Protocol of the Session on November 10, 2016

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP)

Schon im August haben wir zur Situation in der Türkei nachfolgenden Beschluss gefasst: „Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den türkischen Staat auf, willkürliche Verhaftungen, Entlassungen oder Einschränkungen anderer basaler Freiheitsrechte zu unterlassen. Sie erklärt, dass auch die Beschränkung von institutio nellen Rechten und die unabhängigen Wirkungs möglichkeiten zum Beispiel von Medien, aber auch von Einrichtungen in den Bereichen der Justiz, der Wissenschaft und der Bildung mit den Grundsätzen von Recht, Freiheit und Demokratie unvereinbar sind.“ Diese unsere Haltung gilt unverändert!

(Beifall CPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen)

Der guten Ordnung halber muss ich noch etwas zum Änderungsantrag der Gruppe ALFA sagen. Er hat mich überrascht. Ich war erstaunt, als ich gelesen habe, dass Sie Ihre eingebildeten Diskriminierungen mit den tatsächlich schwersten Menschenrechtsver letzungen auf dieser Welt gleichzusetzen wagen.

(Beifall SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LIN KE – Zuruf des Abg. Leidreiter [ALFA])

Sie haben jedes Maß verloren. Sehen Sie nicht, wie die Ausübung von elementaren Menschenrechten in vielen Teilen der Welt immer noch mit Sanktion bedroht ist? In Ihrem Änderungsantrag wird eine Dis kriminierung unterstellt, die wir in Bremen gar nicht kennen. Nur weil viele Menschen in der Stadt, das sind die meisten auch von uns, eine andere Meinung haben als Sie und Ihre Positionen zum Teil für abstrus halten, werden Sie von diesen Menschen noch lange nicht diskriminiert!

(Beifall SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE)

Diese Opferrolle, in der Sie sich selbst gern sehen möchten, steht Ihnen angesichts dieser Debatte über haupt nicht zu. – Vielen Dank!

(Beifall SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE)

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Schäfer.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist richtig, dass wir uns immer wieder für die Wahrung der Menschenrechte einsetzen. In der Tat werden ihre Verletzungen welt weit immer erschreckender, je weiter die Zeit voran schreitet, ob das die Todesstrafe in Saudi-Arabien, China oder den USA ist, immerhin einem Land, das für sich in Anspruch nimmt, zivilisiert zu sein.

Wir müssen gar nicht so weit gehen, dass wir uns zu Recht über die furchtbarsten Verletzungen der

Menschenrechte wie Todesstrafe oder Folter – Stich wort Guantanamo – entsetzen, denn wir sehen die Menschenrechte auf vielerlei Weise bedroht, wenn wir zum Beispiel in die Türkei schauen, ein Land, das einerseits Beitrittsverhandlungen mit der EU führt und andererseits darüber nachdenkt, die Todesstrafe erneut einzuführen, aber auch, eine Stufe darunter, die Meinungsfreiheit einschränkt, indem es Journa listen ins Gefängnis wirft oder, wie jetzt geschehen, gewählte Parlamentarier offensichtlich ohne guten Grund verhaftet. Das sind Menschenrechtsverletzun gen, gegen die wir uns gemeinsam wenden müssen.

Wir hatten gestern eine gemeinsame, sehr bewe gende Veranstaltung zum Gedenken an die Reichs pogromnacht. Auf der Veranstaltung hat ein Redner gesagt, dass man sich immer fragen muss, wie es so weit kommen kann und an welcher Stelle man die Anfänge hätte sehen können. Wir denken, dass es darauf ankommt, den Anfängen zu wehren.

Entschuldigen Sie bitte, in der Tat sind in unserer Gesellschaft Diskriminierung und Diskreditierung ein Thema. Ich zitiere jetzt etwas, das die Kanzlerin gestern – vielleicht etwas überheblich – dem neuge wählten amerikanischen Präsidenten ins Lastenheft geschrieben hat. Sie hat Artikel 21 Absatz 1 – Nicht diskriminierung – der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zitiert:

„Diskriminierungen, insbesondere wegen des Ge schlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschau ung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.“

(Abg. Senkal [SPD]: Recht hat sie!)

In der Liste verbotener Diskriminierungen steht nun einmal auch jene wegen politischer oder sonstiger Anschauungen. Meine Damen und Herren, eine solche findet bei uns statt.

(Abg. Dr. Güldner [Bündnis 90/Die Grünen]: Nicht die Meinung zu teilen, das ist noch lange keine Dis kriminierung! – Abg. Janßen [DIE LINKE]: Weil sie diesen Werten entgegensteht!)

Sie findet statt, wenn die Fraktion der AfD in Olden burg nicht an einer Gedenkveranstaltung teilneh men darf, wenn wir bei der Gedenkveranstaltung zur 70-Jahr-Feier ausgegrenzt und von einer Partei, deren Wurzeln in der SED-Diktatur liegen, diskre ditiert werden und uns in rufmordähnlicher Weise nachgesagt wird, wir stünden nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Ich sage das nicht, weil ich mich in eine Opferrolle begeben will. Ich fühle mich nicht als Opfer. Ich mache das ganz locker mit, ich stecke das weg, auch unsere Partei steckt das weg.

(Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen]: Locker nicht! Wirklich nicht!)

Es ist auch gar nicht so wichtig. Aber das, was hier passiert – und darüber müssen Sie sich im Klaren sein –, dass nämlich auf anderen Ebenen, in den Medien, Gewalt gerechtfertigt wird, wenn sie sich gegen vermeintlich rechte Parteien oder Patrioten richtet, dass sich die Bürgerschaft weigert, aufzustehen und zum Beispiel dagegen zu protestieren, wenn gegen einen gewählten Bürgerschaftsabgeordneten Gewalt angewendet wird, dass Andersdenkende in den Me dien diskreditiert werden und dass die vermeintliche Elite eine Art Meinungskartell aufbaut,

(Widerspruch SPD)

führt zu einer Spaltung der Gesellschaft und zu etwas, das am Ende nicht gut für uns alle ist. Wenn Sie sich die Erfahrung ersparen wollen, die die Briten beim Referendum und die Amerikaner in der Präsiden tenwahl gemacht haben, dann müssen Sie lernen, mit politisch Andersdenkenden zu diskutieren. Sie müssen damit aufhören, sie mundtot zu machen.

(Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen]: Keiner wird hier mundtot gemacht! Deswegen dürfen Sie auch hier stehen und reden, Herr Schäfer! Das hat mit Mundtotmachen nichts zu tun!)

Wenn Sie das nicht schaffen, geht das nicht gut aus.

Wir möchten gern, dass wir uns zum Gedanken des „Wehret den Anfängen!“ bekennen und dafür ein stehen, in diesem ganzen Spektrum, in dem wir hier sitzen. Wir repräsentieren nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Wähler. Dass wir uns nicht diskreditie ren, sondern einen vernünftigen, demokratischen Diskurs miteinander pflegen, ist aus meiner Sicht eine Selbstverständlichkeit. Ich nehme erstaunt zur Kenntnis, dass Sie das offensichtlich anders sehen. – Vielen Dank!

(Beifall ALFA)

Als Nächste hat das Wort die Abgeordnete Leonidakis.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Schäfer, ich bin fas sungslos, wie Sie sich in eine Reihe mit denjenigen stellen, die in Deutschland und an anderen Orten wirklicher Diskriminierung ausgesetzt sind.

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Wenn Sie irgendwo ausgeschlossen werden, müssten Sie sich fragen, was Sie damit zu tun haben. Die Par tei, aus der Sie hervorgegangen sind, ist die Partei,

die Hand in Hand mit Pegida geht, die sich an den Demonstrationen in Dresden beteiligt.

(Abg. Leidreiter [ALFA]: Mit denen haben wir nichts zu tun!)

Wir haben gestern von einem Abgeordneten der AfD in Baden-Württemberg gehört, der sich offen rechts radikal positioniert. Sie müssten sich fragen, was Sie damit zu tun haben und wer hier wen diskriminiert.

(Beifall DIE LINKE – Abg. Schäfer [ALFA]: Wollen Sie uns hier den Mund verbieten oder was? Wir sind doch nicht in der DDR!)

Sie relativieren damit das Leid und die Erfahrung von vielen in Deutschland, und zwar der über 1 000 Opfer der Brandanschläge auf Asylunterkünfte im letzten Jahr. Sie relativieren die extremen Menschen rechtsverletzungen weltweit, wenn Sie sich damit in eine Reihe stellen.

(Beifall DIE LINKE – Abg. Leidreiter [ALFA]: Nichts verstanden und nichts gelernt!)

Jetzt aber zum Inhalt der Anträge, die wir heute verhandeln! Nach den grausamen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs wurden mit der UN-Menschen rechtskonvention, dem UN-Sozialpakt und der Genfer Flüchtlingskonvention Grundlagen geschaffen, die heute leider alles andere als belanglos sind. Men schenrechtsverletzungen, Verfolgung, Vertreibung, Todesstrafe, Hunger und Ausbeutung gehören immer noch in vielen Teilen der Welt zum bitteren Alltag. Diktatorische Regimes, die töten, foltern, verschwin den lassen oder unterdrücken, findet man auf fast jedem Kontinent.

Vor unserer Haustür finden quasi Kriege statt, in de nen grundlegende Menschenrechte verletzt werden. Syrien ist ein Inferno, Kollegin Grotheer hat schon darauf hingewiesen. In Afghanistan, der Ostukraine oder dem Sudan herrscht Krieg. In Shingal beging Daish einen Völkermord an Jesiden und verschleppte 5 000 Frauen, von denen immer noch viele in grau samster Gefangenschaft leben. Im Kongo setzen Mi lizen systematische Vergewaltigung als Kriegsmittel ein, um sich die vom Westen so begehrten Rohstoffe zu sichern. In Nigeria, mit dem die EU aktuell eine sogenannte Migrationspartnerschaft verhandelt, wütet Boko Haram, tötet und versklavt Mädchen wie die über 200 in Chibok.

Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, warum weltweit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nie so viele Menschen auf der Flucht waren wie heute. Wir können nicht immer etwas gegen die Konflikte tun, wir haben jedoch mehr mit der weltweiten Ver treibung zu tun, als viele annehmen. Existenzlosig keit, Ausbeutung und Hunger haben häufig etwas mit Postkolonialismus, Nahrungsmittelspekulation

oder Landraub europäischer Konzerne zu tun. In je dem Krieg wird mit Waffen aus Deutschland getötet, teilweise sogar auf beiden Seiten der Kriegsparteien.

Ich finde es deshalb gut, dass wir am heutigen Tag gegen die Todesstrafe einen Antrag zu Menschen rechten diskutieren, den wir gemeinsam eingereicht haben. Wir sind uns darin einig, jede Verletzung von Grund- und Menschenrechten zu verurteilen.

Jetzt kommt das Aber! Offensichtlich hat das für die Mehrheit der Fraktionen, die diesen Antrag unter zeichnet haben, wenig Konsequenzen. Aktuell sind wir gefragt, die Verurteilung von Menschenrechts verletzungen, die in der Türkei direkt vor unseren Augen und in direkter Nachbarschaft geschehen, in konkretes Handeln zu gießen. Am vergangenen Freitag wurden 12 HDP-Abgeordnete, darunter die beiden Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, festgenommen. Gegen neun von ihnen ist mittlerweile Anklage erhoben worden.

Gestern hat Erdoğan alle CHP-Abgeordneten an gezeigt, weil sie ihn als Gefahr für die Demokratie bezeichneten. Schon seit dem letzten Jahr wurden Hunderte gewählte Bürgermeister suspendiert und durch AKP-treue ersetzt. Wer so offen die Demo kratie beseitigt, der ist nicht nur eine Gefahr für die Demokratie, sondern längst dabei, sie abzuschaffen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Wir hätten uns gewünscht, dass dieses Haus seine Solidarität nicht nur mit den verhafteten Journalistin nen und Journalisten, sondern auch mit den Abge ordneten erklärt, die kollektiv aus dem Weg geräumt werden. Die Hamburgische Bürgerschaft hat genau das gestern getan. Sie hat fraktionsübergreifend in einer Resolution die türkische Regierung aufgerufen, „alle Inhaftierten zu entlassen, den Ausnahmezustand aufzuheben, die Menschenrechte und vor allem die Meinungsfreiheit zu beachten und zu respektieren.“

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP)

Ich finde es bedauerlich, dass sich dieses Haus, mit Ausnahme der Abgeordneten der FDP, nicht zu dieser deutlichen Aussage hinreißen ließ. Wir haben seit Montag versucht, eine ähnlich klare Positionierung in Bremen zu vereinbaren. Im Gegensatz zu Ham burg war es leider nicht möglich, die Freilassung aller Inhaftierten, inklusive der Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten, zu fordern. Ich glaube, das wäre angemessen gewesen.

Falls der Grund ist, dass es „nur“ linke Abgeordnete seien, lassen Sie sich gesagt sein: Die CHP hat sich lange Zeit in Sicherheit gewähnt, solange sie bei Demos und Immunitätsaufhebungen an Erdoğans Seite stand. Sie hat viel zu lange nicht begriffen, dass sie die Nächste sein könnte. Auch wenn ich dies ausdrücklich niemandem wünsche, hoffe ich,

dass die Erkenntnis des Möglichen bei der CHP, aber auch hier im Parlament langsam reift. Es geht hier um eine Willkürherrschaft und nichts anderes.