Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Staatsminister, das ist eine Frage, die für die bayerische Europapolitik ganz wesentlich ist: Wie wirken sich solche Bewegungen aus?
Nächster Redner ist Herr Kollege Zeller. – Ich bemühe mich darum, den Rednerinnen und Rednern einer Minute vor dem Ende ihrer Redezeit ein Signal zu geben, aber die visuelle Wahrnehmung da unten ist offenbar etwas erschwert.
Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Köhler, Sie haben darauf hingewiesen, dass der bayerische Ministerpräsident in Berlin formuliert habe, Europa falle uns nicht in den Schoß. Ich sehe hier keinerlei Disparitäten. Tatsache ist, dass uns Europa eben nicht in den Schoß fällt und wir die eine oder andere Entwicklung sehr kritisch sehen müssen. Ich sehe die Staatsregierung und die CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag, die über Jahre hinweg immer wieder auf bestimmte Fehlentwicklungen hingewiesen haben, in ihrer Haltung bestätigt. Heute stellen wir fest, dass unsere Vorstellungen europaweit nicht so ganz akzeptiert werden.
Lesen Sie die Rede von Tony Blair vom 6. Oktober in Warschau nach. Sie werden dann erkennen, dass sich die Aussagen des Premierministers von England kaum mehr von dem unterscheiden, was Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber tagtäglich zum Thema Europa formuliert.
Was ist denn heute übrig geblieben? Sie formulieren es uns doch nach, aber wir sind in der Meinungsführerschaft absoluter Sieger geblieben, und dafür werden wir weiter kämpfen.
Meine Damen und Herren, was haben Sie denn bei der Euro-Diskussion alles gesagt? Was wäre passiert, wenn nicht die Vertreter der CSU alles darangesetzt hätten, dass der Euro einigermaßen Stabilität bekommt? Sie geben die Stabilität doch heute absolut preis, was in den nächsten Jahren noch grausame Wirkungen haben wird, wenn der Euro weiter so schwach bleibt.
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, Sie sagen, Deutschland müsse in der Europapolitik mit einer Zunge
sprechen. Entscheidend ist doch vielmehr die Frage, welcher Weg der richtige ist. Wenn wir in Bayern feststellen, dass ein falscher Weg eingeschlagen wird, muss es uns auch erlaubt sein, entsprechende Warnungen abzugeben.
Nun zum Stand und zur Zukunft Bayerns in Europa. Wir stehen vor der größten Erweiterung der Europäischen Union, vor der sogenannten Osterweiterung. Bevölkerung und Fläche der Europäischen Union nehmen exorbitant zu. Faktum ist aber auch, dass wir mit 550 Millionen Verbrauchern – das sind 170 Millionen mehr als bisher – der größte Binnenmarkt der Welt werden. Ich erinnere mich noch sehr wohl an die Zeiten, als der europäische Binnenmarkt eingeführt wurde. Auch damals sind Ängste formuliert worden. Es gab viele Unsicherheiten. Heute stellen wir aber fest, dass das wirtschaftliche Wachstum Bayerns in den Jahren 1985 bis 1997 um 42% gestiegen ist, während es in Deutschland um 32,5% und in der Europäischen Union um 31,3% gestiegen ist. Das ist doch ein Beispiel dafür, dass die bayerische Wirtschaft den Binnenmarkt besser nutzen konnte als alle anderen deutschen und europäischen Wirtschaftszweige.
Wenn wir noch mehr in die Mitte Europas rücken und Nachbarn in unmittelbarer Nähe haben, ergeben sich für die bayerischen Unternehmer die Chance, neue Geschäftspartner zu finden und wachstumsstarke Märkte zu erobern. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind die Einfuhren von Polen nach Bayern um 136%, und die Ausfuhren von Bayern nach Polen um 163% gestiegen. Die Einfuhren aus Ungarn sind um 242% gestiegen, die Ausfuhren dorthin um 397%. Einfuhren und Ausfuhren sind also weitestgehend ausgeglichen. Daran sehen wir, welche Chancen wir bei einer Osterweiterung der Europäischen Union haben.
Ich verkenne nicht, dass wir in Deutschland leider Gottes weniger die Vorteile als die Nachteile darstellen. Schätzungen zufolge wird beim ersten Schritt der europäischen Osterweiterung die Belastung des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland um 0,6% zunehmen. Wenn alle osteuropäischen Länder, die derzeit zu den Beitrittskandidaten gehören, hinzukommen, wird diese Steigerung bei 0,9% liegen. Faktum ist aber auch, dass mehr Wachstum durch den Wohlstandsgewinn ausgeglichen wird. Das muss man auch mit aller Deutlichkeit den Menschen in unserem Land sagen, das gehört auch zur Wahrheit.
Zur Wahrheit gehört es auch, dass wir in einem erweiterten europäischen Raum die Chance haben, in Form einer Arbeitsteilung einen Ausgleich zwischen den Hightech-Regionen und den Lowtech-Regionen zu schaffen und damit ein Wachstum für ganz Europa zu ermöglichen. Lassen Sie mich einen Vergleich mit den Nachbarstaaten anstellen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, welche Aufregungen es gegeben hat, als USA und Kanada ihre Beziehungen nach Mexiko ausgeweitet haben. Heute sehen wir, dass dies dem Land Mexiko außerordentlich gut getan hat, umgekehrt gab es aber auch keine Nachteile für USA und Kanada.
Lassen Sie mich einen dritten Punkt kurz ansprechen. Wir wollen das Europa der Regionen stärken. Diese Politik haben wir in Bayern von Anfang an betrieben. Sie sind erst viel später auf diesen Zug aufgesprungen. Bayern hat seine Politik immer auf ein Europa der Regionen ausgerichtet. Wir haben alle die Handlungsspielräume, die wir noch hatten, auch genutzt. Ich denke an die Förderpolitik für den Mittelstand. Dort durften wir noch ein wenig tun. Ich denke auch an die Förderpolitik für die Technologie und für die Forschung und Wissenschaft. Diese Förderpolitiken sind die Grundlage dafür, dass wir die Osterweiterung Europas mit Sicherheit besser bewältigen können als viele andere.
Es ist kein Geheimnis mehr, dass wirtschaftlich starke Regionen das Rückgrat des Wirtschaftsstandortes Europa sind. Dafür brauchen wir aber auch den notwendigen Gestaltungsspielraum, für den wir immer gekämpft haben. Wir wollen keinen Einheitsbrei Europa, sondern ein Europa der Vielfalt. Bayern hat bewiesen, dass es den Binnenmarkt bestens meistern konnte. Wir stehen mit dem technischen Fortschritt an der Spitze der Regionen Europas. Wir konnten in den letzten Jahren mehr moderne Arbeitsplätze als andere Regionen schaffen. Ich denke nur an die Iuk-Technologie, an die Luft- und Raumfahrt, an die Fahrzeugtechnik, an die Bio- und Gentechnologie und an vieles mehr. Die Befürchtungen, dass der Mittelstand bei der zunehmenden Globalisierung an die Wand gedrückt wird, haben sich Gott sei Dank nicht bestätigt. Aufgrund seiner Innovationsfreudigkeit, seiner Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ist der bayerische Mittelstand Europameister geblieben.
Das große Haus Europa muss nicht mehr gebaut werden, es ist bereits gebaut. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, wer einzieht, wer in den Keller und wer in das Dachzimmer einzieht. Wir Bayern haben uns bereits eine hervorragende Etage gesichert und sind dabei, diese Etage auch einzurichten,
während die anderen Länder noch nicht einmal die Möbelpacker beauftragt haben. Auch das möchte ich einmal mit aller Deutlichkeit sagen.
Zu Ihrem Entschließungsantrag zur Grundrechts-Charta der Europäischen Union kann ich nur sagen, dass die SPD ganz klar ja zu mehr Zentralismus und nein zu einem Europa der Regionen sagt, wenn sie meint, mit der vorliegenden Grundrechts-Charta den Einstieg in eine Europäische Verfassung zu schaffen. Auch das muss mit aller Deutlichkeit festgestellt werden. Lesen Sie zum Beispiel die Rede von Tony Blair. Dort sagt er doch – ich zitiere –:
Das Problem mit der Debatte über Europas politische Zukunft ist, dass wir uns, wenn wir nicht aufpassen, in das Dickicht institutioneller Veränderungen stürzen, ohne zuvor die grundlegende Frage nach unserem Endziel gestellt zu haben.
Ich darf einen weiteren Punkt hinzufügen. Die klare politische Richtung, welche die Menschen anstreben, muss
von gewählten Politikern und gewählten Regierungen vorgegeben werden. Wenn wir ja zur GrundrechtsCharta in Europa sagen, gleichzeitig aber eine Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Nationalstaaten und Brüssel fordern, liegen wir auch richtig. Die Diskussionen auf Ihrer Seite geben uns nicht die Sicherheit, dass Sie diese klare Abgrenzung auch wollen.
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, wir brauchen ein neues Gleichgewicht zwischen den drei entscheidenden politischen Ebenen der Regionen, der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union. Wir brauchen eine Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses. Wir brauchen funktionsfähige Nationalstaaten und vor allem starke Regionen. Das ist der ganz entscheidende Punkt, wofür wir in der Vergangenheit auch nicht unerheblich gekämpft haben. Wir haben den Begriff der Region in Bayern geboren. Heute gibt es kaum mehr ernst zu nehmende Europapolitiker oder Regierungschefs in Europa, die diese Formulierungen nicht übernommen haben. Früher sind wir dafür nicht unerheblich kritisiert worden. Deswegen befürworte ich das Europa der Regionen, und ich sehe die Zukunft Bayerns unter dieser Voraussetzung als außerordentlich positiv.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie werden es nicht erwartet haben, aber ich beginne mit einem Stoiber-Zitat:
Europa muss in jeder Generation neu begründet werden. Jede Generation muss aufs Neue die Entscheidung zur Zusammenarbeit, Völkerverständigung und Freundschaft unter den Menschen verschiedener Nationen und Regionen treffen.
Große Worte, aber durchaus zutreffend, denn in der Tat wird die Grundrechts-Charta diesem hohen Anspruch auch gerecht. Die Europäische Union benötigt dringend ein bürgerrechtliches Fundament.
Die nun vorliegende Grundrechtscharta ist ein Meilenstein in der Entwicklung des internationalen Grund- und Menschenrechtsschutzes. Nun ist die Tür weit aufgestoßen für ein modernes und zeitgemäßes Verständnis von Grundrechten. Politische, soziale und wirtschaftliche Grundrechte stehen gleichberechtigt nebeneinander.
Ich verhehle an dieser Stelle nicht, dass aus Sicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN der Entwurf der Grundrechtscharta in einigen wichtigen Punkten noch weit hinter dem zurückbleibt, was wir uns wünschen, zum Bei
spiel beim Asylrecht, in der Biotechnologie oder beim Umweltschutz. Bei vielen einzelnen Punkten würde eine tiefergehende Betrachtung lohnen, die ich mir aufgrund meiner knapp bemessenen Redezeit leider nicht erlauben kann. Davon abgesehen stellt die Grundrechtscharta einen großen integrationspolitischen Erfolg dar. Dies mag die Bürgerinnen und Bürger Europas vielleicht auch das peinliche Beharren der deutschen Christsozialen auf dem Gottesbezug in der Präambel der Charta vergessen lassen.
Glücklicherweise stieß dieses Ansinnen im Konvent auch in den eigenen Reihen nicht auf offene Ohren, wäre doch mit diesem Bezug ein Element der Ausgrenzung in die Charta der Grundrechte hineingeschrieben worden. Die Europäische Union ist nun einmal kein Club christlicher Staaten. Ihr einigendes Band ist nicht die christlich-abendländische Religion, sondern das Bekenntnis zu den Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und zum Schutz der Rechte von religiösen und ethnischen Minderheiten.
Ich kann Sie beruhigen, in solch einer Gemeinschaft mit diesen gemeinsamen Werten darf sich auch Bayern gut aufgehoben fühlen. Nun scheint der erste Schritt geschafft, und weitere wichtige Herausforderungen liegen vor uns. Die Grundrechtscharta muss die ihr würdige Verbindlichkeit erhalten. Grundrechte ohne Rechtsschutz verdienen ihren Namen nicht. Deshalb müssen Klagemöglichkeiten geschaffen werden, die sicherstellen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger der EU vor den Gerichten unmittelbar auf ihre verbrieften Rechte berufen können.
Die weiterhin anstehenden Reformen innerhalb der EU müssen beherzt angegangen werden. Die europäischen Verträge sollten in eine europäische Verfassung münden. Die Grundrechtscharta muss möglichst bald in die europäischen Verträge aufgenommen werden. Eine wirkungsvolle, zukunftsweisende Reform der Vertragswerke der Europäischen Union schließt eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen den einzelnen Organen der EU, den Mitgliedstaaten, den föderalen Gliederungen innerhalb der Mitgliedstaaten, den Regionen bis hin zu den Kommunen unverzichtbar mit ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der uns heute vorliegende – ich muss schon sagen – ausführliche, sechszeilige Dringlichkeitsantrag der CSU zur EU-Grundrechtscharta bleibt mir in diesem Zusammenhang völlig unverständlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin gern bereit, Ihnen den Entwurf der Grundrechtscharta zu kopieren, damit Sie ihn vielleicht einmal durchlesen können. Hören Sie gut zu, in Kapitel 7 unter Artikel 51 Absatz 2 steht:
„Diese Charta begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“ Ihrer eigenen Praxis im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten folgend muss ich Ihren heutigen Antrag daher als völlig überflüssig deklarieren. Es ist ein Antrag, für den es keinen Anlass gibt, und ich kann Ihnen nur empfehlen, ihn zurückzuziehen.