Protocol of the Session on February 27, 2013

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich will mit dem Bereich beginnen, bei dem wir große Übereinstimmung haben. In der Tat, Frau Boser, hat auch die Vorgängerregierung dieses Thema immer wieder be arbeitet. Niemand hat Interesse daran, dass es an einer Schu le hohe Wiederholerquoten gibt. Die Lehrkräfte müssen wei tergebildet werden, damit sie die diagnostischen Fähigkeiten haben, die Kinder zu begleiten. Nichtversetzungen fallen nicht vom Himmel. Vorher wird noch viel unternommen, um dies zu verhindern. Da gibt es eine Probeversetzung. In der Tat ist es der Vorgängerregierung durch viele Maßnahmen gelungen, die Quote der Wiederholer zu senken.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: So ist es!)

Wir haben auch großes Interesse daran, dass an diesem The ma weitergearbeitet wird.

Deswegen, Herr Minister, nehmen wir die Aussage „Förde rung für alle“ sehr wohl zur Kenntnis. Individuelle Förderung und Ressourcen für alle Schulen – aber ohne Vorbedingung. Welche Bedingungen stellen Sie an die Schulen, damit die Förderung geleistet wird?

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: So ist es!)

Wir erwarten von Ihnen dazu eine klare Aussage. Ist es die Bedingung, dass sich die Schulen dann zu Gemeinschafts schulen weiterentwickeln, damit sie diese Förderung bekom men?

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: So ist es!)

Denn wenn ich richtig informiert bin, ist das Sitzenbleiben an den Gemeinschaftsschulen nicht mehr möglich.

Meine Frage ist: Was kommt bei diesen Schulen am Schluss heraus? Wenn ich mir die Schule des „Papstes“ der Gemein schaftsschule, Herrn Fratton, in Romanshorn anschaue, stel le ich fest: Dort sind 40 % der Kinder durch das Abitur gefal len.

(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Bei Fratton 40 %?)

Vorhin wurde gesagt: Wiederholen heißt Niederlage empfin den. Ist es nicht besser, während der Schulzeit immer wieder gemessen zu werden und auch einmal einen Rückschlag zu erleiden, als am Schluss einer schönen Schulzeit durch das Scheitern bei der Abschlussprüfung letztlich vor einem Scher benhaufen zu stehen? Im Übrigen werden nach der Schulzeit die Kriterien des Bildungserfolgs nicht in der Schule festge legt, sondern von Arbeitgebern, von Hochschulen, die ein gna denloses Assessment machen, eine gnadenlose Auswahl tref fen, und letztlich sinkt die Chancengleichheit.

(Zuruf von der SPD: Jesses Maria!)

Deswegen bitte ich um eine klare Aussage, Herr Minister: Wollen Sie fördern ohne Vorbedingung?

Ich will noch eines richtigstellen, Frau Boser: In Finnland gibt es die Klassenwiederholung,

(Abg. Georg Wacker CDU: So ist es!)

und zwar in sehr strenger Form. Wenn dort im Vorzeugnis, im Frühjahrszeugnis eine Vier, also die schlechteste Note, steht, dann wird der betreffende Schüler nicht versetzt. Der Schüler hat allerdings die Gelegenheit, im weiteren Verlauf des Schul jahrs bis zum Sommer gefördert zu werden. Er kann auch im Sommer gefördert werden. Er kann dann eine Prüfung ma chen, und bei Bestehen wird er versetzt. Das ist bei uns nicht viel anders. Wenn der Schüler im Vorzeugnis zwei Vieren hat, dann findet automatisch keine Versetzung statt.

In der Tat sind dort die Wiederholungsquoten sehr gering, weil dort sehr individuell gefördert wird.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr gut! – Abg. Charlotte Schneidewind-Hartnagel GRÜNE: Eben!)

So wollen wir das auch,

(Abg. Andrea Lindlohr GRÜNE: Ah!)

aber an allen Schulen.

(Beifall bei der CDU – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ohne Vorbedingung!)

Nur zur Information: In Europa gibt es nur zwei Länder, die auf das Wiederholen von Klassen verzichten. Die Rate der Wiederholer ist in den Ländern am höchsten,

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

in denen ein eingliedriges Schulsystem vorhanden ist, wie z. B. in Frankreich.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Hört, hört!)

Da wird halt anderweitig gesiebt – eben durch das Wiederho len. Wir sollten das alles interessiert anschauen und – ich sa ge es jetzt einmal so – darauf bauen, dass der Kultusminister das, was er heute versprochen hat, unter Weglassen der Be dingungen auch durchführt. Dann sind wir alle glücklich.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Für die Fraktion GRÜNE spricht die Kollegin Boser.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Kollegin Dr. Stolz, ich glau be, in dieser Tonlage können wir das Thema weiterdiskutie ren. Ich denke, wir haben da sicher auch gemeinsame Ansät ze. Ich möchte nur noch ein paar Fakten nennen, die man dann auch weiterdiskutieren kann.

Der Leistungsdruck, den Sie hier beschreiben, ist an Schulen notwendig. Diesen Leistungsdruck gibt es an den Schulen auch. Aber man muss realisieren, dass 20 % der Schülerinnen und Schüler mit diesem Leistungsdruck nicht umgehen kön nen, dass 20 % der Schülerinnen und Schüler unter Schulangst leiden. Wir müssen also schauen, wie wir diese Schülerinnen und Schüler besser erreichen können und welche Unterstüt zungssysteme wir für sie brauchen.

Ein Punkt, den die alte Landesregierung in diesem Zusam menhang leider ebenfalls völlig verpasst hat, ist, dass auch der Ausbau der Ganztagsschulen vorankommen muss. Wenn zu Hause Unterstützung fehlt, darf dies letztlich nicht zulasten der Schülerinnen und Schüler gehen. Denn diese Schülerin nen und Schüler wären am Ende diejenigen, die am stärksten versetzungsgefährdet sind. Da brauchen wir frühzeitig Anfor derungsprofile und Möglichkeiten der Förderung.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Wir haben daher gerade bei den Gemeinschaftsschulen auf die Situation reagiert und den Ganztagsunterricht verbindlich vor geschrieben. Denn nur so ist unserer Überzeugung nach ein Unterstützungssystem möglich.

Ich verstehe ja, dass die Realschulen jetzt um Stunden kämp fen, da sie schauen müssen, wie sie mit der Heterogenität bes ser umgehen können. Aber mit Stunden allein ist es, meine Damen und Herren, nicht getan. Wir brauchen an den Real schulen zudem eine Veränderung der Methodik, und wir müs sen Möglichkeiten dafür schaffen, wie mit dem Versetzungs problem zukünftig umgegangen werden soll.

Wenn man sich nämlich anschaut, wie hoch die prozentualen Anteile der Nichtversetzung an den einzelnen Schularten sind, dann stellt man fest, dass an den Realschulen und Gymnasi en die Quoten am höchsten sind. An den Haupt- und Werkre alschulen war diese Quote immer recht niedrig. Wenn man Ih re Debatten bislang verfolgt hat, kann man den Eindruck ge winnen, dass an den Haupt- und Werkrealschulen die Anfor derungen am höchsten sind. Da muss man dann allerdings fra gen, warum die Haupt- und Werkrealschulen die Nichtverset zung in einem so hohen Maß haben eindämmen können und warum die entsprechenden Quoten bei den Realschulen und den Gymnasien vergleichsweise so viel höher sind. Wir müs sen schauen, dass wir auch hier die Möglichkeiten verbessern. Da sind wir dran.

Ich glaube nicht, dass wir in der Form, wie Herr Dr. Kern die Debatte eingeführt hat, weiterdiskutieren können, sondern fin de die nun von meiner Vorrednerin gewählte Form sehr viel angenehmer.

Herr Dr. Kern, wenn Sie über Herrn Professor Bohl und die Expertise zur Gemeinschaftsschule diskutieren wollen, dann beantragen Sie doch eine Aktuelle Debatte zu diesem Thema. Dann können wir gern darüber diskutieren. Die Aktuelle De batte, die wir jetzt führen, dreht sich um das Thema Sitzen bleiben, und ich glaube, wir werden der Sache besser gerecht, wenn wir über dieses Thema sprechen und nicht über die Ex pertise zur Gemeinschaftsschule.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Für die SPD-Fraktion spricht Kolle ge Käppeler.

Sehr geehrte Damen und Her ren! Ich gehe noch einmal auf den von Ihnen immer wieder geäußerten Vorwurf der „Kuschelpädagogik“ ein. Sie werfen uns vor, wir würden die Kinder in Watte packen und würden sie nicht adäquat auf die Anforderungen einer Leistungsge sellschaft vorbereiten.

(Abg. Karl Klein CDU: So ist es!)

Das Gegenteil ist der Fall. In unseren Augen kann ein junger Mensch nur dann in einer Leistungsgesellschaft wie der un seren bestehen, wenn er zuvor ein stabiles, gesundes Selbst bewusstsein ausgebildet hat und wenn sein Charakter Zeit hat te, um sich ausbilden zu dürfen, wenn er Mensch werden durf te und nicht nur Verfügungsmasse unserer Volkswirtschaft. Ein solches Selbstbewusstsein gewinnt jedoch niemand durch beschämende Instrumente wie das Sitzenbleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen)

Wenn der Vorsitzende des Philologenverbands sauer auf die grün-rote Politik reagiert, dann lade ich ihn gern einmal in ei ne „Blümchenschule“ ein, in der den Kindern vorgegaukelt wird, das Leben sei ein Ponyhof – so wurde er zitiert. Dabei sieht er und sehen vielleicht auch andere, wie die Kollegen an den Grundschulen mit Heterogenität umgehen.

Vielleicht gibt er anschließend zu, dass es ihm in Wirklichkeit nur darum geht, seine Gymnasiasten von der rauen, ungerech

ten und unsozialen Lebenswirklichkeit abzuschotten, damit diese unter ihresgleichen bleiben können. Dann erfahren wir, welche Schulart tatsächlich eine „Blümchenschule“ ist.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Das müssen Sie mir noch einmal erklären! Das habe ich nicht verstan den!)

Liebe Kollegen von der FDP/DVP, ich kann Ihnen die Anmer kung nicht ersparen: Heute zu diskreditieren, den politischen Gegner zu verunglimpfen, morgen zu behaupten, man sei schon immer dafür gewesen, und übermorgen zu erklären, das Ganze sei eine liberale Erfindung – – Gern liefere ich Ihnen einige Beispiele für diese Strategie: Atomausstieg, Mindest lohn – darüber haben wir heute schon debattiert. Sie verste hen also schon, dass wir Sie nur bedingt ernst nehmen kön nen. Denn bei den Themen Gemeinschaftsschule oder Sitzen bleiben werden auch Sie sich eines Tages der Vernunft an schließen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)