Protocol of the Session on April 18, 2002

Ich möchte Sie noch auf eines aufmerksam machen. Die Sozialhilfedichte ist in Bayern im Vergleich zu allen anderen Bundesländern am niedrigsten. Sie wissen das ganz genau. Was wir brauchen, um Armut, auch Kinderarmut, zu beheben, ist erstens eine gute und vernünftige Familienpolitik, die aus vielen Facetten besteht, zweitens natürlich eine gute Bildungspolitik und drittens eine gute Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und eine Entriegelung des Arbeitsmarktes, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.

(Frau Steiger (SPD): Was ist eine Entriegelung des Arbeitsmarkts?)

Das sind die wichtigen Maßnahmen, die tatsächlich helfen, um Armut und insbesondere Familienarmut zu senken. Auch das will ich ganz klar sagen.

Das ist für jeden Einzelnen, der Sozialhilfe bezieht, schwierig. Das Risiko, sozialhilfebedürftig zu werden, nimmt in Deutschland proportional zu der Kinderzahl zu, die im Haushalt leben.

In zwei Haushaltstypen liegt die Sozialhilfequote signifikant über der durchschnittlichen Sozialhilfequote. Die durchschnittliche Sozialhilfequote beträgt 3,5% in Deutschland, in Bayern liegt sie darunter. Bei Mehrkinderfamilien liegt die Quote bei 5,4%. Die Alleinerziehenden machen mit 23,1% fast ein Viertel aller Haushalte aus, die Sozialhilfe beziehen.

Zu den auslösenden Faktoren zählen häufig Erwerbslosigkeit oder besondere Lebensereignisse, vor allem Trennung und Scheidung. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir die Familienkompetenz stärken. Frau Kollegin Schopper, in dieser Beziehung gebe ich Ihnen Recht. Wir müssen uns insbesondere den Bereich der Kindergärten anschauen, wo man Zugang zu 98% aller Eltern hat. Dort könnte man den Eltern sehr gut Erziehungsund Familienkompetenzen vermitteln.

Die Bundesregierung hat sich eines Armuts- und Reichtumsberichtes gerühmt, der diese Erkenntnisse insgesamt bestätigt, allerdings nicht ohne daraus mit Hinweis auf die Schuld der Vorgängerregierung möglichst viel politisches Kapital zu schlagen. Man fragt sich natürlich,

welche Konsequenzen die Bundesregierung daraus zieht. Die Gelegenheit hat sich relativ schnell ergeben. Der Armuts- und Reichtumsbericht datiert vom Mai 2001. Im Herbst 2001 wurde das Zweite Familienförderungsgesetz eingebracht, das wir mit Spannung verfolgt haben. Wenn ich höre, dass die GRÜNEN eine Kindergrundsicherung fordern, dann frage ich mich, von wem sie das fordern. Sitzen die GRÜNEN denn nicht in der Bundesregierung?

(Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nur kein Neid!)

Hätten Sie nicht dreieinhalb Jahre Zeit gehabt, diese Forderung zu verwirklichen? Im Familienförderungsgesetz steht von der Kindergrundsicherung auf jeden Fall nichts.

Mit der Kindergrundsicherung werden Sie die Kinder nicht aus der Sozialhilfe befreien können, denn Sie müssten wesentlich höhere Beträge ansetzen. Der Bedarf liegt wesentlich höher, nämlich bei den Alleinerziehenden in etwa bei 459 Euro, bei Elternpaaren mit Kind bei 261 Euro bis maximal 461 Euro. Diese Summen müssten Sie fordern und in den Haushalt einstellen, wenn Sie tatsächlich Kinder aus der Sozialhilfe befreien wollen.

(Frau Schopper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sind nicht so vermessen, sondern machen einen Gegenfinanzierungsvorschlag!)

Das wäre ein effektiver Vorschlag, der tatsächlich etwas bei der Kinderarmut bewegen würde. Man sollte ehrlich sein und darauf hinweisen, was mit Ihren Forderungen tatsächlich in Bewegung gesetzt wird.

Das Finanzierungstableau des Familienförderungsgesetzes ist ausgesprochen mager. Die Familie hat Priorität, und dieser Gedanke steht wohl bei der Bundesregierung bei der Gegenfinanzierung der finanziellen Leistungen im Vordergrund. Denn die 7,5 Milliarden DM sind zu annähernd 40% durch Streichung von familienbezogenen Leistungen finanziert worden. Bei der Erhöhung des Kindergelds hat mit Sicherheit die Richtung gestimmt, das Ziel einer deutlichen Entlastung der Familien wird dennoch komplett verfehlt. Für eine Vielzahl der Familienhaushalte wird die Erhöhung des Kindergeldes allein durch die Belastung – jetzt werden Sie wieder aufschreien – über die Ökosteuer aufgezehrt.

Eine Konsequenz der besonderen Art zeigt die Bundesregierung allerdings bei den Mehrkinderfamilien und den Alleinerziehenden. Das sind genau die Problemgruppen, die den höchsten prozentualen Anteil der Sozialhilfeempfänger stellen. Die besonderen Belange dieser Familien bleiben zum Teil unberücksichtigt, zum Teil werden sie in einer ganz besonderen Art und Weise zur Gegenfinanzierung der familienpolitischen Leistungen herangezogen. Gerade Eltern mit mehreren Kindern haben naturgemäß höhere Aufwendungen. Die höhere Zahl der Kinder führt in der Regel dazu, dass die Mütter weniger erwerbstätig sind. Dementsprechend ist auch der Anteil von Haushalten mit unterdurchschnittlichen Einkommen bei kinderreichen Familien signifikant höher.

Höhere Freibeträge für das dritte oder vierte Kind können deshalb gerade bei einkommensschwachen Familien überhaupt keine Wirkung zeigen. Daher wäre die vom Bundesrat geforderte Erhöhung des Kindergeldes, insbesondere für das dritte und vierte Kind, familienpolitisch zwingend notwendig gewesen. Denn die Mehrkinderfamilien mit mehr als drei Kindern hat man bei der Kindergelderhöhung völlig außer Acht gelassen.

(Zuruf des Abgeordneten Mehrlich (SPD))

Das Unterlassen der Bundesregierung treibt diese Haushalte noch mehr in die Enge und oft in die Sozialhilfe. In eine ganz ähnliche Situation hat die Bundesregierung mit dem Familienförderungsgesetz die Alleinerziehenden gedrängt. Die Abschmelzung bzw. die Streichung des Haushaltsfreibetrags bis 2005 verschlechtert die Einkommenssituation der Alleinerziehenden ganz erheblich.

Alleinerziehende können zukünftig noch weniger von der Freibetragswirkung profitieren, weil der neue Gesamtfreibetrag für die Erziehung, Betreuung und Ausbildung jetzt mit dem Kindergeld verrechnet wird. Dadurch können gerade Alleinerziehende diesen Freibetrag nicht nutzen, da dieser erst ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 33200 e zum Tragen kommt. Bisher wurde sowohl beim Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende als auch beim Ausbildungsfreibetrag auf eine Verrechnung mit dem Kindergeld verzichtet. Damit hat die Bundesregierung das Familienförderungsgesetz finanziert – zugunsten von Freibeträgen für die oberen Einkommensgruppen. Das halte ich schlicht und einfach gerade angesichts der Situation der Alleinerziehenden und der kinderreichen Familien für eine Schande.

Mehr als die Hälfte aller Kinder unter 18 Jahren, die sozialhilfebedürftig sind, wächst bundesweit in Haushalten von Alleinerziehenden auf. Weshalb die Bundesregierung trotz solcher Erkenntnisse die erste sich bietende gesetzgeberische Chance dazu nutzt, nicht eine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung der Situation der Alleinerziehenden herbeizuführen, ist mir persönlich ein Rätsel. Der ständige Hinweis auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil ist für mich eine faule Ausrede. So konnte und brauchte man das Bundesverfassungsgerichtsurteil keineswegs auslegen. Den GRÜNEN muss man als Koalitionspartner zumindest zugute halten, dass sie irgendwann im Lauf der Zeit ein schlechtes Gewissen bekommen und gefordert haben, diese Regelung für die Alleinerziehenden zurückzunehmen.

(Kobler (CSU): Der Denkprozess hat eingesetzt!)

Bis heute ist aber noch nichts passiert.

Insgesamt machen die Mängel der Freibetragslösung der Bundesregierung deutlich, dass wir dringend eine grundlegende Neuordnung des Familienleistungsausgleichs brauchen. Wir, die Bayerische Staatsregierung und der bayerische Ministerpräsident, haben hieraus die Konsequenzen gezogen und ein Familienkonzept entworfen mit einem Familiengeld, das die finanzielle Situation unserer Familien nachhaltig verbessern soll und sie auf eine solide, berechenbare Basis stellt.

Frau Staatsministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein, ich möchte zum Ende kommen.

(Wahnschaffe (SPD): Sagen Sie doch etwas über Bayern! Wir sind doch heute nicht im Bundesrat!)

Zum Familiengeld möchte ich ganz klar sagen: Die Sozialhilfequote bei den Familien mit Kindern unter drei Jahren ist am höchsten. Sie liegt bei 9,6%. Deswegen ist es so wichtig, mit dem Familiengeld gerade bei Kindern ab dem Zeitpunkt der Geburt anzufangen.

(Wahnschaffe (SPD): Sie sind doch Landesfamilienministerin, was tun Sie denn in Bayern?)

Familien hätten damit eine verlässliche Grundlage für ihre Lebensplanung. – Was wir in Bayern tun? Das ist das Gesamtkonzept für die Kinderbetreuung. Herr Kollege Wahnschaffe, darauf können Sie warten.

(Zahlreiche Zurufe von der SPD – Frau Werner- Muggendorfer (SPD): Darauf warten wir schon lange!)

Ab dem 01.01.2002 wurde das Gesamtkonzept für die Kinderbetreuung aufgelegt. Den Betrag von 313 Millionen e werden wir in den nächsten Jahren ausgeben, um zusätzliche 30000 Betreuungsplätze für die weniger als drei Jahre alten Kinder, um Hortplätze und um die Tagesbetreuung an den Schulen zu finanzieren. Damit kann sich Bayern im Vergleich mit anderen Bundesländern mit Sicherheit sehen lassen.

(Frau Radermacher (SPD): Sie wissen genau, dass das nicht stimmt! – Weitere Zurufe von der SPD)

Für mich ist es ganz wichtig, dass die Wahlfreiheit für die jungen Eltern keine Leerformel ist.

(Zuruf des Abgeordneten Wahnschaffe (SPD))

Wir müssen es den Eltern ermöglichen, dass sie sich frei und ohne Zwang zwischen Familie und Erwerbstätigkeit im jeweils gewünschten Verhältnis entscheiden können.

Dafür brauchen wir das Familiengeld und den Ausbau der Kinderbetreuung.

(Zahlreiche Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Unruhe – Glocke des Präsiden- ten)

Das ist für mich überhaupt keine Frage, und das wissen Sie auch ganz genau.

(Frau Werner-Muggendorfer (SPD): Für Sie, für uns ist das eine andere Frage!)

Es ist für mich überhaupt keine Frage, dass wir die Kinderbetreuung ausbauen müssen. Kollegin Schopper, es gäbe einiges zum ISKA-Modell zu sagen. Wenn ich tat

sächlich für die Kinderbetreuung Zeiten anbieten möchte und muss, die der Erwerbstätigkeit der Eltern gerecht werden, brauche ich Erneuerungen und muss ich verkrustete Strukturen im Kindergarten aufbrechen.

(Frau Steiger (SPD): Da kommen die Familien schon wieder in eine Falle!)

Sie setzen sich hier doch immer dafür ein, eine Kinderbetreuung vorzusehen, die der Erwerbstätigkeit junger Eltern gerecht wird. Wenn Sie das ernst meinen, müssen wir uns gemeinsam darum bemühen.

Wer wie die SPD Kinderbetreuung und Kindergeld gegeneinander ausspielt und wer, wie der Bundeskanzler, zeitlich befristete Verbesserungen gerade für Bereiche fordert, für die er keine Zuständigkeit besitzt, macht nach meiner Auffassung keine seriöse Familienpolitik, sondern verlegt sich lediglich auf das, was er am besten kann, nämlich auf Marketing.

(Beifall bei der CSU – Zahlreiche Zurufe von der SPD)

Nächste Rednerin ist Frau Kollegin Männle.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich noch einen etwas anderen Akzent in die Diskussion einbringen; denn ich habe den Eindruck, dass wir uns in der Diskussion im Kreise drehen. Die Situation der Kinder, die von Armut bedroht oder arm sind, wird hier in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt. Ich empfinde so wie alle hier die Zahlen, die uns dazu vorliegen, doch als recht bedrückend. 74000 Kinder beziehen Sozialhilfe. Lassen Sie mich da gleich einhaken. Ist denn Sozialhilfe mit Armut gleichzusetzen? Der Bundesgesetzgeber, der das Sozialhilfegesetz geschaffen hat, hat Sozialhilfe eingerichtet, um das Abgleiten in Armut zu verhindern.

(Zuruf der Frau Abgeordneten Werner-Muggendor- fer (SPD))

Sozialhilfe ist kein Almosen. Auf Sozialhilfe gibt es einen Rechtsanspruch, ganz unabhängig davon, aus welchen Gründen man in diese Situation gekommen ist. Aber ich glaube, dass es für jeden Menschen schwierig ist, in Sozialhilfe leben zu müssen. Auch unser Grundanliegen ist es, alle aus der Sozialhilfe herauszuholen. Wenn wir aber Armut und Sozialhilfe gleichsetzen, wenn wir diese Stigmatisierung in den Mittelpunkt stellen, brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, wenn sich die Menschen, die davon betroffen sind, als stigmatisiert empfinden.

Wir alle wissen, dass unsere Sozialhilfeleistungen für Menschen aus anderen Ländern doch einen gewissen Anreiz bieten. Warum haben wir eine große Zuwanderung? Wir haben eine große Zuwanderung, weil unsere Sozialleistungen auch gewährleisten, dass man nicht in Armut leben muss, dass man Wohnzuschüsse bekommt, dass ein funktionierendes Gesundheitssystem vorhanden ist.

(Unruhe)