Protocol of the Session on June 21, 2018

(Zuruf von der SPD: Hört, hört!)

Auch das ist eine grobe Ungleichbehandlung dieser Menschen. Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen haben es uns vorgemacht und den Wahlrechtsentzug für vollbetreute Menschen aufgehoben. Warum Gleiches in Hessen nicht möglich sein soll, erschließt sich mir nicht. Hier scheint es aus unserer Sicht am politischen Willen zu fehlen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Herr Bauer, ich kann Ihre Argumentation gar nicht nachvollziehen. Denn wir haben auf Bundesebene im schwarzroten Koalitionsvertrag eine Regelung stehen, die eben eine Wahlrechtsreform in der laufenden Legislaturperiode vorsieht und die den Ausschluss von vollbetreuten Menschen beenden soll.

(Zuruf von der LINKEN: Hört, hört!)

Warum man als CDU auf Bundesebene etwas unterzeichnet, sich aber hier in Hessen dagegen sträubt, ist mit keiner Logik zu erklären.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Frau Kollegin Gnadl, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ich komme zum Schluss. – Ich bin gespannt auf die Argumentation der GRÜNEN; denn auch in dem Wahlprogramm der GRÜNEN auf Bundesebene steht eine entsprechende Forderung. Heute haben Sie in Hessen die Möglichkeit, dies zu verändern und dies umzusetzen. Ich finde, Hessen sollte hier nicht wieder den Anschluss verpassen. Andere Bundesländer haben es uns vorgemacht. Wir sollten das Gleiche in Hessen tun. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Kollegin Gnadl. – Das Wort hat der Kollege Wolfgang Greilich für die FDP-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich teile im Ergebnis nicht die Schlussfolgerungen von Frau Kollegin Gnadl. Trotzdem will ich mich bei ihr ausdrücklich bedanken – insbesondere für die Art ihres Vortrages, weil sie es geschafft hat, in aller Ruhe und Übersichtlichkeit die Argumente vorzutragen, die man durchaus abwägen muss und die für die Initiative, über die wir zu beraten haben, sprechen.

Es geht um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff. Das ist unstreitig. Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung hatte das im Vorfeld der Bundestagswahl auch entsprechend thematisiert. 80.000 Menschen mit Behinderungen waren von der Bundestagswahl ausgeschlossen. Das muss man sehr ernst nehmen, sich dann aber auch sehr genau mit der Frage beschäftigen, ob das, was gut gemeint ist, in der Sache auch wirklich machbar ist. Da habe ich Zweifel, ob die Länder, die das geändert haben, das richtig gemacht haben.

Es geht um die Frage, ob Menschen wählen können oder vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, für die – so heißt es im Gesetz – „zur Besorgung aller … [ihrer] Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist“, also Menschen, bei denen festgestellt ist, dass für alle Bereiche des täglichen Lebens und der grundsätzlichen Entscheidungen ein Betreuer bestellt wird, weil diese Menschen quasi entscheidungsunfähig sind. Komplettbetreuung bedeutet genau das.

(Zuruf von der LINKEN: Nein!)

Es geht um alle Bereiche. Es beschränkt sich eben nicht darauf, dass man nicht mehr seine Vermögensangelegenheiten vernünftig erledigen kann. Es geht um Gesundheitsfragen, um Wohnungsfragen, bis hin zu der Frage der Unterbringung – gegebenenfalls in geschlossenen Einrichtungen. Es geht um „alle seine Angelegenheiten“.

Das bedeutet übersetzt Entscheidungsunfähigkeit, um die es geht. Wenn Entscheidungsunfähigkeit gegeben ist, dann kommen genau die Probleme auf, die insbesondere der Kollege Bauer auch schon einmal dargestellt hat und auf die auch der Städtetag hingewiesen hat. Ich denke, man kann da nicht drüber weggehen. Es ist in der Tat so, dass wir dann, wenn wir das mithilfe eines Betreuers ermöglichen, dem Thema einer Stellvertreterwahl überhaupt nicht aus dem Wege gehen können, und darauf läuft das hinaus. Eine Stellvertreterwahl – abgesehen davon, dass sie natürlich ein erhöhtes Manipulationsrisiko birgt – ist schlichtweg unzulässig. Das kennt unser Wahlrecht nicht. Um unser Wahlrecht geht es letztlich.

(Marjana Schott (DIE LINKE): Das stimmt! Aber das ist strafbar!)

Manchmal machen Anhörungen wirklich Sinn. Hier haben wir genau die unterschiedlichen Positionen gehört. Es geht letztlich um das Thema Stellvertreterwahl. Ich bin sehr dankbar dafür: Die Lebenshilfe hat in ihrer Stellungnahme genau darauf hingewiesen, um zu unterstreichen, warum man diese Änderung haben will, die hier von den LINKEN und SPD unterstützt wird: Es wird dort darum gebeten, dass man „die Möglichkeit einer stellvertretenden Wahrnehmung der persönlichen Belange durch Verantwortung tragende Vertrauenspersonen“ auch im Bereich des Wahlrechtes geben will. Das ist gut gemeint. Ich verstehe auch dieses Anliegen. Aber es ist schlichtweg verfassungsrecht

lich nach meiner festen Überzeugung nicht hinnehmbar, weil wir genau da zu der Stellvertreterwahl kämen.

(Zuruf des Abg. Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE))

Die Stellvertreterwahl ist nach unserem Recht unzulässig, und meines Erachtens muss sie auch unzulässig bleiben. Deswegen sehe ich keinen praktikablen, irgendwo rechtlich vertretbaren Weg, um dem Anliegen nachzukommen. Deswegen müssen wir den Gesetzentwurf ablehnen.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Greilich. – Das Wort hat Frau Kollegin Erfurth für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir werden im Ergebnis den Gesetzentwurf der LINKEN ablehnen. Aber unsere Begründung unterscheidet sich in Strecken von der der FDP und auch von der der CDU, weil wir es im Grunde – –

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das hilft den Leuten aber auch nicht!)

Da stimme ich Ihnen zu. Es hilft im Moment nichts. Aber wir haben ja vielleicht einen Weg dahin, wie wir es in näherer Zukunft schaffen, auch vollbetreuten Menschen die Möglichkeit zur Wahl zu geben.

Wir sehen hier im Grunde noch Veränderungsbedarf. Es muss wichtig sein, im Ergebnis auch vollbetreuten Menschen die Wahl zu ermöglichen. Aber dorthin ist es noch ein Stück des Weges, bis vollbetreute Menschen das Wahlrecht so ausüben können, wie es ihren Fähigkeiten entspricht. Wir sind noch nicht ganz so weit, diese Möglichkeiten eröffnen zu können. Daran müssen wir, glaube ich, noch ein bisschen arbeiten. Daran arbeiten wir in Hessen an den verschiedensten Ecken, indem wir nämlich die Homepages barrierefreier machen, um es auch Menschen, die Leseschwierigkeiten haben, zu ermöglichen, politische Inhalte besser zu verstehen. Auch das ist ein Weg dorthin, wie man Menschen tatsächlich Wahlentscheidungen und Teilhabe am politischen Leben ermöglicht. Daher reicht es nicht, einfach zu sagen: „Wir schaffen den Wahlrechtsausschluss ab“, sondern man muss auch Teilhabe ermöglichen. Ich finde, das ist ein wichtiges Anliegen; denn gesellschaftliche Teilhabe bedeutet auch Teilhabe an gleichen Rechten. Für uns bedeutet es im Endeffekt auch die Teilhabe am Wahlverfahren.

Herr Greilich, der Bundesverband der Berufsbetreuer hat in der Anhörung ein ganz anderes Bild von den Menschen gezeichnet, die betreut werden,

(Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Genau!)

dass es nämlich durchaus möglich ist, Menschen mitzunehmen. Von daher teile ich Ihre Einschätzung nicht, dass es sozusagen nie möglich sein werde.

(Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Danke!)

Wir haben ungefähr 7.000 Menschen in Hessen, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Ich glaube, wir müssen dahin kommen, auch diese 7.000 Menschen an einem so wichtigen und elementaren Recht teilhaben zu lassen.

(Beifall der Abg. Ursula Hammann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Es gab aber in der Anhörung durchaus kein einheitliches Bild, was den Zeitpunkt anbelangt. Das ist der Punkt, der uns trennt. Derzeit läuft ein Wahlprüfungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Es macht aus meiner Sicht und aus Sicht der Fraktion der GRÜNEN überhaupt keinen Sinn, zum jetzigen Zeitpunkt, wo sich das Bundesverfassungsgericht gerade noch mit dieser Frage beschäftigt, eine Entscheidung zu treffen, wesentliche Dinge sozusagen nicht zu berücksichtigen. Daher ist es aus unserer Sicht sinnig und verantwortungsbewusst, zu sagen: Wir warten das einmal ab. Wenn wir im Lichte der Entscheidung wissen, wohin die Reise geht, dann ist es sinnvoll, sich damit wieder zu beschäftigen. – Das ist für uns der Grund, zu sagen: Jetzt ist noch nicht der richtige Zeitpunkt.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Warum?)

Außerdem gibt es – Frau Kollegin Gnadl hat darauf hingewiesen – auch auf Bundesebene eine Vereinbarung, also im schwarz-roten Koalitionsvertrag, den Wahlrechtsausschluss abzuschaffen. Daher bin ich sehr gespannt, wohin sich die beiden Fraktionen im Bund bewegen werden. Daher können wir in Hessen, glaube ich, in einer sehr guten gemeinsamen Entscheidung daran arbeiten, den Wahlrechtsausschluss abzuschaffen. Aber jetzt – das betone ich noch einmal – ist dieser Zeitpunkt nicht gekommen. Wir freuen uns auf eine weitere Debatte.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Erfurth. – Das Wort hat der Innenminister, Herr Staatsminister Peter Beuth. Bitte sehr.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Frage der Bundesverfassungsgerichtsbeschäftigung hat Frau Kollegin Erfurth gerade ein paar Bemerkungen gemacht, die ich ausdrücklich teile. Inwiefern die Bundesebene, auch auf der Basis eines Koalitionsvertrags von Sozialdemokraten und CDU, eine Lösung für die Problematik findet, werden wir sehen. Jedenfalls ist der Weg, wie dies gelöst werden wird, auch im Koalitionsvertrag offen. Insofern will ich das hier zumindest nur kurz dargestellt haben.

Eine ersatzlose Aufhebung der im Landtags- und Kommunalwahlrecht geregelten Wahlrechtsausschlüsse, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen ist, stellt keine durchdachte Lösung dar und würde dazu führen, dass auch Personen an der Wahl teilnehmen können, die aufgrund richterlicher Entscheidung als entscheidungsunfähig anzusehen sind. Zu diesem Ergebnis kommt auch die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegebene interdisziplinäre Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen. Bei der Studie handelte es sich um eine Untersuchung, in der sich fünf Professoren ausschließlich mit der Frage der Voraussetzungen und Grenzen der in § 13 Nr. 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes geregelten Wahlrechtsausschlüsse auseinandersetzten, also mit dem hier infrage stehenden, für Landtags- und Kommunalwahlen entsprechend geregelten Wahlrechtsausschluss von Menschen, für die zur Besorgung ihrer Angelegenheiten

„ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist“.

In der mündlichen Anhörung im Innenausschuss am 12. April wurde von verschiedenen Seiten gefordert, dass man zu der Frage des Wahlrechtsausschlusses Fachleute befragen müsse. Genau dies hat man bereits getan. Die Studie ist eine fachliche, fast 300 Seiten umfassende Expertise, die die Frage des Wahlrechtsausschlusses von Menschen mit Behinderungen in völkerrechtlicher, verfassungsrechtlicher, sozialwissenschaftlicher, klinikpsychologischer und rechtsvergleichender Hinsicht somit umfassend und interdisziplinär untersucht hat. Mehr Fachlichkeit geht aus meiner Sicht nicht. An dem Ergebnis der Studie, wonach eine vollständige Aufhebung des Wahlrechtsausschlusses weder verfassungsrechtlich noch völkerrechtlich geboten ist, sollte sich der Landesgesetzgeber orientieren, unter Berücksichtigung der verschiedenen Lösungsansätze, die die Studie aufzeigt und die die geltenden Regelungen neu bewerten.

Eine vernünftige und ausgewogene Lösung wird vermutlich weniger im Wahlrecht zu finden sein als eher im Betreuungsrecht, einer Rechtsmaterie, die in die Zuständigkeit des Bundes fällt. Denkbar wäre z. B., bei der richterlichen Anordnung der Betreuung auch die Frage des Wahlrechts explizit mit zu berücksichtigen. Aber das ist, wie gesagt, eine Debatte, die auf Bundesebene zu Ende zu führen ist. Wir sind klug beraten – Frau Kollegin Erfurth hat darauf freundlicherweise schon hingewiesen –, wenn wir die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in unsere Wahlrechtsüberlegungen mit einbeziehen. Dafür müssen die aber erst einmal entscheiden. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Innenminister. – Es gibt keine weiteren Wortmeldungen.

Damit kommen wir zur Abstimmung. Wer dem Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE für ein Hessisches Gesetz zum Wahlrecht für vollbetreute Menschen seine Zustimmung gibt, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die SPD und DIE LINKE sowie Frau Öztürk. Wer ist dagegen? – CDU-Fraktion, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die FDP. Damit ist dieser Gesetzentwurf abgelehnt.

Dann kommen wir zu Tagesordnungspunkt 14:

Dritte Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktion der FDP für ein Zweites Gesetz zur Änderung des Hessischen Kinder- und Jugendhilfegesetzbuches (HKJGB) – Drucks. 19/6520 zu Drucks. 19/6267 zu Drucks. 19/ 5624 –

hierzu:

Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und der FDP – Drucks. 19/6538 –