Protocol of the Session on June 7, 2011

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend sinnvolle Veränderungen statt Kürzungen in der Arbeitsförderung – Drucks. 18/4132 –

Dazu wird Tagesordnungspunkt 66 aufgerufen:

Dringlicher Antrag der Abg. Dr. Spies, Decker, Merz, Müller (Schwalmstadt), Roth (SPD) und Fraktion betreffend Rettungsschirme für Menschen aufspannen – keine „Operation düstere Zukunft II“ in der Arbeitsmarktpolitik – Drucks. 18/4168 –

Zur Begründung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN hat jetzt Herr Bocklet Gelegenheit. Herr Bocklet, Sie haben zehn Minuten Redezeit.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute diesen Tagesordnungspunkt zum Setzpunkt gemacht, weil wir der Meinung sind, dass dieses Thema eine besondere Dramatik gewonnen hat und eine Zielgruppe betrifft, die keine große Lobby hat. Es handelt sich um die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen. Genau diese Zielgruppe versteht es nicht, sich durch große Organisationen wie Gewerkschaften oder andere Verbände so Gehör zu verschaffen, dass es zu einer spürbaren Veränderung in der Arbeitsmarktpolitik kommt.

Auf dem Tisch liegt ein Reformvorschlag von Bundesministerin von der Leyen zu dem arbeitsmarktpolitischen Instrumentenkasten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nennen diesen Reformvorschlag ein schlecht getarntes Sparprogramm.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Denn die Bundesregierung plant, bis 2015 Kürzungen von sage und schreibe 7,8 Milliarden € in der Arbeitsmarktpolitik in den Bundeshaushalt umzuleiten. Vor diesem Hintergrund haben wir schwerste Einschnitte zu erwarten. Wir GRÜNE benutzen das Wort wahrlich nicht inflationär; aber wir werden in Hessen tatsächlich einen Kahlschlag in der Arbeitsförderung erleben. Diese Kürzungen werden somit die Chancen vieler Arbeitsloser auf Arbeit und Teilhabe nachhaltig verschlechtern. Die Spaltung des Arbeitsmarktes wird sich dadurch zukünftig vertiefen. Es droht ein Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit. Wir GRÜNE sind der Meinung, dass das eine Kapitulation vor der Langzeitarbeitslosigkeit ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerade jetzt brauchen wir flexible und passgenaue Instrumente, mit denen man Arbeitslosen individuelle Wege in die Arbeit anbietet. Das setzt aber voraus, dass qualifiziertes Personal in den Arbeitsagenturen und Jobcentern und genügend Mittel für die Förderung zur Verfügung stehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die schönsten Instrumente nutzen aber nichts, wenn kein Geld mehr für Qualifizierungen und andere Maßnahmen vorhanden ist. Gleiches gilt für die dezentralen Handlungsspielräume. Wenn sich das Ermessen der Jobcenter darin erschöpft, Förderungen ablehnen zu müssen, haben wir nichts gewonnen. Ich füge hinzu: Damit wird der Gedanke des Förderns und Forderns mit Füßen getreten. Es bleibt nur noch das Fordern übrig.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die beste Strategie, um bei der Arbeitsförderung Geld zu sparen, ist eine nachhaltige Vermittlung von möglichst vielen Arbeitslosen in Arbeit, von der sie leben können und die sie sozial sichert. Die gute Arbeitsmarktlage, gerade jetzt, wäre dafür eine ideale Basis. Das arbeitsmarktpolitische Gebot der Stunde lautet darum, jetzt in Arbeitslose und ihre Fähigkeiten zu investieren, damit sie vom Aufschwung profitieren können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich Ihnen noch einige Zahlen vor Augen führen. Sie argumentieren, dass wir gerade im zweiten Bereich keine Förderung mehr brauchen, weil der Arbeitsmarkt so gut ist. Wir haben in Hessen 180.000 Arbeitslose. Das sind 8,5 % weniger Arbeitslose als im Vorjahr. Aber im Rechtsbereich des SGB II, also bei den Langzeitarbeitslosen, sind es nur 4,5 % weniger. Das heißt, nur halb so viele Menschen aus dem Rechtskreis des SGB II konnten vom Aufschwung profitieren.

Was noch niederschmetternder ist: Menschen über 50 Jahre oder Ausländer konnten von diesem Aufschwung fast gar nicht profitieren, nur um die 0,5, 0,7 %. Was lernen wir daraus? Wir lernen, dass der Arbeitsmarkt angesprungen ist, dass aber die Langzeitarbeitslosen davon nicht profitieren. Eine Begründung, die sagt, weil die Arbeitslosigkeit um 8 % gesunken ist, könnten wir die Arbeitsförderung um 8 % zurückfahren, ist also falsch. Ganz im

Gegenteil, diese Zielgruppe ist davon nicht betroffen. Deswegen bleibt diese Argumentation falsch. Wiederholen Sie sie bitte nicht noch einmal.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie jetzt sagen: „Na ja, der Rückgang der Arbeitslosigkeit beträgt 8 %, dann könnte man das Budget um 8 % zurückfahren“, dann fragen wir Sie: Warum werden die Mittel des Eingliederungstitels gerade in Hessen und in der Bundesrepublik um über 25 % zurückgefahren, also um mehr als das Dreifache des Rückgangs der Arbeitslosigkeit? Lassen wir uns das auf der Zunge zergehen: Das bedeutet, dass in den hessischen Jobcentern über 65 Millionen € nicht mehr zur Verfügung stehen werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich das ergänzen darf: Dazu kommt noch, von Herrn Grüttner verordnet, dass für das Ausbildungsbudget 7 Millionen € hessische Landesmittel weniger zur Verfügung stehen werden. Das heißt, insgesamt werden mindestens 72 Millionen € weniger für Arbeitsförderung, Ausbildung und Qualifizierung zur Verfügung stehen. Das ist ein unglaublicher Vorgang, weil das das Signal sendet: „Liebe Freundinnen und Freunde draußen im Lande, mit der Langzeitarbeitslosigkeit haben wir abgeschlossen. Damit wollen wir nichts zu tun haben.“ Das ist nicht der Weg der GRÜNEN.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Beim letzten Mal hat Herr Rock hier gesagt: „Wir wollen mal evaluieren, und wir wollen mal umstrukturieren, geben Sie uns Zeit.“ Dann lassen Sie uns doch einmal schauen, was Sie von CDU und FDP seit dem Vorjahr getan haben. Sie haben die vermittlungsunterstützenden Leistungen, also die Leistungen, die vor Ort genutzt werden, damit Menschen in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, um 22 % reduziert. Das heißt, es wird auch eine geringere Vermittlung stattfinden.

Sie haben die Mittel für die Qualifizierung und die berufliche Weiterbildung, ein enorm wichtiger Punkt, im Vergleich zum Vorjahr um 33,9 % zurückgefahren. Sie haben bei der Förderung der Berufsausbildung und der bei der Berufsausbildung Benachteiligter mit minus 36,5 % und bei den Arbeitsgelegenheiten mit minus 30,2 % zugeschlagen. Das ist eine Vollrasur mitten ins Kontor der Arbeitsförderung von Langzeitarbeitslosen. Das ist nicht mehr kluge Umstrukturierung, das ist nicht mehr Evaluierung, sondern das ist nur noch blinde Sparwut. Wir kritisieren das aufs Heftigste.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie der Abg. Marius Weiß (SPD) und Marjana Schott (DIE LINKE))

Wenn Sie sagen, vielleicht ist das eine oder andere Instrument unglücklich – für diese Diskussion sind wir offen; es gibt Instrumente der Arbeitsförderung, die nicht effektiv waren –, dann erklären Sie uns doch bitte an diesem Pult, warum Sie 5,2 Milliarden € aus dem Gründungszuschuss streichen wollen, eine Fördermaßnahme, die erwiesenermaßen, zuletzt durch eine Studie des IAB, das erfolgreichste Instrument der Arbeitsförderung war. Nach fünf Jahren wurde das Vorgängerinstrument untersucht und evaluiert. Bis zu 70 % der Menschen, die diesen Gründungszuschuss in Anspruch nahmen, waren nach ihrer Gründung noch in Voll- oder Teilzeit tätig. Weitere 20 % gingen nach fünf Jahren immer noch einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach. Das heißt, fast 80 bis 90 % der Menschen, die diesen Gründungszuschuss in

Anspruch nahmen, sind im ersten Arbeitsmarkt integriert. Können Sie mir erklären, warum Sie dieses Instrument faktisch komplett zerschlagen? Das ist irrsinnig. Das nenne ich eine arbeitsmarktpolitische Geisterfahrt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, beenden Sie diese.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben zentrale Forderungen aufgestellt. Lassen Sie mich in Kürze sagen: Wir wollen, dass diese erheblichen Mittelkürzungen zurückgenommen werden. Wir glauben auch, dass wir eine viel höhere Flexibilität, gerade beim Instrumentarium für Langzeitarbeitslose, und größere Spielräume brauchen. Wir brauchen mehr und bessere Instrumente bei der Qualifizierung der beruflichen Bildung und vor allem bei der Ausbildung. Wir brauchen auch die Hilfen zur Aktivierung in vollem Umfang.

Deswegen sage ich Ihnen: Wie oft haben Sie in diesem Hause, angefangen von Roland Koch, davon gesprochen, dass Sie die Menschen in öffentliche Beschäftigung bringen wollen? Warum kürzen Sie diese Mittel um 30 %? Wir dagegen haben gesagt: Es gibt ein Segment von Langzeitarbeitslosen. Die haben große Vermittlungshemmnisse. Für diese Zielgruppe brauchen wir einen sozialen Arbeitsmarkt. Für dieses Konzept werben wir nach wie vor, auch in einer Arbeitsmarktlage wie jetzt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss kommen. Frau Prof. Birkenfeld aus der Stadt Frankfurt, CDU, Sozialdezernentin, sagt als Kommentierung zu dieser Instrumentenreform:

Die vorliegende Instrumentenreform dient dem Ziel der Mitteleinsparung, nicht der nachhaltigen Integration... langzeitarbeitsloser Frauen und Männer. Die Personengruppe des SGB II bleibt völlig unberücksichtigt in ihren Bedarfen und auch in ihren Potenzialen.... Aus sozialpolitischem Interesse muss die vorgelegte Reform abgelehnt werden, sofern die Abkopplung der SGB-II-Hilfeempfänger... vom Arbeitsmarkt nicht das eigentliche Ziel der Reform war.

Ich sage Ihnen: Frau Birkenfeld hat recht. Dem ist nichts hinzuzufügen. Beenden Sie diesen Amoklauf, diese Geisterfahrt der Arbeitsmarktpolitik. Wir brauchen mehr Förderung, damit auch die Langzeitarbeitslosen die Chance haben, bei dieser guten marktwirtschaftlichen Lage in Lohn und Brot zu kommen. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Danke, Herr Bocklet. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Herr Dr. Spies.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Dieser sozialund arbeitsmarktpolitischen Amokfahrt von Frau von der Leyen hätte es nicht bedurft, hätte sie einmal nachgelesen, was die SPD schon vor einem Jahr an arbeitsmarktpolitischen Perspektiven vorgeschlagen hat – dann wäre sie auf dem richtigen Weg.

Tatsächlich stehen wir einer Kürzungsorgie gegenüber, die aus gleich zwei Missverständnissen resultiert: erstens

der irrigen Annahme, man bräuchte weniger Arbeitsmarktpolitik. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist durch die Konjunkturverbesserung in keiner Weise zurückgegangen. Deshalb ist auch die Rücknahme dieser Instrumente inadäquat.

(Vizepräsidentin Sarah Sorge übernimmt den Vor- sitz.)

Genauso wesentlich aber ist das zweite Missverständnis: Sie hat nicht verstanden, dass es einen Unterschied gibt zwischen Menschen, die im SGB-III-Bezug sind, also kurzzeitig arbeitslos und durch einfache Instrumente wieder in Arbeit zu bringen, und Menschen im SGB-II-Bezug, die in ganz anderer Weise unterstützt werden müssen und die auch in Zukunft auf diese Instrumente – wie sie aus einer hessisch-sozialdemokratischen Tradition stammen – dringend angewiesen sind.

(Beifall bei der SPD)

Obendrauf setzt sich Herr Grüttner, schon Ende letzten Jahres, indem er neben dem Arbeitsmarkt nun auch noch den Ausbildungsmarkt plündert. Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit ausgeglichener Haushalte rechtfertigt keinen Exodus im Sozialbereich. Sie verlangt auch von der Hessischen Landesregierung, sich darum zu kümmern, dass genug Kohle da ist. Da wäre Initiative gefordert, aber nicht durch Kürzungen bei den Ärmsten im Lande.

(Beifall bei der SPD)

Tatsächlich brauchen wir eine präventive Sozialpolitik, gerade auch im Arbeitsmarkt. Dort, wo Langzeitarbeitslosigkeit eingetreten ist, brauchen wir Hilfen, um wieder aus ihr herauszukommen. Durch die Reformen des Sozialgesetzbuchs II mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden zwei unterschiedliche Traditionen – nämlich die Hilfen für die, die schon in Arbeit waren, und die Hilfe für die, die nicht in Arbeit waren, sondern der Fürsorge der Sozialhilfe anheimgefallen waren – in einer neuen Grundsicherung für alle Arbeitsfähigen zusammengeführt. Damit wurden die Instrumente der Arbeitsförderung für alle eröffnet.

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle darf ich noch einmal betonen: Da ist Hartz IV ein sozialpolitischer Meilenstein gewesen, auf den wir stolz sind.

(Beifall bei der SPD)

Ganz sicherlich aber gibt es Punkte, an denen man auch ein solches Instrumentarium weiterentwickeln muss. Denn die Arbeitsförderung nach dem Sozialgesetzbuch III war die maßgebliche Referenzgröße. Das ist nun einmal ein bisschen anders als die Problemlage beim Sozialgesetzbuch II. Das wissen wir in Hessen schon lange. Das wissen wir in den hessischen Kommunen schon lange. Die Spannung zwischen dem Fürsorgebedarf und dem Anspruch auf ein bundeseinheitliches Regelwerk ist da sicherlich noch nicht hinreichend aufgelöst; denn Menschen, die sich weiter in einer deutlich arbeitsmarktfernen Lage befinden und die in der Regel multiple Problemlagen aufweisen und deswegen auch nicht unmittelbar von einer Konjunkturverbesserung profitieren, bedürfen wirklich einer zusätzlichen Unterstützung. Tatsächlich aber stellen wir fest, dass z. B. beim Personal der Agenturen der Bereich des Sozialgesetzbuchs II deutlich schlechter ausgestattet ist, anstatt besser ausgestattet zu sein, wie es erforderlich wäre.

Meine Damen und Herren, jetzt kommt Frau von der Leyen – und was ist ihre Antwort auf die Lage am Arbeitmarkt? In vier Jahren Einsparungen von fast 30 Milliarden € – meine Damen und Herren, das ist keine Reform, das ist keine Politik, das ist ein Kahlschlag, der Erfolg versprechende, gute Ansätze eliminiert.

(Beifall bei der SPD)

Denn die Reformen, die Frau von der Leyen vorgelegt hat, dienen ausschließlich dazu, diese Sparziele zu erreichen.

Was erwartet uns? Die öffentlich geförderte Beschäftigung wird drastisch zurückgefahren – obwohl wir doch wissen, dass sie ein erfolgreiches Instrument war. Die Jobperspektive – also dauerhafte Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose, die nun einmal keine Chance haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzukommen – wird faktisch abgeschafft. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die insbesondere Frauen in Langzeitbezug zugutegekommen sind, werden eliminiert. Fördermöglichkeiten werden gestrichen. Möglichkeiten der Berufsorientierung bleiben zwar erhalten, verlangen aber Kofinanzierung von den Kommunen, die sowieso kein Geld haben. Meine Damen und Herren, auch an dieser Stelle eine völlig verfehlte Politik.

Tatsächlich stellt man fest: Die von der wissenschaftlichen Begleitung – unter anderem auch just des Ministeriums von Frau von der Leyen – gerade empfohlenen Instrumente sollen dieser Kürzungsorgie anheimfallen, während die Dinge, von denen man weiß, dass sie noch nie groß etwas getaugt haben, bestehen bleiben sollen. Meine Damen und Herren, ein ganz klein bisschen Evidence-based Politics würde auch der Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung sehr gut zu Gesicht stehen – wenn man denn wüsste, worum es da geht.