster Front gegen das Konzept, Kassel die documenta vermeintlich wegzunehmen. Kollege Frankenberger hat das bereits angesprochen. Also, wenn die Kasseler CDU vom Oberbürgermeister ein Machtwort fordert, dann ist es natürlich ein Eingriff in die Freiheit der Kunst, die eben auch durch die Rede der Kollegin Wolff so beschworen wurde. Die Lokalpresse schäumte, und der Verband der City-Kaufleute ist entsetzt.

Aber mit dieser Kunstaustellung umgehen zu können, heißt eben, dass man auch ihre Unberechenbarkeit akzeptieren muss und dass man sie als eines nicht behandeln darf, nämlich als Wirtschafts- und Standortfaktor.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Hotellerie in Kassel hat eben kein verbrieftes Recht, sich durch Messepreise während der documenta zu sanieren. Ich finde, auch die rituellen Rekordjagden nach immer neuen Rekordzahlen bei Besuchern, bei Nationalitäten der Künstler und bei Übernachtungen werden der documenta überhaupt nicht gerecht, weil sie nicht primär ein Wirtschaftsprojekt, sondern ein Kunstprojekt ist und weil ihre künstlerische Wirkung zu bemessen ist – nicht ihre wirtschaftliche Wirkung.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Gerald Kum- mer (SPD))

Ich will nur am Rande anmerken: Dass der Flughafen Kassel-Calden 2017 die documenta in Kassel und Athen verbinden soll und die Ausstellung damit das wohl provokanteste dadaistische Kunstprojekt der Region mit einbezieht, auch das wird sicher in die Geschichte der documenta eingehen.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, sich selbst, seine Rituale und Gewohnheiten und seine Denkmuster immer wieder infrage zu stellen und zu hinterfragen, ob man nicht etwas neu und besser machen könnte, dazu fordern uns die Ausstellungsmacher in Kassel immer wieder auf. Deshalb: auf die nächsten 60 Jahre mit einer hoffentlich immer unbequemen documenta.

Zum Abschluss will ich sagen: Die documenta ist wichtig für Kassel, sie ist wichtig für Hessen. Aber ich finde, wenn wir hier im Landtag über Kunst und Kultur diskutieren, sollten wir nie vergessen, dass Künstler nicht als Stars geboren werden und dass es neben der wichtigen documenta eine ganze Menge mehr in der Kunstszene gibt, was eine verlässliche Finanzierung braucht, was eine soziale Absicherung braucht. Deswegen sollten wir selbstverständlich

über die documenta reden. Aber wir sollten in diesem Haus nicht vergessen, dass es eine vielfältige Kunstszene in Hessen gibt, in der nicht alles so bekannt ist wie die documenta, in der nicht alles selbstverständlich solche Besucherzahlen hat und in der nicht alles, was für diese vielfältige Kunst- und Kulturszene aber so wichtig ist, dieses Renommee hat. Auch dies sollten wir nicht vergessen. Dies ist ausreichend zu fördern, und auch über dies sollten wir gelegentlich reden. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank. – Als Nächster spricht Staatsminister Rhein.

Verehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die documenta ist vor 60 Jahren, im Jahre 1955, das erste Mal organisiert worden. Der Horror des Holocaust und der Zweite Weltkrieg lagen gerade einmal zehn Jahre zurück. Kassel, zu 80 % durch Bomben dem Erdboden gleichgemacht, hatte gerade mit dem Wiederaufbau begonnen. Es fehlte an Wohnraum, es fehlte an Infrastruktur, und die Menschen hatten Sorgen. Sie hatten Sorgen im Hinblick auf den Alltag, und sie hatten Sorgen im Hinblick auf die Zukunft.

Ausgerechnet in einer solchen Zeit kommt der Hochschullehrer Arnold Bode mit seiner Idee einer Weltausstellung für zeitgenössische Kunst – als hätten die Leute keine anderen Probleme gehabt. Aber was auf den ersten Blick als völlig deplatziert erscheinen mag, passt beim genauen Hinsehen absolut in diese Zeit; denn Werte der Vergangenheit schienen gerade im Angesicht der Katastrophe des Krieges nicht nur in Kassel keine Perspektive mehr zu bieten – wohl aber der Blick in eine neue und eine bessere Zukunft.

Dies hieß für die Kunst im Jahre 1955 nicht einmal, Neues völlig aus der Retorte, aus dem Nichts heraus zu erschaffen, weil es die Moderne ja längst gab. Bode hat gezielt auf künstlerische Strömungen zurückgegriffen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hatten. Er führte den Menschen die Qualität einer Kunst vor Augen, die eben noch zehn Jahre zuvor als – das sage ich in Anführungsstrichen – „entartet“ abgestempelt worden ist. Nie zuvor hat die deutsche Kunstszene vor 1955 Werke aus Stilrichtungen Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Blauer Reiter, Futurismus so unmittelbar nebeneinander sehen und vergleichen können. Endlich gab es die Möglichkeit, Beispiele aus den Werken von Picasso, Ernst, Arp, Matisse, Kandinsky, Klee, Moore und von vielen weiteren Künstlern in einer Gesamtschau, also nicht einzeln, sondern in einer Gesamtschau, zu erleben.

Es passte darüber hinaus so gut, was Arnold Bode zehn Jahre nach dem Krieg organisiert hat, weil das Bestreben und der Wille darauf abzielten, der durch die nationalsozialistische Herrschaft zerstörten Zivilgesellschaft in Deutschland wieder eine neue Basis zu verschaffen und künstlerische und intellektuelle Verbindungslinien herzustellen, nachdem die Nazidiktatur durch Zerstörungen, Mord, Vertreibungen und Barbarei alles zerstört und viele der Leitfiguren im kulturellen Bereich ins Exil oder gar in den Tod getrieben hatte. Deswegen muss man aus heutiger Sicht, 60 Jahre danach, sagen: Das war in diesen Jahren ein ungeheures und mutiges Projekt; kaum ein Zeitgenosse hätte

damals die Prognose gewagt, dass die erste documentaSchau gleich 130.000 Besucher anlocken würde.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Verehrte Frau Abg. Wissler, ich stimme Ihnen vollkommen zu: Die Jagd nach Besucherzahlen ist nicht das Anliegen einer documenta; es geht um Qualität und nicht um Quantität.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Trotzdem gibt es das Phänomen: Keine documenta ist wie die andere. Das hat auch mit dem Gründungsgedanken der documenta zu tun, durch eine weitgehend uneingeschränkte Gestaltungsfreiheit dem jeweiligen künstlerischen Leiter die Möglichkeiten zu lassen, die er hat. Auch ein großer Pluspunkt der documenta ist, dass sie eben immer ein Spiegelbild aktueller Philosophien, Theorien, politischer und gesellschaftlicher Tendenzen ist, dass sie immer spannend gewesen ist, aber auch Spannungen produziert hat und dadurch von Mal zu Mal mehr Besucher in ihren Bann gezogen hat, eben nicht aufgrund der Jagd nach Quantität, sondern eben weil die Qualität gestimmt hat.

Bereits 1955 waren es, wie erwähnt, 130.000 Besucher, und im Jahr 2012 waren es annähernd 1 Million. Knapp ein Viertel der Gäste ist eigens zur documenta 13 aus dem Ausland angereist, und diese Angereisten konnten 2.800 Beiträge von rund 200 Künstlern aus 50 Ländern der Welt erleben. All das dokumentiert nicht nur den Erfolg dieser einen Ausstellung, sondern den Erfolg des gesamten Konzepts. Deswegen will ich all den Beteiligten, die an diesem Erfolg mitgewirkt haben, zuallererst den Künstlerinnen und Künstlern, den jeweiligen künstlerischen Leitungen sowie den Geschäftsführungen der documenta GmbH, die große Arbeit geleistet haben, und natürlich nicht zuletzt – das ist heute schon erwähnt worden – den vielen ehrenamtlich Tätigen, die den Erfolg ausmachen, aber auch der Partnerstadt Kassel ein ganz herzliches Dankeschön ausdrücken.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Janine Wissler (DIE LIN- KE))

Frau Feldmayer, allerdings ist es so, wie Sie gesagt haben: Die Konkurrenz schläft nicht. Es gibt aktuell weltweit mehr als 200 Biennalen und Triennalen. In verschiedensten Rhythmen gibt es wiederkehrende Ausstellungen, die sich zeitgenössischer Kunst widmen. Aber selbst – das kann man schon einmal voller Stolz hinzufügen; Frau Beer hat das auch getan – die Biennale in Venedig, ich nenne sie einmal „die Mutter“ aller Biennalen, hat die documenta bislang nicht vom Spitzenplatz in der Rangfolge der wichtigsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst verdrängen können.