Deshalb haben wir sehr stark investiert in die Möglichkeiten eines durchlässigen Bildungssystems. Damit wollen wir jungen Menschen Chancen neben dem Abitur und neben dem Studium eröffnen. Der Ministerpräsident sagt immer so schön, in der Gesellschaft herrsche der Glaube vor, dass die Menschwerdung erst mit dem Abitur beginne. Dem müssen wir entgegensteuern. Das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen auch jungen Menschen eine Chance geben, die nach der Schule eine Berufsausbildung wahrnehmen, um sich so einen Abschluss zu ermöglichen. Selbst mit einem Schulabschluss mit der Note 2,5 und einer abgeschlossenen Berufsausbildung sollte die Möglichkeit bestehen, ein Studium anzutreten oder nach der Meisterprüfung einen Studiengang hinterherzuschieben.
Das heißt, die Durchlässigkeit und die Perspektiven für die jungen Menschen sind Punkte, mit denen wir glauben, dem demografischen Wandel entgegentreten zu können. Das gilt insbesondere für bestimmte Berufsgruppen. Das duale Studium ist eine weitere Möglichkeit, die wir in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut haben. Unsere Hochschulen sind dabei sehr erfolgreich. Aber auch da können wir noch einiges zulegen, weil die Verbindung von Studium und Beruf eine Perspektive für junge Leute ist.
Mit Blick auf die Redezeit will ich das Thema Gründung nur ganz kurz streifen. Wir haben in diesem Bereich vieles getan. Wir haben eine hervorragende Infrastruktur für Gründer. Wir unterstützen Mittelstand und Handwerk, aber auch die Industrie. Das Tech Quartier in Frankfurt ist sehr erfolgreich. Insofern gilt es, diesen Weg fortzusetzen.
Das alles zeigt – und damit komme ich zum Ende, meine sehr geehrten Damen und Herren –, dass wir stolz sein können auf das, was wir erreicht haben, dass wir uns aber nicht zurücklehnen können. Wir müssen in der Debatte auch Protektionismus berücksichtigen, auch die veränderte Welt und die Verhältnisse zu Amerika sowie die Situation,
die sich aufgrund der Entscheidung zum Iran-Abkommen entwickelt hat. All diese Veränderungen haben Einfluss auf Europa, auf Deutschland und auf Hessen. Der Brexit wurde vorhin bereits erwähnt. Deshalb müssen wir nun sehr engagiert die Punkte angehen, die wir in Hessen regeln können. Das sind der Bürokratieabbau und die Einflussnahme auf das Thema Energiekosten. Außerdem müssen wir auf die Lohnnebenkosten achten. Das darf für die Unternehmen nicht zur Falle werden.
Ich glaube, dass wir auf eine sehr erfolgreiche Politik der Hessischen Landesregierung zurückschauen können. Es muss sich auch in Zukunft lohnen, arbeiten zu gehen, ein Unternehmen zu gründen und seine Persönlichkeit zu entwickeln. Dazu brauchen wir Eigeninitiative. Wir brauchen Verantwortung und nur so viel Staat wie nötig. Dafür steht die Union, damit Hessen vorn bleibt, damit Hessen stark bleibt. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Kasseckert. – Als Nächste hat Frau Abg. Wissler für die Fraktion DIE LINKE das Wort.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Minister, in Ihrer letzten Regierungserklärung verkündeten Sie stolz, dass Sie „auch Beton können“. Diesmal erklären Sie uns den vermeintlich grünen Kapitalismus. Sie behaupten, Ihre Wirtschaftspolitik sei erfolgreich für alle.
Aber für viele Menschen in diesem Land gilt das leider überhaupt nicht, für die vielen prekär Beschäftigten beispielsweise. Es gilt auch nicht für die Menschen, die vom alltäglichen Verkehrswahnsinn über ihren Köpfen oder vor ihrer Haustür betroffen sind.
Herr Minister, Sie erfreuen sich an der niedrigsten Mai-Arbeitslosenquote seit 37 Jahren. Allerdings muss man auch hier genau hinsehen. Hinter dieser Quote von offiziell 4,5 % stehen 153.000 Menschen. Dabei fehlen allerdings unter anderem knapp 10.000 Bezieher von Arbeitslosengeld II, die älter als 58 Jahre sind – sie stehen nicht in der Statistik –, 3.000 Ein-Euro-Jobber – nicht in der Statistik –, knapp 20.000 Menschen in der Fremdförderung – nicht in der Statistik –, knapp 10.000 Menschen in beruflicher Weiterbildung und noch 20.000 Menschen in Aktivierungsprogrammen und externer Vermittlung.
Unsere Bundestagsfraktion errechnet jeden Monat die tatsächlichen Arbeitslosenzahlen aus den offiziellen Statistiken der Arbeitsagentur und kommt für Mai 2018 in Hessen auf fast 65.000 nicht gezählte Arbeitslose. Das sind etwa 42 % mehr als die offiziellen Zahlen. Damit sprechen wir in Hessen über 218.000 Menschen ohne Arbeit.
Viele Jobs werden immer prekärer. Die Zahl der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter stieg in Hessen von rund 65.000 – zu Ihrem Regierungsantritt im Jahr 2014 – auf rund 77.000 im letzten Sommer. Das ist ein Plus von 20 %, und die Zahlen sind seitdem vermutlich weiter gestiegen.
Dann freuen Sie sich über die vielen neuen Arbeitsplätze, erwähnen aber nicht, dass viele dieser Arbeitsplätze befris
tet sind oder sich im Niedriglohnbereich befinden und dass viele Leiharbeiterstellen geschaffen wurden. Das erinnert mich ein bisschen an die Karikatur, in der sich die Regierung freut, dass so viele neue Arbeitsplätze geschaffen wurden, und ein Zuhörer sagt: „Ja, und ich habe allein drei davon.“ Viele Menschen können von nur einem Job überhaupt nicht mehr leben oder sind gezwungen, bis ins hohe Alter zu arbeiten, weil ihre Rente nicht reicht.
Deshalb: Herr Minister, Sie haben die Lage auf dem Arbeitsmarkt sehr rosig und beschönigend dargestellt. Die gute Wirtschaftslage kommt bei den Menschen überhaupt nicht an. Der erste Beitrag zur Erkenntnis wäre, dass wir endlich einmal über die tatsächlichen Erwerbslosenzahlen reden und nicht über diese geschönten Statistiken, die wir bundesweit haben.
Vielleicht sollten Sie auch einmal einen Blick in den Landessozialbericht der Landesregierung werfen. Daraus geht hervor, dass in Hessen 900.000 Menschen von Armut bedroht sind. Diese Zahl ist in den letzten Jahren angestiegen, trotz guter Haushalts- und Konjunkturlage. Über 40 % der Alleinerziehenden sind von Armut betroffen, jedes fünfte Kind. In Hessen leben derzeit mehr als 170.000 armutsgefährdete Rentnerinnen und Rentner.
Das erinnert mich ein bisschen an Frau Merkel, die den Menschen auch jahrelang erklärt hat, Deutschland gehe es gut.
Für manche stimmt das, Herr Bellino. Nur wissen Sie, was ich mich immer frage, wenn man sagt, Hessen oder Deutschland gehe es so gut wie nie zuvor? Wer ist denn eigentlich „Hessen“?
Die Bürgerinnen und Bürger. – Sind das die 1.400 Menschen in Hessen, die ein Einkommen von über 1 Million € jährlich haben? Sind das Banken und Versicherungen, die in Frankfurt Milliardengewinne machen? Oder sind das vielleicht die Beschäftigten bei Siemens oder Opel, die gerade um ihre Arbeitsplätze bangen?
Laut Sozialbericht arbeiten über 500.000 Menschen in Hessen zu Niedriglöhnen – fast jeder Fünfte. Herr Kasseckert hat eben gesagt, es müsse sich lohnen, arbeiten zu gehen.
Ein Großteil dieser Niedriglöhner hat übrigens einen Berufsabschluss. Das heißt, wir sprechen über 500.000 Menschen in Hessen – Hessen geht es ja vermeintlich so gut wie noch nie –, die zu Niedriglöhnen arbeiten. Ich lese Ihnen gerne aus Ihrem eigenen Landessozialbericht – dem Sozialbericht der Landesregierung – vor:
Der tief gespaltene Arbeitsmarkt führt auf der einen Seite zu wachsendem Vermögen, auf der anderen Seite müssen immer mehr Menschen darum kämpfen, ihre Miete bezahlen zu können, gerade in den
Ballungsräumen. Obwohl sie arbeiten, können sich viele Arbeitnehmer/-innen nicht mehr leisten, was für sie früher selbstverständlich war.
Es reicht eben nicht, sich das Bruttoinlandsprodukt anzuschauen und einfach einen Pro-Kopf-Wert zu berechnen. Sie müssen sich natürlich die Verteilung ansehen, sonst ziehen Sie falsche Schlüsse. Herr Minister, wenn ich 2 Millionen € besäße und Sie gar nichts, dann wären wir, statistisch gesehen, beide Millionäre.
Deswegen reicht es nicht, sich einfach die Wirtschaftsleistung anzuschauen und sie auf die Einwohner herunterzurechnen, sondern man muss natürlich die Verteilung berücksichtigen. Hier haben wir ein ganz großes Gerechtigkeitsdefizit.
Meine Damen und Herren, wenn Menschen den ganzen Tag arbeiten, aber kaum über die Runden kommen, wenn Eltern ihren Kindern erklären müssen, dass einfach kein Geld für ein Eis, einen Kinobesuch oder einen Kindergeburtstag da ist, wenn Rentnerinnen und Rentner gezwungen sind, Flaschen zu sammeln, weil die Rente nicht reicht, dann sind das doch Zustände, mit denen wir uns in einem so reichen Land nicht abfinden können.
Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung müssen bekämpft werden; das fordern auch die Gewerkschaften. Aber Sie sagen, Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung treffe vor allem Menschen ohne ausreichende Ausbildung. – Ja, ohne Ausbildung ist man stärker gefährdet. Aber eine gute Ausbildung schützt nicht. 20 % der Erwerbslosen haben einen Hochschulabschluss.
Herr Minister, auch die Lage auf dem Ausbildungsmarkt ist nach wie vor angespannt – anders, als Sie es hier ausführen. Die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge sinkt seit Jahren. In Hessen sieht es für junge Menschen, die einen Ausbildungsplatz suchen, besonders düster aus.
Um dies zu erkennen, reicht wieder ein Blick in Ihren eigenen, jährlich erscheinenden Bericht „Berufsausbildung in Hessen“. Ich habe ihn dabei, das Wirtschaftsministerium gibt ihn heraus. Dem zufolge besteht nach wie vor ein erheblicher Mangel an Ausbildungsplätzen. Demnach „haben sich die Ausbildungsmarktchancen der Jugendlichen rechnerisch verschlechtert“.
Während sich die sogenannte Angebots-Nachfrage-Relation auf Bundesebene verbessert hat, ist sie in Hessen schlechter geworden. Hessen ist auf dem viertletzten Platz unter den Bundesländern. Schlechter sind nur SchleswigHolstein, Bremen und Nordrhein-Westfalen.
Meine Damen und Herren, nur ein Fünftel der Betriebe bildet überhaupt aus. Fast die Hälfte der hessischen Betriebe hat nicht einmal eine Ausbildungsberechtigung. Die Ausbildungsquote in Hessen liegt bei nur 4,5 % und damit unter dem westdeutschen Durchschnitt. Sie geht weiter zurück. Das können Sie in Ihrem eigenen Bericht nachlesen.
Aber die Landesregierung setzt mit dem Bündnis Ausbildung Hessen wieder und weiterhin darauf, dass sich die Wirtschaft einfach selbst verpflichten soll, weitere Ausbildungsplätze zu schaffen und der Verantwortung nachzukommen, der sie seit Jahren nicht nachkommt.
Wie weit man mit diesen Absichtserklärungen und Selbstverpflichtungen gekommen ist, zeigen die Zahlen in Ihrem Bericht eindrucksvoll: fast 20.000 sogenannte Altbewerber in Hessen, die dauerhaft unversorgt bleiben, und viele Menschen, die einfach unbemerkt aus der Statistik herausfallen, aus dem Bildungssystem herausfallen.
Bei 22 % der Bewerber ist der Verbleib einfach nicht bekannt; das steht in Ihrem eigenen Bericht. Man weiß nicht, ob diese jungen Menschen untergekommen sind. In Ihrem Bericht kann man dann nachlesen, dass davon auszugehen sei, dass diese sich „faktisch in einer eher schwierigen Lage“ befänden. So viel zum Thema „Gute Lage am Ausbildungsmarkt“, meine Damen und Herren.
Da erleben wir viel zu wenig Initiative seitens der Landesregierung. Wer im Übergangssystem untergekommen ist, gilt aus statistischer Sicht als versorgt. Auch hier werden, ähnlich wie bei den Erwerbslosenzahlen, mit erheblichem Aufwand Statistiken bereinigt und beschönigt. Man redet sich Jahr für Jahr die Zahlen schön, statt endlich die Sorgen und Ängste Tausender junger Menschen ernst zu nehmen, die keinen Ausbildungsplatz finden.