Protocol of the Session on May 10, 2012

Wenn ich allerdings manche Verlautbarungen gerade aus der Ecke des organisierten europäischen Fußballs höre, könnte ich den Eindruck gewinnen, als gebe es eine strikte Trennung zwischen Sport auf der einen Seite und Politik auf der anderen Seite.

(Günter Rudolph (SPD): So ist es!)

Ich möchte uns ganz bewusst an zwei Beispielen noch einmal deutlich vor Augen führen, welche Wirkung die Faszination Sport, die es übrigens schon zu allen Zeiten gegeben hat, hat. Ich möchte das mit einem negativen und mit einem positiven Beispiel belegen.

Wir haben das negative Beispiel, dass die Nationalsozialisten 1936 die Olympischen Spiele für ihre Propaganda und für ihre menschenverachtende Politik missbraucht haben. Wir haben auch ein positives Beispiel. Ältere, wie ich, wissen das noch. Ich durfte damals eine Cola trinken. Wir haben das positive Beispiel der Fußballweltmeisterschaft 1954, das mit seinem Ergebnis am Ende unbestreitbar zur Identitätsbildung in der Bundesrepublik zum Teil beigetragen hat.

Die Frage: „Ist ein Boykott eine mögliche Lösung?“ ist einmal falsch beantwortet worden. Ich will übrigens sagen, dass diese Frage von Volker Bouffier sehr früh im richtigen Sinne beantwortet wurde. Ich glaube, wir sollten sie nie mehr falsch beantworten.

Wir haben 1980 die Olympischen Spiele in Moskau boykottiert. Das geschah zum Schaden der Sportler und mit Sicherheit auch zum Schaden der Bevölkerung in der Sowjetunion. Ich habe eine Menge Freunde, die damals als potenzielle Olympiateilnehmer für den Boykott waren. Heute sehen sie dies als den größten persönlichen Fehler an, den sie gemacht haben.

Der Boykott des Sports ist also keine Lösung. Der Verzicht auf einen Boykott des Sports bedeutet aber nicht, dass wir uns wegducken und dass wir wegsehen. Beispielsweise sind die Aussagen des Kapitäns der deutschen Nationalmannschaft, Philipp Lahm, zu Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Menschenrechten und demokratischen Werten die richtige Antwort. Ich fand das bemerkenswert. Wir haben mündige Sportler. Sie sollen nicht auf dem Platz demonstrieren. Das ist klar. Aber sie sollen ihre Meinung sagen. Sie handeln damit auch politisch.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU, bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordne- ten der SPD sowie des Abg. Hermann Schaus (DIE LINKE))

Die Fußballeuropameisterschaft in der Ukraine mit dem am Ende erfolgreichen Gewinner eröffnet die große Chance, den Scheinwerfer auf die gesellschaftlichen und politischen Missstände in diesem Land zu richten. Sport transportiert Werte. Wir sollten dieses hohe Gut durch unsere politische Unterstützung erhalten und bewahren. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN)

Herr Dr. Müller, vielen Dank. – Als Nächster spricht Herr Dr. Blechschmidt für die FDP-Fraktion.

Herr Präsident, sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! In vielen Staaten der ehemaligen Sowjetunion inklusive Russlands sind 20 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR keine Fortschritte hinsichtlich der Demokratie, der Modernisierung, der Rechtsstaatlichkeit und insbesondere der Menschenrechte zu erkennen.

Im Gegenteil, ein Rollback hat eingesetzt, neudeutsch ausgedrückt. Dieses Zurückdrehen der Freiheit ist in der Ukraine nach meiner Auffassung am eklatantesten zu beobachten.

(Vizepräsidentin Ursula Hammann übernimmt den Vorsitz.)

Ich bin Herrn Müller dankbar, dass er ein paar andere Jahreszahlen erwähnt. An 1980 kann ich mich sehr gut erinnern. In Los Angeles gab es die Retourkutsche, aber das war die große Politik. Das war Sache des Kalten Krieges. Gleichzeitig muss man sich an eine Weltmeisterschaft erinnern, auch das ist erwähnt worden: was es damals mit Südamerika auf sich hatte. Aber es gab auch Olympische Spiele in den Dreißigerjahren in Deutschland, die im

Nachhinein als falsch angesehen wurden und die man heute rückblickend mit ganz kritischen Augen betrachtet.

Die Ukraine ist mit Polen vom 8. Juni bis 1. Juli Gastgeber der EM. Sie ist neben Polen Austragungsort. Herr Dr. Müller hat darauf hingewiesen: Deutschland wird in der Ukraine Europameister werden – so jedenfalls meine Hoffnung und die Hoffnung vieler deutscher Fans.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

In der ganzen Diskussion um Pro oder Kontra von Boykotts sage ich persönlich, ich bin in der Aufgeregtheit der ersten Tage und auch unter Berücksichtigung dessen, was ich hier gehört habe – das muss man für sich persönlich, auch wenn man hier vorne spricht, abwägen –, sofort auf Distanz gegangen, auch zu dem, wie es vollumfänglich dargetan wurde, sogar die Spiele nach Deutschland zurückzuholen. Ich glaube, das wäre das falsche Signal gewesen. Es geht hier nicht nur um die Teilnahme deutscher Politiker an der EM, sondern mehr um ein sportliches Ereignis.

Ich habe im Vorfeld, auch im Austausch mit den GRÜNEN, sehr wohl die Auffassung vertreten, dass man als Landtag einvernehmlich ein Signal setzen sollte, diesem Antrag unisono die Zustimmung zu geben, auch wenn ich sage: Politiker sind nicht nur Kulisse, und sie sollten nicht nur Kulisse bei dieser EM sein.

Aber die Boykottfrage ist in den letzten Tagen sehr unterschiedlich beantwortet worden, was Leute damit verbinden. Daher darf keine Kulisse passieren, sondern in der Ukraine muss Sport im Mittelpunkt stehen. Außerdem muss entsprechend genutzt werden, was man mit Meinungsfreiheit verbindet.

Die ukrainische Regierung muss wissen: Der Weg nach Europa führt über eine Brücke, die auf zwei Pfeilern steht, Demokratie einerseits und Rechtsstaatlichkeit andererseits. Das müssen wir anlässlich der Spiele durch Präsenz und wohlgeordnete Kritik im Einzelnen, auch von den Spielern, auch von den handelnden Akteuren, deutlich machen. Die Ukraine muss als Mitglied des Europarats ihrer Verpflichtung zu menschenrechtlichen Mindeststandards nachkommen. Da gibt es erhebliche Defizite. Ich kann mich persönlich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Ukraine das Strafrecht missbraucht, um die Opposition kaltzustellen. Auch dem muss entgegengetreten werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU sowie bei Abge- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich sehe mit der Fußball-EM im Juni einen guten und begrüßenswerten Effekt, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, die mit einem Sportereignis wächst, und auf diese Missstände hinzuweisen. Da sind Politiker, Sportler, Medien und die Fans gefragt, die sich nicht nehmen lassen sollten, während dieser EM ein Zeichen zu setzen.

Für mich und, ich glaube, für das Haus gilt der Grundsatz, den man vielleicht so zusammenfassen kann: kritisieren statt boykottieren. Deshalb muss nochmals die Rechtsstaatlichkeit als Grundvoraussetzung für eine Annäherung der Ukraine an die EU betont werden. Dem muss im Zungenschlag während der EM Rechnung getragen werden.

Ich respektiere in diesem Zusammenhang, dass die EUKommission der Fußball-EM fernbleiben will. Es ist aller

dings wichtig, nicht alle Gesprächsfäden abreißen zu lassen. Für mich war interessant, dass Amnesty sich nicht für einen generellen Boykott ausgesprochen hat, sondern gerade das Nichtabreißen von Gesprächsfäden und den Austausch und das Anbringen der Kritik sehr wohl im Wort geführt hat.

Ich glaube, dass mit dieser einvernehmlichen Zustimmung des Hauses zu dem Antrag der GRÜNEN ein Zeichen gesetzt werden kann, mit dem wir den Sport im Vordergrund haben, aber gleichwohl deutlich machen, dass die Zustände in der Ukraine mit rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu vereinbaren sind. Deshalb freue ich mich, dass im Landtag Einvernehmen in dieser Frage erzielt wurde, dass gemeinsam abgestimmt werden kann, sodass wir das auch politisch gut weiter begleiten können. – Danke schön.

(Allgemeiner Beifall)

Vielen Dank, Herr Dr. Blechschmidt. – Als nächster Redner hat sich Herr Kollege Schaus für die Fraktion DIE LINKE zu Wort gemeldet. Bitte schön, Herr Schaus, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 8. Juni beginnt in Warschau die Fußballeuropameisterschaft. Viele Menschen freuen sich auf das gemeinsame Sportfest in Polen und der Ukraine, auf Public Viewing, die Biergärten, auf tolle Tore, und sie fiebern den Auftritten ihrer Mannschaften entgegen.

Ich bin sehr dankbar dafür, dass diese Debatte heute stattfindet und dass wir eine breite Übereinstimmung haben bei der Beurteilung der Menschenrechtslage in der Ukraine. Gott sei Dank findet diese Debatte statt; denn es ist gut, wenn die schönste Nebensache der Welt genutzt wird, um sich auch mit der unschönen Hauptsache der Welt, der Politik in den einzelnen Ländern, auseinanderzusetzen.

Herr Dr. Müller hat schon darauf hingewiesen, und ich möchte es in einen weiteren Zusammenhang stellen. Da gibt es die Formel 1 in Bahrain. Da hätte ich mir auch gewünscht, dass man nicht nur fröhlich im Kreis herumfährt, sondern auch eine Meinung zu den Zuständen im Land äußert. Ich wünsche es mir auch von Gerhard Schröder, wenn er im Kreml beim „lupenreinen Demokraten“ Putin strammsteht, während draußen die Leute verprügelt werden. Auch das gehört zur Diskussion hinzu.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hol- ger Bellino (CDU))

Meine Damen und Herren, ich wünsche mir auch von Frau Merkel, dass sie mit der KP China nicht nur Wirtschaftsverträge verhandelt, sondern dort auch Dissidenten besucht. Ich wünsche mir von ihr auch, dass sie gegenüber dem US-Präsidenten Obama für das Ende amerikanischer Foltergefängnisse eintritt. All das sind Menschenrechtsverletzungen, und es ist notwendig, sie in der Diskussion zu halten.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Überall, wo die Menschenrechte, die Meinungsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit bedroht oder gar verletzt werden, sollten wir nicht schweigen. Besser noch, wir sollten uns engagieren, um wenigstens etwas zu verbessern.

(Holger Bellino (CDU): Das gilt auch für Kuba oder für Venezuela!)

Das gilt auch für Kuba, Herr Bellino. Das gilt für alle Länder auf der Erde, wo Menschenrechtsverletzungen vorliegen.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU) – Gegenruf des Abg. Günter Rudolph (SPD): Das muss jetzt wirklich nicht sein!)

Herr Bellino, klarer kann ich wirklich nicht ausdrücken, was unsere Position ist, auch wenn Sie das immer wieder herumzudrehen versuchen.

Die Ukraine bietet an sich schon genug Anlass hierzu, und die inhaftierte Julija Timoschenko sowie einige Begleit umstände der EM sind sehr konkrete Anlässe, in die Debatte um Menschenrechte in Europa – richtig und wichtig – einzugreifen. Aber man sollte es eben früher und ehrlicher anpacken, Herr Bellino, und nicht nur situationsbezogen, wie Sie es tun.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Dann mögen die Motive noch so gerecht sein; ich halte es für politische Augenwischerei, wenn man nun einen Monat vor Beginn der Spiele so tut, als wäre ein Boykott überhaupt möglich.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU) – Unruhe – Glockenzeichen der Präsidentin)

Herr Bellino, wenn Sie unsere Zustimmung nicht ertragen können, dann gehen Sie wenigstens hinaus, oder seien Sie ruhig. Ich würde Sie herzlich darum bitten.

(Tarek Al-Wazir und Jürgen Frömmrich (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN): Hört doch auf! In einem einzigen Punkt heute waren wir uns einmal einig!)

Das hält er nicht aus.

Bitte ein wenig mehr Ruhe. Hören Sie dem Redner zu.

Erstens besteht bei einem Boykott die große Gefahr, dass man eher die Solidarität der Ukrainer mit dem herrschenden Regime fördert und freiheitlich gesinnten Menschen die Tür zum Dialog verschließt. Viel wichtiger ist, die Menschenrechtsverletzungen, welche in der Ukraine übrigens nicht nur an der inhaftierten Ex-Regierungschefin Timoschenko begangen werden, anzuprangern und über die Spiele und Begegnungen für ein offenes, freies und gleiches Miteinander in der Ukraine offensiv und überall einzutreten.

Meine Damen und Herren, eine gute Fankultur könnte übrigens auch in Polen einiges ändern. Zum Beispiel ist die dortige diskriminierende Homophobie im Fußball ein unerträglicher Anachronismus. Den sollten wir zu ändern versuchen.