Protocol of the Session on September 28, 2017

Herr Dr. Wilken, Sie haben von einem Stück Papier gesprochen, das aus Ihrer Sicht nicht nötig ist, um an Wahlen teilzunehmen. Das Stück Papier, das Sie gemeint haben, ist für mich der deutsche Pass. Er hat für mich durchaus eine gewisse Bedeutung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Er ist die Vergewisserung dafür, dass Menschen, die diesen deutschen Pass nach dem Einbürgerungsverfahren bekommen, die sich damit zur deutschen Staatsbürgerschaft bekennen und diesen Schritt ganz bewusst gehen, sich in sehr qualifizierter Weise mit der deutschen Geschichte, mit der deutschen Demokratie und überhaupt mit Demokratie beschäftigen

(Janine Wissler (DIE LINKE): Oder weil sie zufälligerweise hier geboren sind! – Gegenruf des Abg. Manfred Pentz (CDU): Euch ist das egal!)

und dass sie die Werte, die mit der Demokratie verbunden sind, anerkennen und damit leben.

Sicherlich gibt es auch Menschen, die hier geboren sind, die aus welchen Gründen auch immer keinen deutschen Pass haben. Aber was hindert denn diese Menschen, den deutschen Pass zu bekommen? Was hindert sie? Aus meiner Sicht gibt es da nichts. Von daher ist es der richtige Weg, dass man den Weg zur Erlangung der Integration ebnet, dass die Menschen deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger werden können.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU)

Genau deshalb gibt es die Kampagne der Landesregierung „Hessen und ich DAS PASST“, um Menschen ausländischer Herkunft und mit ausländischen Wurzeln wirklich den Weg zu ebnen, vollwertige Mitglieder der deutschen und auch der hessischen Gesellschaft zu werden. Der scheidende Staatssekretär aus dem Sozialministerium, der Bevollmächtigte für Integration und Antidiskriminierung, Jo Dreiseitel, hat hier gestern vorgetragen, wie bewegend die Einbürgerungsfeier der neuen Staatsbürgerinnen und -bürger war, die im Hessischen Landtag die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen haben.

Ich glaube, das ist der richtige Weg. Der richtige Weg ist, den Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft zu ebnen und darum zu werben, den deutschen Pass zu erwerben. Dann können sie auch bei Wahlen mitbestimmen.

Man sollte nicht den umgekehrten Weg wählen. Ich glaube, den sollten wir nicht gehen. Vielmehr sollten wir es so machen: Die deutsche Staatsbürgerschaft soll leichter erlangt werden können. Dann kann man bei allen Wahlen wählen. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Frau Kollegin Erfurth, vielen Dank. – Zu einer Kurzintervention hat sich Herr Dr. Wilken zu Wort gemeldet. Herr Dr. Wilken, bitte sehr, Sie haben das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Erfurth, an einer Stelle haben Sie mich gründlich missverstanden. Selbstverständlich müssen wir dafür das Grundgesetz ändern. Das habe ich auch gesagt.

Ich will mich jetzt nicht damit befassen, ob das die Mehrheitsmeinung ist oder ob wir hier eine Minderheitenmeinung vertreten. Ich sage ganz ausdrücklich: Das Demokratieprinzip steht der Auffassung entgegen, dass ausschließlich deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger das Recht, zu wählen, haben. Denn wer in dieser Demokratie lebt, ihren Regeln und ihren Gesetzen unterworfen ist, hat demokratietheoretisch auch das Recht, diese Regeln im Parlamentarismus durch Wahlen und Abstimmungen mit zu bestimmen. Ich habe gesagt, dass das in anderen Ländern – ich meine jetzt keine Bundesländer – durchaus auch möglich ist. Ich habe jahrelang in Neuseeland gelebt und von dem Recht Gebrauch machen können.

Wer hier eingebürgert werden will, kann das selbstverständlich gerne tun. Von daher teile ich Jos glänzende Au

gen. Das ist ein tolles Gefühl. Ich wollte damals in Neuseeland nicht eingebürgert werden, habe aber durchaus am politischen Leben durch Wahlen und Abstimmungen teilnehmen dürfen.

Uns ist nicht einsichtig, dass der Bulgare, der drei Monate hier lebt, an der Kommunalwahl teilnehmen darf, aber ein Asiate, der seit 20 Jahren hier sein Geschäft betreibt, es nicht darf. Diese Teilhabe wollen wir ermöglichen. Darin besteht die Differenz.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Kollegin Erfurth, Sie haben Gelegenheit, zu erwidern. Sie haben zwei Minuten Redezeit.

Herr Kollege Wilken, meine Bemerkung zur herrschenden Meinung bezog sich auf die Auslegung des Grundgesetzes. Es gibt immer verschiedene Möglichkeiten, wie man die Gesetzestexte und auch die Verfassung auslegen kann. Die herrschende Meinung der Juristinnen und Juristen ist, dass die Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht untrennbar miteinander verknüpft sind. Es gibt ein paar, die sagen, das sei nicht unbedingt miteinander verknüpft. Das ist die Mindermeinung.

Ich bin einfach davon ausgegangen, dass Sie sich der herrschenden Meinung anschließen, dass diese Verknüpfung gegeben ist. Das war der Kern meiner Bemerkung.

Alles andere betrifft die politische Bewertung, die hier auseinander liegt. Da möchte ich die Debatte nicht wiederholen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU)

Frau Kollegin Erfurth, vielen Dank. – Als Nächste erhält Frau Abg. Gnadl für die Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte sehr.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute zwei Themen in einer Debatte, die zwar beide das Wahlrecht betreffen, deren Gegenstände inhaltlich aber sehr unterschiedlich sind. Deswegen möchte ich zu diesen beiden Themenfeldern getrennt sprechen.

Ich möchte zunächst zum Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit etwas aus Sicht der SPDFraktion sagen. Die hessische SPD setzt sich schon sehr lange für die Ausweitung des Kommunalwahlrechts für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit ein. Wir wollen ein kommunales Wahlrecht für alle hier lebenden Menschen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE))

Wir wollen keine Ungleichbehandlung der Bürger der Europäischen Union und der Menschen, die nicht aus Staaten der Europäischen Union kommen.

Das Kommunalwahlrecht in Deutschland ist schon heute nicht mehr strikt an die deutsche Staatsbürgerschaft gekoppelt. Vielmehr steht es allen hier lebenden Bürgerinnen und Bürgern aus der Europäischen Union zu. Als das im Zuge des Vertrags von Maastricht Anfang der 1990er-Jahre eingeführt wurde, entschieden sich einige europäische Staaten, wie etwa Belgien, dafür, das Wahlrecht bei Kommunalwahlen gleich ganz zu öffnen. Sie dehnten es auf Drittstaatsangehörige aus.

Einige Staaten hatten diese Regelung bereits vor dem Vertrag von Maastricht. Die Idee, die dahinter steht, ist die, dass auch Einwohnerinnen und Einwohner ohne deutschen Pass bei der Gestaltung der örtlichen Lebensverhältnisse mit entscheiden und sich einbringen können sollen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Wir sind der Auffassung, dass eine solche Ausweitung des Kommunalwahlrechts ein Partizipationsangebot an die bei uns lebenden Ausländer ist. Das ist das Angebot, sich in unsere Gesellschaft und deren Gestaltung aktiv einzubringen.

(Beifall bei der SPD)

Damit ist das deutsche Kommunalwahlrecht letztlich auch ein Integrationsangebot an die, die hier dauerhaft leben, arbeiten und Steuern und Abgaben zahlen. Es ist der erste Schritt hin zu einer politischen Integration dieser Menschen, dem hoffentlich weitere folgen werden.

Gerade nach der Ausweitung des Kommunalwahlrechts auf Angehörige der Europäischen Union scheint die Verweigerung derselben Rechte für andere Staatsangehörige eine zunehmend künstliche Trennung zu werden. Ich frage Sie: Warum darf ein Finne nach drei Monaten in Deutschland wählen, ein Norweger aber selbst nach zehn Jahren Aufenthalt in Deutschland nicht? Warum darf eine Kroatin für das Stadtparlament kandidieren, eine hier lange lebende Serbin aber nicht?

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Ich denke, an diesen Beispielen zeigt sich sehr offensichtlich, dass es hier eine Ungleichbehandlung gibt, die abgeschafft werden muss. Allerdings erhebt die Fraktion DIE LINKE in ihrem Antrag jetzt die Forderung, das Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit auch auf Wahlen anderer Ebenen auszudehnen. Das können wir so einfach nicht mitgehen. Ich denke, es ist notwendig, die Argumente intensiv in einer Ausschusssitzung auszutauschen. Denn hier verlassen wir die Mitgestaltung des örtlichen Nahbereichs und des unmittelbaren Lebensumfelds.

Ich möchte nun zum zweiten Thema der heute geführten Debatte kommen. Da geht es um das Wahlrecht für voll betreute Menschen. Uns liegt da ein Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE vor. Mit unserem Programm zur Bundestagswahl hat sich die SPD im Bund dazu bekannt, die Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderungen abschaffen zu wollen.

Ich finde es wichtig und notwendig, dass wir uns in Hessen insbesondere auch auf Landesebene intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen. Andere Bundesländer haben das schon getan. Ich finde, es würde sich eine intensive Auseinandersetzung auch hier in Hessen lohnen. Der Gesetzentwurf, der vorliegt, bietet uns zumindest die Möglichkeit, im Plenum darüber zu debattieren und vor allen Dingen auch eine parlamentarische Anhörung durchzuführen,

mit der die verschiedenen Argumente noch einmal abgewogen werden können.

Ich persönlich pflege sehr engen Kontakt mit Berufsbetreuerinnen und -betreuern in meinem Wahlkreis. Ich selbst habe auch einmal einen Praxistag bei einem Berufsbetreuer mitgemacht. Ich habe auch in meiner Familie Menschen mit geistiger Behinderung. Deswegen geht mir dieses Thema sehr nahe. Ich finde, es hat eine wirklich intensive Auseinandersetzung verdient. Die heutige Debatte zeigt, dass es keine ganz einfache Auseinandersetzung ist und dass es sicherlich auch Argumente dafür und dagegen gibt, die durchaus ernst genommen werden müssen. Bisher sind Menschen, die in allen Angelegenheiten betreut werden, also die sogenannten Vollbetreuten, vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Grundsatz, der jahrzehntelang gilt, muss aber nicht für alle Ewigkeit weiter gelten, gerade wenn sich auch Rahmenbedingungen verändert haben. Der Ausschluss vom Wahlrecht ist ein Relikt aus einer Zeit, als es noch das Vormundschaftsrecht gab. Das war vor 1992, als man die heute Betreuten noch in allen Lebensbelangen bevormundete. Es hat seitdem auch ein Wandel im Betreuungsrecht stattgefunden. Wer voll betreut wird, ist nicht in der Lage, zu wählen – das ist die Logik des heute bestehenden Wahlrechts.

In der Tat ist das ganze Thema wesentlich weniger einfach und eindeutig. Es ist sehr verallgemeinernd und vereinfachend, jeder voll betreuten Person per se die Fähigkeit abzusprechen, einen politischen Willen zu artikulieren. Nicht jeder, der unter einer vollen Betreuung steht, ist auch so schwer beeinträchtigt, dass er oder sie keine Wahlentscheidung treffen kann. Es gibt auch Fälle, in denen die Vollbetreuung auf eigenen Wunsch der Betroffenen erfolgt ist, weil diese sich damit selbst vor Risiken, wie etwa einer Überschuldung, schützen wollen. Auf der anderen Seite haben wir auch einige geistig schwerstbeeinträchtigte Personen, die keiner Vollbetreuung unterstehen, weil sie auf Dauer hospitalisiert sind. Oder denken Sie beispielsweise auch an die zunehmende Zahl von demenzkranken Menschen, die keiner Betreuung im Sinne der Wahlgesetze unterstehen. Diese Menschen besitzen trotz ihrer Einschränkung das volle Wahlrecht.

Hier sehen wir, dass wir es mit einer massiven Ungleichbehandlung in der Praxis zu tun haben, die mit dem Grundsatz des gleichen Wahlrechts in Konflikt gerät. Diese Ungleichheit wird noch größer, wenn man sich die Zahlen der Vollbetreuung in den einzelnen Bundesländern anschaut. Es gibt starke regionale Ungleichgewichte. In Hamburg oder Bremen kommt es pro 100.000 Einwohner zu weniger als zehn Wahlrechtsentzügen, während es in NordrheinWestfalen 164 und in Bayern sogar 204 sind. In Bayern ist also die Wahrscheinlichkeit, sein Wahlrecht zu verlieren, zigfach höher als beispielsweise in Hamburg. Deshalb frage ich mich: Kann es sein, dass es von meinem Wohnort abhängt, ob eine Vollbetreuung angeordnet wird oder nicht, und ob mir dann das Wahlrecht verloren geht oder nicht?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben diesen Entwicklungen, die mich sehr bedenklich stimmen, hat sich auch der rechtliche Kontext verändert. Seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in Deutschland. Während wir uns hier im Hessischen Landtag mit dieser Konvention vor allen Dingen im Hinblick auf die Inklusion im Bildungsbereich beschäftigen, bezieht

sich diese Konvention auch auf die politische Teilhabe. Die Vertragsstaaten haben sich laut Art. 29 dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden. Da ist es schon mehr als fraglich, ob ein solcher allgemeiner Ausschluss vom Wahlrecht, der automatisch mit der Vollbetreuung einhergeht, dieser Verpflichtung der UN-Behindertenrechtskonvention noch entspricht.

Dementsprechend stößt auch die bisherige Regelung auf heftige Kritik, unter anderem auch bei der Behindertenbeauftragen der Bundesregierung, die das Ganze als großen Missstand bezeichnet hat und die das Wählen als demokratisches Grundrecht und die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen stark betont hat.

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Ich komme zum Schluss. – Andere Länder in Europa handhaben dieses Thema liberaler. Sie haben das Wahlrecht entweder gar nicht eingeschränkt oder nur nach einer individuellen richterlichen Prüfung des Einzelfalls.

Ich denke, allein diese Punkte zeigen, dass wir uns hier im Hessischen Landtag noch intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen müssen. Daher freue ich mich auf eine parlamentarische Anhörung, die dann auch Grundlage für eine Positionierung der SPD-Fraktion sein wird. – Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)