Sehr geehrte Frau Präsiden tin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie der Bund und an dere Bundesländer hat auch das Land Baden-Württemberg im Jahr 2015 eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung als Ver fahrensgrundsatz u. a. in § 25 Absatz 3 des Verwaltungsver fahrensgesetzes in entsprechendes Landesrecht umgesetzt. Ei ne frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung – da sind wir uns wohl über Parteigrenzen hinweg einig – ist wichtig, um die
Planung von Vorhaben zu optimieren, Transparenz zu schaf fen und damit die Akzeptanz von politischen Entscheidungen und nötigem Verwaltungshandeln zu fördern.
Es ist aus der heutigen Sicht eigentlich auch eine Selbstver ständlichkeit, was damals, vor rund fünfeinhalb Jahren, unter Grün-Rot eingeführt wurde: Bürgerinnen und Bürger sollten die Chance haben, ihre Perspektiven, Bedenken, aber auch wi derstreitenden Ansichten in Entscheidungsprozesse mit ein zubringen. Gleichzeitig sollen die politisch Verantwortlichen, die handelnden Behörden, die Möglichkeit haben, durch früh zeitige Einbindung der Bürgerinnen und Bürger die Akzep tanz für Projekte zu gewinnen und unterschiedliche Perspek tiven in den Erkenntnisprozess aufzunehmen.
Dabei ist uns auch bewusst, dass die frühzeitige Einbindung nicht immer zum Erfolg eines solchen Verfahrens führt. Das liegt in der Natur der Sache. Trotzdem stimme ich Ihrer Aus sage, Frau Staatsrätin Erler, auf der Demokratiekonferenz im November 2019 zu. Sie haben gesagt:
Warum, Frau Erler, brechen Sie dann aber Ihre Grundsätze? Sie haben das Beispiel Haiterbach genannt. Das ist ein ganz spannendes Beispiel. Ich erlaube mir, darauf etwas näher ein zugehen. Da geht es um die Suche nach einem Ersatzgelände für das Absprunggelände des Kommandos Spezialkräfte im Landkreis Calw.
Die Bürger dort finden das – sagen wir mal so – „mittelgut“. Im „Schwarzwälder Boten“ findet man dazu Leserbriefe und erfährt, dass die Diskussionen in den umliegenden Städten und Gemeinden sehr kontrovers geführt werden.
Was macht die Landesregierung? Die Landesregierung sagt: „Ja, wenn dieses Militärabsprunggelände kommt, sind wir be reit, über eine finanzielle Kompensation nachzudenken.“ Das hat man auch angeboten. Man ist jetzt bereit, knapp 4 Milli onen € für die Bahnstrecke im Bereich Horb/Nagold zu ge ben, und man hat auch gesagt, das Nagolder Gymnasium kön ne quasi mit 12,5 Millionen € bedacht werden.
Ich habe in dieser Sache an das Staatsministerium geschrie ben. Die Antwort des Staatsministeriums war: Voraussetzung ist, dass das Militärabsprunggelände realisiert wird. Wenn das Bürgerbeteiligung im grün-schwarzen Sinne ist, dann muss ich mich schon fragen, ob das, was Sie hier so hochhalten, tat sächlich der Realität entspricht.
Egal, wie man zu diesem Absprunggelände steht, kann Bür gerbeteiligung aus unserer Sicht nicht darin bestehen, Geld gegen Fügsamkeit anzudienen.
Kommen wir einmal zum Kern des Problems. Wir reden hier jetzt über eine Bürgerbeteiligung im Rahmen von Verwal tungsverfahren. Aber Kern des Problems ist natürlich die ech te Mitbestimmung in einer direkten Demokratie. Auch zwei einhalb Jahre nach der Beantwortung dieses Antrags ist noch immer evident – das ursprüngliche Gerede über den Zufalls
bürger, Frau Erikli, ist ja in Teilen sicherlich berechtigt –: Ent scheidend ist, dass alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger des Landes bei bestimmten Projekten mitentscheiden können.
Es wurde schon erwähnt, dass der Ministerpräsident mit dem Verweis auf die aktuelle Situation im Land von seinen hohen Ansprüchen ein bisschen abrückt und da viel vorsichtiger ge worden ist. Aber gleichwohl ist der Ministerpräsident sehr stolz auf die Rolle der Bürgerbeteiligung in Baden-Württem berg.
Uns aber drängt sich der Verdacht auf, dass man aufseiten der Landesregierung ein bisschen Sorge hat bezüglich des Votums der Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger. Pars pro toto kann hier die Vehemenz der Landesregierung da für angeführt werden, das durch die SPD und viele weitere Bündnispartner initiierte Volksbegehren für die gebührenfrei en Kitas mit aller Macht zu verhindern.
Im Zuge der Gerichtsentscheidung zu der Gebührenfreiheit in den Kindertageseinrichtungen von vor ein paar Wochen wur de aus den Reihen der Koalitionsfraktionen die Entscheidung des Verfassungsgerichts noch als „schwarzer Tag für die SPD“ bezeichnet. Wir möchten die Entscheidung aber lieber als das bezeichnen, was sie tatsächlich ist, nämlich als schwarzen Tag für die Volksgesetzgebung und für die Familien in BadenWürttemberg.
Anstatt sich an die Spitze der Bewegung zu stellen und sich gerade nach Stuttgart 21 mit einem weiteren Volksbegehren politisch argumentativ mit den Anliegen der Bürgerinnen und Bürger auseinanderzusetzen, versteckt man sich hinter For malien und versucht, auf andere Weise echte Mitbestimmung bereits im Kern zu ersticken.
Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs insgesamt haben Sie dann sicherlich mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Künftig wird es in Baden-Württemberg noch schwerer sein, echte Mitbestimmung für Bürgerinnen und Bürger zu errei chen.
Deshalb am Schluss ein Anliegen an Sie gerichtet, sehr ge schätzte Frau Kollegin Erikli, und auch an die Fraktion GRÜ NE: Sie wissen, wir schauen uns ab und zu an, was bei Ihnen auf den Homepages steht. Das war ja das letzte Mal auch schon der Fall. Das haben wir auch diesmal wieder getan. Im Internetauftritt Ihrer Fraktion steht wortwörtlich:
Demokratie lebt von Mitbestimmung. Bürger*innen sol len nicht nur alle paar Jahre an die Urne gebeten wer den, sondern über Projekte, die sie betreffen, mitentschei den können.
Das Ganze bedarf aus der Sicht der SPD-Fraktion dringend einer Aktualisierung; denn dies steht auf jeden Fall nicht mehr im Einklang mit dem Handeln und Denken der von Ihnen ge tragenen Landesregierung.
Die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an politi schen Prozessen ist ein wichtiges Anliegen und politik feldübergreifendes politisches Projekt, das in den vergan genen Jahren in Baden-Württemberg intensiv verfolgt wurde.
Es stellt sich nur die Frage: Mit welchem Ziel? Leicht erklär lich. Die Regierung antwortet – Zitat –:
Mit dem Begriff Bürgerbeteiligung wird umgangssprach lich oft auch die direkte Demokratie erfasst. Die Landes regierung legt aber großen Wert darauf, klar zwischen den dialogischen Methoden der Bürgerbeteiligung einer seits und der Mitentscheidung bei der direkten Demokra tie andererseits zu unterscheiden.
Des Weiteren geht sie im Anschluss auf nahezu 200 Formate der Bürgerbeteiligung ein. Spätestens jetzt sollte und muss je dem klar sein: Es handelt sich um eine Beschäftigungsthera pie für das Volk.
Mehr und mehr wird deutlich, dass unsere Gesellschaft ein Problem hat: auf der einen Seite die grüne Politik, die vorgau kelt, die Bürger zu beteiligen, auf der anderen Seite die Rea lität, keine echte Mitbestimmung des Bürgers zu wollen. Da nützt es auch nichts, mit wohlfeilen Anträgen im Parlament zu glänzen. Die Realitäten sind andere. Dem Bürger wird suk zessiv die Eigenentscheidungskompetenz genommen und so mit seine Mündigkeit. Er, der Bürger, soll im Gegenzug mit Beschäftigungsformaten ruhiggestellt werden. Ich erinnere an das Format „Stuttgart 21“ und an die traurige Vorstellung im Zusammenhang mit der Altersversorgung der Landtagsabge ordneten. Eine Kommission wurde erst nach Protesten der Bürger – um diese ruhigzustellen – eingesetzt.
Das zeigt die gesamte Art und Weise der Bürgerbeteiligung auf, die sich die Grünen wünschen. Dabei ist offensichtlich, dass viele Beteiligungsformate unter gravierenden Repräsen tationsdefiziten leiden. Die Politikwissenschaft weist diese Art des Engagements klar als Domäne der sogenannten Gebilde ten und Besserverdienenden aus. Folglich wird in den Pla nungszellen – oder auf Neudeutsch: Bürgerworkshops – auch nicht das Hochamt der Demokratie gefeiert, mit dem die Be fürworter gern argumentieren, sondern das Hochamt der an gepassten Regierungsentscheidung – egal, auf welcher Ent scheidungsebene unseres Staates.
Das ursprüngliche Ziel, einen Konsens zu erreichen – oder noch besser gesagt: eine Bürgermitbestimmung –, bleibt au ßen vor. Aber genau das scheint so gewollt zu sein. Anders sind Äußerungen wie „Mauscheln gehört zum Geschäft“ nicht zu verstehen. Das stammt nicht von mir, sondern von Ihrer Galionsfigur Winfried Kretschmann.
Jetzt soll wieder gemauschelt werden. Es wird vorgegaukelt, die Grünen setzten sich für die direkte Demokratie ein, aber tatsächlich wollen sie einen Debattierklub, die Bürger mit eli tärem Geschwafel und sogenannten Bürgerbeteiligungen von der Tatsache ablenken, dass sie mehr und mehr ihre Souverä nität verlieren.
Anstatt Artikel 59 f. der Landesverfassung zu ändern und die Quoren für Volksanträge und Volksbegehren zu senken, soll über müßige Debatten der Eindruck erweckt werden, die Grü nen seien die Hüter der Bürgerbeteiligung und Interessenver treter des Bürgers. Dabei ist die politische Verantwortung schon lang über den Rechtsweg vom politischen Agieren ent koppelt. Das gilt heute schon durch lästige NGOs, die sowohl unsere Verfassungswirklichkeit als auch die Gesetzgebung nachhaltig interpretieren, beeinflussen, ja sogar verändern. Deutlich zu erkennen ist das bei den Dieselfahrverboten in Stuttgart, die Einfluss auf unser aller Leben nehmen, noch deutlicher an der Klageflut zu sehen, die durch falsches Re gierungshandeln und Nichtbeteiligung der Bürger entsteht.
Hören Sie auf mit diesen Scheindebatten, und schließen Sie sich unseren Vorschlägen zur direkten Demokratie an. Dann sind Sie auf dem richtigen Weg, und wir brauchen solche Schmierentheater nicht mehr.
Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen! Ich darf auf den Punkt von vorhin zu rückkommen, auf die politische Dimension dieser beiden Punkte, die, obwohl die beiden Anträge schon steinalt sind, von den Grünen auf die Tagesordnung gesetzt wurden, um sich ein Stück weit auch selbst zu inszenieren, ein Stück weit auch selbst zu beweihräuchern als die Partei, die gerade die ses Thema „Öffentlichkeitsbeteiligung und Bürgerbeteiligung“ gepachtet zu haben glaubt. Wie ernst diese Anträge gemeint sind, merkt man auch daran, dass ich im Moment im Saal neun Grüne entdecke.