Protocol of the Session on June 26, 2002

Ich eröffne die Aussprache. Die Redezeit beträgt 15 Minuten pro Fraktion. Herr Kollege Dr. Hahnzog hat sich zu Wort gemeldet. Bitte, Herr Kollege Dr. Hahnzog.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bayern hat die meisten und gute Erfahrungen mit der unmittelbaren Demokratie in ganz Deutschland. Es hat sich allmählich auch in Kreisen der CSU herumgesprochen, dass es bedenkenswert wäre, auch auf Bundesebene Volksbegehren und Volksentscheid einzuführen. So fordert beispielsweise unser Innenminister Beckstein bundesweite Plebiszite. Da die Auffassungen in der CSU aber noch sehr gemischt sind und diese Fragen weiter diskutiert werden, möchte ich gleich ankündigen, dass die SPD-Fraktion namentliche Abstimmung beantragt.

Wir möchten wissen, wie die Landtagsfraktion der CSU dazu steht, wie die Position des Innenministers innerhalb der Landtagsfraktion ist und wo Herr Stoiber steht, der auch gewisse Sympathien für Volksentscheide, jedenfalls auf europäischer Ebene, erkennen lässt. Wir können einen Bürgerentscheid in Kiefersfelden oder einen Volksentscheid auch in ganz Bayern durchführen. Herr Stoiber will auch einen Volksentscheid auf europäischer Ebene. Dazwischen fehlt noch eine Ebene – die des Bundes. Daher möchten wir Klarheit haben.

(Dr. Bernhard (CSU): Die bekommen Sie!)

Das wird spannend. Die CSU hat in Berlin einen konkreten Gesetzesvorschlag abgelehnt. Das ist nicht das Ende der Fahnenstange, Herr Bernhard. Die Diskussion wird weitergehen, und in der nächsten Legislaturperiode wird sie wieder an Aktualität gewinnen und von vielen Menschen in diesem Land geführt werden. Ich prophezeie, dass die bisherige Koalitionsregierung am 22. September wieder eine Mehrheit findet und dann die Neigung der CSU, das Instrument des Volksentscheids einzuführen, etwas anwachsen wird. Das werden wir dann sehen, und deshalb wollen wir jetzt klare Verhältnisse schaffen.

Der Berliner Gesetzentwurf sah sehr faire Bedingungen vor. Der Volksentscheid war als ergänzendes Instrument der grundlegend repräsentativen Demokratie gedacht. So war beispielsweise ein Beteiligungsquorum – nicht aber ein Zustimmungsquorum – von 20% für einfache Gesetze, von 40% für Verfassungsänderungen vorgese

hen. Diese Hürden kann man bei Interesse und Aktualität überwinden, andererseits ist auch keine Inflation des Gebrauchs von Instrumenten der unmittelbaren Demokratie zu befürchten.

Ich möchte kurz darstellen, was uns die direkte Demokratie im Freistaat Bayern gebracht hat. Wilhelm Hoegner hat sie 1946 als kennzeichnendes Moment in die Bayerische Verfassung eingebracht. Dies geschah aufgrund seiner Erfahrungen in der Schweiz. Wir hätten wahrscheinlich sonst heute noch die Bekenntnisschule und keine christliche Gemeinschaftsschule, wir hätten heute noch nicht den Umweltschutz in der Bayerischen Verfassung verankert, und wir hätten kein öffentlichrechtliches Rundfunksystem, sondern wahrscheinlich hätte Herr Kirch den Bayerischen Rundfunk inzwischen übernommen. Alles das waren Ergebnisse unmittelbarer Demokratie. Nachdem sich die CSU lange verweigert hat, hat sie erkannt, dass das auf kommunaler Ebene gut ist. Herr Bernhard, Sie haben einen der ersten großen Bürgerentscheide in Bayern wegen des mittleren Rings in München initiiert.

(Dr. Bernhard (CSU): Das war stark, nicht wahr?)

Also auch Sie sehen das als ein sinnvolles Mittel an. Deshalb sollten wir den Volksentscheid und das Volksbegehren auch auf Bundesebene einführen. Dies wäre ein Fortschritt.

1992/93 gab es in der gemeinsamen Verfassungskommission eine einfache Mehrheit für den Volksentscheid und das Volksbegehren auf Bundesebene. Diese Instrumente unmittelbarer Demokratie wurden vor allem auch von den neuen Bundesländern gefordert. Auch daran sollten Sie sich erinnern, wenn Ihr Kanzlerkandidat heute im Osten herumfährt. Das war ein zentrales Anliegen der Menschen, die seinerzeit auf die Straße gegangen sind und mit ihrem persönlichen Einsatz und dem Slogan „Wir sind das Volk“ maßgeblich die Wende herbeigeführt haben. Jetzt sollen sie bei einfachen Gesetzen kein Mitspracherecht haben.

Diese Diskussion wird in Zukunft an Aktualität gewinnen. Deswegen bitte ich, unserem Antrag zuzustimmen, der nicht auf einen konkreten Gesetzentwurf hinweist, sondern auf die allgemeine aktuelle Diskussion, Überlegungen zu unterstützen, die parlamentarisch-repräsentative Demokratie auch auf Bundesebene durch Elemente unmittelbarer Demokratie zu ergänzen. Dies wäre für viele Menschen in ganz Deutschland ein wesentlicher Fortschritt. Da es auf den Bundesrat auch in Zukunft ankommen wird, sollten Sie von der CSU sich diesem Anliegen nicht länger verschließen.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt hat Herr Kollege Dr. Merkl das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung, Herr Dr. Hahnzog. Auch wir sprechen uns für den Volks

entscheid auf kommunaler Ebene und Landesebene aus. Beim Volksentscheid auf Bundesebene stellt sich die Lage etwas schwieriger dar. Man kann nicht damit argumentieren, dass das von Herrn Dr. Bernhard initiierte Volksbegehren über den mittleren Ring erfolgreich war. Da ist ein Unterschied zu einer finanzwirksamen Entscheidung auf Bundesebene.

Sie haben Ihren Antrag recht allgemein formuliert, aber im Endergebnis läuft er doch darauf hinaus, dass wir dem von der Koalition beschlossenen Gesetzentwurf zustimmen sollen.

(Dr. Hahnzog (SPD): Nein, der spricht von 2001, der ist schon sehr alt!)

Der Gesetzentwurf, der am 7. Juni im Bundestag verabschiedet wurde, wurde von CDU/CSU abgelehnt. Auch die CSU-Fraktion will eine solche Zustimmung nicht empfehlen, und zwar im Wesentlichen aus folgenden fünf Gründen:

Erstens. Die repräsentative parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes wird der Komplexität der auf Bundesebene zu regelnden Materien am besten gerecht. Komplexe Sachverhalte lassen sich nicht auf ein bloßes Ja-oder-Nein-Raster reduzieren. Es bestünde die Gefahr der Stimmungsdemokratie.

Ich füge ein: Dieser Tage hat mir ein Vertriebener, der seit 30 Jahren bei der CSU ist, erklärt, wenn wir dem nicht zustimmen würden, würde er vielleicht aus der CSU austreten, weil er der Meinung sei, dass die Abtrennung der polnischen Gebiete nicht erfolgt wäre, wenn es einen Volksentscheid auf Bundesebene gegeben hätte. Im Anschluss daran sage ich: Es bestünde die Gefahr der Stimmungsdemokratie.

Zweitens. Ein für unser gesamtes Gemeinwesen derart bedeutsamer Gesetzentwurf hätte einer ausführlichen Diskussion und Beratung bedurft. Demgegenüber hat Rot-Grün den Gesetzentwurf im Schnelldurchgang durch das Gesetzgebungsverfahren getrieben, und damit entlarvt sich die Aktion selbst als Wahlkampfthema; denn sonst hätte man nicht versucht, diesen Gesetzentwurf jetzt noch schnell durchzubringen.

Drittens. Der Gesetzentwurf beschädigt unser föderales System und begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, da er die Länder fortan bei verfassungsändernden Gesetzen und solchen, die im parlamentarischen Verfahren der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, von der Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren über den Bundesrat ausschließt. Dies halte ich persönlich für eine ganz schlechte Ausarbeitung dieses Gesetzes.

Viertens. Es besteht die Gefahr einer Minderheitendemokratie. Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Quoren – Herr Dr. Hahnzog, Sie haben sie positiv gesehen –, Beteiligungsquoren von 20% bei einfachen Gesetzen und von 40% bei verfassungsändernden Gesetzen, sind aus unserer Sicht viel zu niedrig. Es kann doch wohl nicht sein, dass ein Gesetz geändert wird, wenn sich 20% beteiligen.

Fünftens. Der Katalog der Regelungsgegenstände, die einer Volksinitiative und später einem Volksentscheid zugänglich bzw. nicht zugänglich sein sollen, ist unausgereift. Es sind zwar Punkte angeführt, bei denen ein solcher Volksentscheid nicht durchgeführt werden kann, aber auf der anderen Seite ist bedenklich, wenn man sagt, finanzwirksame Entscheidungen seien nicht ausgeschlossen. Wir glauben also, dass man über diesen Katalog sehr wohl ausführlich diskutieren muss.

Fazit: Volksentscheid auf Bundesebene ist sehr wohl ein diskussionswürdiges Thema, und die Diskussion kann sehr wohl in ein Gesetz münden, aber nicht so. Die ausschlaggebenden Punkte habe ich genannt. Daher werden wir diesen Antrag ablehnen.

(Beifall bei der CSU)

Jetzt hat Frau Kollegin Stahl das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon bedauerlich, dass man dieses Thema nur dadurch in das Bewusstsein des Plenums holen kann, indem man auf die disziplinarische Keule der namentlichen Abstimmung zurückgreift; denn tatsächlich ist Bürgerbeteiligung immer ein Nischenthema, mit dem die Fachausschüsse beschäftigt sind, statt dass wir uns hier einmal ganz dezidiert Gedanken dazu machen, wie eine Regelung aussehen könnte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe den Eindruck, dass die CSU überall dort, wo die Gefahr besteht, dass Menschen selbstständig denken und handeln, misstrauisch wird, etwa wenn es um die Selbstständigkeit der Schulen geht. Das haben wir in der Diskussion zum Thema „Mehr Demokratie in der Schule“ erlebt. Überall dort, wo sich Menschen staatlicher Kontrolle entziehen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen, wird zusätzlich reglementiert. Das hat gerade die Diskussion um die Quote bei Bürgerbegehren gezeigt. Ich will jetzt nicht noch einmal auf diese Inhalte eingehen. Dazu ist die Zeit zu kurz. Herr Merkl, Sie wissen ganz genau: Wir werden angesichts der herrschenden Politikverdrossenheit unter Umständen schon froh sein können, wenn wir überhaupt bestimmte Quoren erreichen.

Es ist für uns durchaus nachvollziehbar, dass man 1949 den Deutschen und ihrem Demokratieverständnis nicht so recht getraut und deshalb gewisse Regelungen im Bundesgesetz, in der Verfassung nicht eingeführt hat. Aber wir befinden uns jetzt im 53. Jahr danach, und es wird langsam Zeit, dass wir uns überlegen, wie wir eine Bürgerbeteiligung ausgestalten wollen. Natürlich hatten wir etwas andere Vorstellungen als die CSU, wie sie Herr Merkl soeben dargestellt hat. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass Sie keine Angst mehr vor den Bürgern und Bürgerinnen haben müssen. Sie müssen keine Angst mehr vor Bürgerbeteiligung haben, denn wir haben gerade auf der kommunalen Ebene, auf der Landesebene erlebt, dass damit kein Missbrauch getrieben

wird, sondern dass sehr sorgfältig mit diesem Instrument umgegangen wird. Das belegen auch die vielen erfolgreichen Bürgerentscheide.

Es wird einfach Zeit, dass wir den Empfehlungen und den Vorstellungen des Parlamentarischen Rates – das ist alles nachzulesen in den Protokollen von damals – endlich Taten folgen lassen. Uns als nachfolgender Generation wurde nämlich ein Auftrag erteilt, und zwar sollten wir den Begriff „Abstimmungen“ mit Inhalt füllen. Genau das versuchen wir jetzt.

Die Wiedervereinigung wäre ein sehr guter Anlass gewesen, eine gemeinsame Verfassungsdiskussion zu führen. Es wäre angebracht gewesen, unser Verfassungssystem nicht einfach dem Osten überzustülpen, sondern alle in einer Grundgesetzdiskussion zusammenzuführen, sodass wir heute eine gemeinsame Verfassung tragen könnten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Frau Abgeordneten Werner-Muggendorfer (SPD))

Aber das hat die Kohl-Regierung leider gescheut.

Als Kandidat, der weiß, dass auch drei Viertel der CDU/ CSU-Wähler und -Wählerinnen Volksabstimmungen auf Bundesebene wünschen, wollte Herr Stoiber ursprünglich dieses Anliegen unterstützen. Leider ist er während des Wahlkampfes so selten im Haus, dass ihm die ganzen Diskussionen im Ausschuss und auch hier im Landtag entgehen. Sonst könnte er nämlich feststellen, dass diese Unterstützung wiederum wenig Unterstützung von seinen Kollegen hier erfährt.

(Hofmann (CSU): Wir erzählen dem alles!)

Ich war schon ziemlich erstaunt über das – ich muss es so flapsig nennen – „Geeiere“ der CSU-Kollegen angesichts des SPD-Antrages im Rechts- und Verfassungsausschuss. Dieses „Wir wollen schon, aber...“ zog sich durch die gesamte Diskussion.

Es gab, wie schon angesprochen, mittlerweile eine rotgrüne Gesetzesinitiative zur Bürgerbeteiligung, die Sie nicht mittragen wollten. Der Gesetzentwurf war ausgewogen und vernünftig und hätte in keiner Weise zur Entmachtung des Parlaments beigetragen. Im Gegenteil, Bürgerbeteiligung führt unserer Ansicht nach zur Identifikation mit unserer Verfassung und damit mit unserer Wertehaltung und mit unserer Gesellschaft. Sie führt zu einem verantwortungsvollen Umgang mit gesellschaftspolitischen Entscheidungen.

(Zuruf des Abgeordneten Willi Müller (CSU))

Auf Ihren Zuruf hin: Wir können diese Entscheidungen dann auch akzeptieren. Damit hatten wir bisher noch nie Probleme.

Das zu erreichen muss doch eigentlich auch Ihr Ziel sein. Diese Identifikation gegen Partei- und Politikverdrossenheit müssen doch auch Sie erreichen wollen. Deswegen verstehe ich Ihre ablehnende Dauerhaltung gegen Plebiszite nicht. Wie Herr Merkl richtig gesagt hat,

gibt es ja diese Plebiszite in der Bayerischen Verfassung. Ich kann das nur auch darauf zurückführen, dass die Senatsentscheidung bei Ihnen einen so tiefgreifenden Schock ausgelöst hat, dass Sie sagen: In Zukunft sind wir etwas vorsichtiger.

Auch die Enquete-Kommission zur Zukunft des bürgerlichen Engagements auf Bundesebene hat die Einführung direktdemokratischer Verfahren, zum Beispiel Volksbegehren und -entscheid gefordert. Dieser Kommissionsbericht wurde auf der Bundesebene einstimmig – also auch mit Ihren Stimmen – verabschiedet. Ich frage mich: Wenn Sie auf der Bundesebene den Erkenntnisgewinn zu solchen Instrumenten hatten, wo bleiben dann die Konsequenzen? Ich verlange ja gar nicht, dass Sie unbedingt einem rot-grünen Gesetzentwurf zustimmen. Aber dann müssen Sie eine Alternative bieten. Die vermisse ich. Es gibt von Ihnen hinsichtlich dieser Kommissionsempfehlung oder hinsichtlich Ihres „Ja, aber“ keine Alternative. Sie haben ja leider bis heute noch nichts vorgelegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie das tun, können wir auch darüber diskutieren.

Mich treibt – das möchte ich nicht verhehlen – beim SPD-Antrag eine kleine Sorge um. Weil Sie von „Instrumenten“ sprechen, habe ich ein klein wenig Angst, dass die CSU Ihre Forderung missverstehen könnte. Es ist ja nicht so, dass die CSU plebiszitäre Elemente nicht will – das will ich gar nicht in Abrede stellen; das haben wir bei der Postkartenaktion zum Staatsbürgerschaftsrecht gesehen –, und ich bin mir nicht sicher, ob die CSU eben den SPD-Antrag in diese Richtung interpretieren könnte.

Wir sagen ganz deutlich: klare Vorgaben, klare Verfahren für das, was zur Entscheidung ansteht. Auf dieser Ebene können wir uns zukünftig treffen. Wir werden uns aber, weil vieles tatsächlich noch notwendig ist, dem SPD-Antrag anschließen. – Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)