Protocol of the Session on March 2, 2011

Hier will ich jetzt ein bisschen konkreter werden: Was sind denn freiwillige Leistungen?

Ich will ein bisschen anders anfangen. Wir wollen – der Ministerpräsident hat das in seiner Regierungserklärung immer wieder erklärt – Hessen zum Bildungsland Nummer eins machen. Nun gibt es schlaue Männer und Frauen, die einmal gesagt haben: Zur Erziehung eines Kindes braucht man das ganze Dorf. – Dieser Satz ist schlauer, als viele es im ersten Moment vermuten. Das heißt nämlich, dass wir die Bildungspolitik nicht nur in den Schulen entscheiden, sondern dass es einige Aspekte gibt, die für den Bildungserfolg von Kindern wesentlich sind, die aber nicht in den Schulen entschieden werden.

Das gilt z. B. beim Thema Bewegung. Wir wissen aus der Bildungsforschung, dass Kinder, die nicht rückwärts laufen können, auch nicht rückwärts zählen können. Wir wissen, dass heute – anders als vor 20 Jahren, als noch zwei von drei Kindern nach der Grundschule schwimmen konnten – es nicht einmal mehr jedes zweite kann.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Wir wissen, dass Kinder, die keine frühmusikalische Erziehung genossen haben – egal ob das Gesang oder ein Instrument ist, völlig egal ob Flöte oder Geige –, Schwierigkeiten beim abstrakten Denken haben.

Deswegen brauchen wir Städte und Gemeinden, die in der Lage sind, ihre Angebote wie kommunale Musikschulen, aber auch Musik- und Gesangvereine, zu fördern – genauso wie Städte und Gemeinden in der Lage sein müssen, Sportinfrastruktur wie Schwimmbäder und Sportplätze vorzuhalten.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen sind das keine freiwilligen Leistungen. Wir werden die Anstrengungen in der Bildungspolitik niemals zum Erfolg führen, wenn wir nicht endlich aus einer solchen Betrachtungsweise aussteigen. Das aber setzt voraus, dass die Städte und Gemeinden in der Lage sind, ihren Aufgaben auch gerecht zu werden.

Deswegen ist die Konstruktion Ihres Schutzschirms grundfalsch und vergeht sich an den Zukunftschancen der nachfolgenden Generation.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen können wir Sie nur auffordern, umzukehren und endlich auch als Landesregierung ein Verständnis dafür zu entwickeln, was denn die Erfordernisse für die Städte und Gemeinden beispielsweise im ländlichen Raum sind – oder aber auf der anderen Seite auch im Ballungsraum.

Diese Anforderungen sind sehr unterschiedlich. Die wenigsten wissen heute beispielsweise, dass die drittgrößte Flächengemeinde im Lande Hessen nicht Offenbach, Kassel oder Darmstadt ist. Die drittgrößte Flächengemeinde in Hessen ist Schotten: 240 km Abwasserleitungen bei 18.000 Einwohnern. Die Vorstellung, die hier teilweise in der Landesregierung vertreten wird, ist doch absurd: dass unter den Bedingungen des demografischen Wandels die Infrastrukturkosten im ländlichen Raum sinken werden. Das genaue Gegenteil ist doch der Fall. Sie werden pro Kopf steigen – es sei denn, wir sagen den Städten und Gemeinden im ländlichen Raum, sie sollten leer werden, und alle sollen in die Ballungszentren. Das ist absurd.

Sie haben keine Vorstellungen davon, wie Sie mit den ländlichen Gemeinden, den ländlichen Städten umgehen sollen.

Deshalb ist es auch nicht sehr verwunderlich, dass Sie konsequent eines der erfolgreichsten Programme, die dieses Land je entwickelt hat – nämlich die Dorferneuerung –, systematisch in den Boden rammen und kaputt hauen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Umgekehrt gilt das natürlich auch für die Städte und Gemeinden. Da kommt jetzt die FDP und erklärt: Wir wollen, dass die Wohnungsbaugesellschaften auf die Verkaufslisten sollen. – Die Wohnungsbaugesellschaften sind eines der wesentlichsten Infrastrukturinstrumente für die Städte. Es ist doch geradezu absurd, dass Sie die Handlungsmöglichkeiten der Städte und Gemeinden einschränken wollen, indem Sie sie dem öffentlichen Einfluss und damit auch der öffentlichen Steuerung entziehen. Wir dachten eigentlich, Sie alle seien insgesamt ein bisschen schlauer geworden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Deswegen ist unsere Forderung an Sie: Nehmen Sie sich ein Beispiel an Pippi Langstrumpf. Da hat es ja Spaß gemacht. Versuchen Sie aber einmal, umzudrehen und endlich die Realitäten im Land ernst zu nehmen, wahrzunehmen. Versuchen Sie nicht immer, sich selbst irgendetwas in die Tasche zu lügen. Es bleibt dabei: Politische Hochstapelei lohnt sich niemals, weder in Berlin noch hier. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Schäfer-Gümbel. – Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht jetzt ihr Vorsitzender, Herr Al-Wazir.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wahrscheinlich hat dieser Hessische Landtag noch selten in der letzten Plenarwoche vor einer Kommunalwahl eine dermaßen ratlose Regierungsmehrheit erlebt. Das nämlich, was hier an Antrag und Rede vorgetragen wurde, zeigt eigentlich nur, wenn ich es einmal so sagen darf: Sie haben eigentlich schon aufgegeben, bevor der Wahlkampf in seine heiße Phase getreten ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich bin schon ein bisschen länger hier. Ich glaube, es ist jetzt das vierte Mal, dass ich hier eine Plenarwoche vor einer Kommunalwahl erlebe.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Immer gab es dann eine Auseinandersetzung darüber, welche unterschiedlichen Vorstellungen die Parteien zur Gestaltung der Kommunen haben: wie das Land den Kommunen helfen soll, welches die Schwerpunkte der Politik auf der kommunalen Ebene sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Antrag und diese Debatte bisher zeigen, dass CDU, FDP und diese Landesregierung offensichtlich keine Ahnung mehr haben, wie sie diese Kommunalwahl gewinnen wollen und worin die Aufgabe des Landes in Beziehung auf die Kommunen besteht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Das ist schon ein Drama. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunen bilden doch das Fundament des Landes. Die Kommunen sind der Ort, an dem die Bürgerinnen und Bürger staatliches Handeln unmittelbar erleben, in eigener Anschauung, wo sie mitbekommen, was das Thema ist.

Wir haben dazu Vorstellungen. Aber mich würde es schon interessieren, wenn das hier zum Setzpunkt der CDU gemacht wird: Welche Vorstellungen hat die Union eigentlich davon, welche Rolle die Kommunen in der Bildungspolitik spielen sollen? Wie sollen sie ihre frühkindlichen Bildungseinrichtungen so ausstatten, dass diese ihre Aufgaben erfüllen können?

Wir könnten uns darüber auseinandersetzen, was mit den Schulgebäuden passieren soll oder nicht. Wir könnten uns darüber auseinandersetzen, wie die Energiewende stattfinden soll. Denn die Energiewende findet in den Kommunen statt, oder sie findet nicht statt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir könnten uns über lebendige Innenstädte oder irgendwelche Zentren auf der grünen Wiese auseinandersetzen. Auch das ist eine eminent kommunalpolitische Frage – bei der das Land übrigens ziemlich viel mitreden kann.

Bei alledem: Funkstille, Sendepause, keine Idee, keine Ahnung, weder bei CDU noch bei FDP, noch bei dieser Regierung. Ich muss sagen: Das ist traurig, wirklich traurig.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Die Frage des sozialen Zusammenhalts wird in der Kommune entschieden.

Jörg-Uwe Hahn denkt zwar immer, er sei der großartigste Integrationsminister auf der nördlichen Halbkugel,

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das ist er auch! – Beifall bei der CDU und der FDP)

aber Integration gelingt in der Kommune, oder sie gelingt nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Deswegen sind das Einzige, was Jörg-Uwe Hahn in zwei Jahren hinbekommen hat, fünf Modellprojekte von Kommunen und nicht etwa von ihm. Insofern ist es schon eine Frage, über die wir uns auseinandersetzen könnten, wenn es denn eine Idee bei Ihnen gäbe. Aber man findet da nichts.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zur Frage der Kommunalfinanzen. Die Kommunalfinanzen sind ein unglaublich wichtiges Thema. Aber sie sind nur Mittel zum Zweck der Erfüllung der Aufgaben, über die ich hier gerade geredet habe. Wenn wir über Kommunalfinanzen reden wollen, dann ist es wirklich so, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP: Es hat selten eine Regierung gegeben, die eine so chaotische Finanzpolitik gegenüber den Kommunen betrieben hat. Weil es passt: Volker Bouffier hat zu Beginn der Debatte die Flucht ergriffen. Auch das hat es sicherlich noch nie gegeben, seitdem wir hier im Hessischen Landtag vor Kommunalwahlen über Kommunalpolitik reden.

Schauen wir ein Jahr zurück. Was ist denn passiert?

(Zuruf des Abg. Klaus Dietz (CDU))

Der erste Punkt ist: Diese Regierung und diese Mehrheit erklärten vor einem Jahr, die Kommunen seien so reich im Vergleich zum Land, dass man ihnen 340 Millionen € entziehen müsse.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Wo ist der Kommunalminister? – Günter Rudolph (SPD): Und der Ministerpräsident? Wo sind sie alle?)

Dann haben wir Proteste der Kommunen, weil gleichzeitig kein Landkreis und fast keine Kommune mehr den Haushalt ausgleichen können. Mit dem Reichtum scheint es daher durchaus relativ zu sein.

Dann stellen Sie fest: Oje, wir haben eine Kommunalwahl. – Sie streichen 340 Millionen €, aber geben einen Vorschuss von 150 Millionen € auf das Geld vom übernächs ten Jahr und sagen dann: Hurra, es ist Geld in der Kasse.

(Clemens Reif (CDU): Zinslos!)

Dieser Vorschuss von 150 Millionen € fehlt dann im Jahre 2012. Derselbe neu gewählte Ministerpräsident, der vorher Innen- und Kommunalminister war – übrigens, der Kommunalminister fehlt auch bei dieser Debatte – –

(Günter Rudolph (SPD): Der Ministerpräsident auch!)

Aber bitte sehr, das ist Ihr Problem, nicht unser Problem. Es ist Ihr Problem, dass Sie das nicht ernst nehmen.