Protocol of the Session on September 23, 2015

Die Polizei leistet angesichts dieser riesengroßen Herausfor derungen einen ungeheuren Beitrag dazu, dass die sozialen Verwerfungen in unserer Gesellschaft nicht noch größer wer den. Unsere Polizei ist in dieser Zeit gefordert wie selten zu vor.

Deshalb möchte ich für meine Fraktion sagen: Herr Innenmi nister, wir unterstützen alles, was Sie zur Stärkung der Poli zei planen. Es gibt jetzt mehr Menschen in unserem Land. Es gibt im Umfeld von Unterbringungseinrichtungen ganz spe zifische Situationen, die besondere polizeiliche Antworten er fordern. Die Polizei in Baden-Württemberg braucht angesichts dieser Herausforderungen eine Stärkung durch die Politik. Wir stehen dazu bereit, Herr Innenminister.

(Beifall bei der CDU)

Herr Ministerpräsident, als es um die Gesundheitskarte ging, hatte ich zeitweise den Eindruck, dass nicht der Herr Minis terpräsident, sondern der Herr Gymnasiallehrer spricht.

(Zurufe von den Grünen)

Bevor Sie sich hier aufschwingen, mir erklären zu wollen, was der Unterschied ist zwischen der heutigen Situation, nämlich der Abholung von Berechtigungsscheinen, und der Gesund heitskarte, hätten Sie sich noch einmal mit der Situation be fassen müssen. Wenn jemand einen Behandlungsschein ab holt, dann hat der zuständige Verwaltungsbeamte keinen Er messensspielraum im Sinne einer Sprechstunde.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: So ist es!)

Wenn jemand kommt und sagt, er habe Schmerzen, ihm tue etwas weh, dann bekommt er einen Behandlungsschein, mit dem er zum Arzt geht und dort seine medizinische Versorgung bekommt. Das ist die Wahrheit. Ich bitte Sie, bei der Darstel lung von Abläufen präzise zu bleiben.

(Beifall bei der CDU – Zurufe von der CDU: Sehr gut!)

Herr Ministerpräsident, Sie überschlagen sich darin, die Bun deskanzlerin zu loben. Das finde ich großartig.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU)

Ich möchte Sie ermuntern, das auch in den anstehenden Ge sprächen und Verhandlungen zu tun. Jetzt haben Sie die Ge legenheit, das zu tun, was seitens der Großen Koalition auf den Weg gebracht worden ist. Dabei will ich die Kolleginnen und Kollegen der SPD ausdrücklich mit einschließen. Jetzt haben Sie die Gelegenheit, Farbe zu bekennen und zum Aus druck zu bringen, ob Sie bereit sind, diese Wege und diese Weichenstellungen seitens des Landes Baden-Württemberg

mit zu unterstützen, oder ob Sie weiterhin zaghaft, hilflos, ab wägend und Gegenforderungen erhebend Politik des Landes Baden-Württemberg nach Berlin tragen.

Herr Ministerpräsident, stimmen Sie zu, dass Menschen oh ne Bleibeperspektive in den Erstaufnahmeeinrichtungen blei ben müssen? Stimmen Sie zu, dass in den Erstaufnahmeein richtungen Bargeldleistungen durch Sachleistungen ersetzt werden sollen? Stimmen Sie zu, dass bei unanfechtbar Aus reisepflichtigen die Leistungen deutlich zurückgefahren wer den? Stimmen Sie zu, dass wir Mittel brauchen, um Abschie bungen auch ohne langwierige Ankündigungen durchführen zu können? Die Antwort kann nur Ja heißen. Das ist glaub würdige Politik, Herr Ministerpräsident.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Bravo-Rufe von der CDU)

Das Wort erhält der Fraktionsvor sitzende der FDP/DVP, Herr Abg. Dr. Rülke.

Herr Präsident, lie be Kolleginnen und Kollegen! Zunächst, Herr Ministerpräsi dent, ein dreifacher Dank an Sie: erstens dafür, dass Sie dem Landtag von Baden-Württemberg Rede und Antwort gestan den haben – das war notwendig –, zweitens dafür, dass Sie in dieser Deutlichkeit gesagt haben, dass wir unterscheiden müs sen zwischen denjenigen, die politisch verfolgt bzw. durch Kriegshandlungen an Leib und Leben bedroht sind und unse ren Schutz brauchen, auf der einen Seite und den Wirtschafts flüchtlingen, deren Motive nachvollziehbar sein mögen, de ren Aufnahme aber unsere Kapazitäten und auch die Akzep tanz der Menschen in diesem Land überfordern würde, auf der anderen Seite. Das war ein klares Bekenntnis; das ist gut. Ich hoffe auch, dass alle in Ihrer Partei dieses Bekenntnis in die ser Deutlichkeit gehört haben.

Zum Dritten haben auch Sie deutlich gesagt, die Flüchtlinge, die zu uns kommen, sollten integrationswillig und integrati onsbereit sein und müssten sich an das Grundgesetz, an unse re Rechtsordnung und an unsere Werteordnung halten. Wir sind tolerant gegenüber dem, was sie glauben, denken, sagen – bis zu einer gewissen Grenze. Aber sie müssen sich integ rieren, und wir verlangen von ihnen, dass sie unsere Rechts ordnung vollständig akzeptieren. – Das war gut; das war rich tig.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Ich stimme auch mit Ihrer Aussage überein: Wir müssen die Ursachen bekämpfen. Wir müssen uns die Frage stellen, was wir vor Ort tun können, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Menschen gar nicht kommen müssen. Ich habe es im ers ten Teil der Debatte schon deutlich gesagt: Es ist eine Fehl entwicklung, wenn junge, arbeitsfähige Menschen, die in Al banien daran mitwirken könnten, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung in eine positive Richtung bewegt, bei uns um Asyl nachsuchen, notwendigerweise abgelehnt werden und bei uns auf die Abschiebung warten, statt in Albanien zu ar beiten. Das gilt natürlich auch für andere Regionen der Welt.

Wir müssen uns die Frage stellen: Was können wir dazu bei tragen, den Konflikt im Irak zu befrieden? Das ist keine ein fache Aufgabe, völlig klar. Wir müssen uns auch die Frage

stellen, wie wir in anderen Regionen deutlicher helfen kön nen, die wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern, sodass am Ende Flucht- und Migrationsursachen bekämpft werden.

Das Asylrecht ist ein Grundrecht – auch da stimme ich mit Ih nen überein –, das keine Obergrenze hat. Wir werden nieman den, der im Irak an Leib und Leben bedroht ist, abweisen. Je der von uns kennt diese Bilder vom Mittelmeer oder vielleicht auch vor ungarischen Zäunen, die einen nicht unbeeindruckt lassen können. Wir können diesen Menschen auch nicht mit der Begründung „Jetzt ist das Boot voll“ die Tür weisen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Aber wir müssen sehr deutlich aussprechen, dass nicht jeder, der in Deutschland eine bessere berufliche oder wirtschaftli che Perspektive sucht, auch Aufnahme finden kann. Das ist der, wie Sie es formuliert haben, pragmatisch fundierte Hu manismus. Humanismus bedeutet Aufnahme für die wirklich Verfolgten. Pragmatismus bedeutet, dass diejenigen, die nicht politisch verfolgt sind, keine Aufnahme finden. Sie haben nämlich in diesem Zusammenhang auch gesagt: „Wir stoßen aufgrund der Zahlen an unsere Grenzen.“

Da beginnt der Bereich, in dem wir nicht einig sind. Sie und Ihre gesamte Regierungskoalition zeigen zu sehr auf den Bund. Wohnungsbau: Bund. Verfahrensdauer: Bund. Sie be nennen das, was beim Bund nicht optimal läuft. Das benenne ich auch in aller Deutlichkeit. Man hätte sehr viel früher das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit mehr Personal ausstatten müssen. Da sagen manche: Woher nehmen? Ich ha be schon mehrfach gesagt: Die bewaffneten Zöllner, die den Mittelstand heimsuchen, um die Dokumentationspflichten beim Mindestlohn zu kontrollieren, wären beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deutlich besser aufgehoben als bei dieser Aufgabe, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Der Wohnungsbau ist die Aufgabe des Landes. Man kann na türlich den Bund auffordern, mehr Gelder für den Wohnungs bau zur Verfügung zu stellen. Allerdings stelle ich mir das schon einigermaßen schwierig vor, wie Sie das in den Ver handlungen deutlich machen wollen, Herr Ministerpräsident. Sie und vor allem Ihr Finanzminister haben nämlich über Jah re in diesem Parlament erklärt: „Wir sind in einer desaströsen Haushaltssituation, Erblasten, strukturelle Defizite, von der Vorgängerregierung übernommen, und die Vorgängerregie rung zwingt uns zu neuen Schulden.“ Jetzt erfahren wir plötz lich am Ende der Sommerpause vom Kollegen Schmiedel: „Wir brauchen einen Nachtragshaushalt in Milliardenhöhe. Das ist aber kein Problem; das haben wir in der Kasse.“ Drei Tage später setzt der Finanzminister noch einen obendrauf mit der Aussage: „Wir können auch auf Neuverschuldung verzich ten. Kein Problem; das haben wir alles in der Kasse.“

Wie glaubwürdig ist eine solche Politik, und wie glaubwür dig sind Sie, wenn Sie dann in Berlin sagen, Sie brauchen das Geld des Bundes für den sozialen Wohnungsbau? Wenn ich Schäuble wäre, würde ich Ihnen sagen: „Bei den Schätzen, die ihr im Wochenrhythmus in eurem Landeshaushalt hebt, könnt ihr das wahrscheinlich selbst aus der Portokasse bezah len.“ Sie müssen sich also schon überlegen, wie glaubwürdig Ihre Haushaltspolitik ist und wie glaubwürdig das ist, was Sie

und Ihr Finanzminister über Jahre zum Landeshaushalt erzählt haben.

Sie können auch einen Beitrag zur Verkürzung der Verfahrens dauer leisten. Wir haben beim Flüchtlingsgipfel über Verwal tungsrichterstellen geredet. Ich habe Minister Stickelberger gefragt: „Reichen Ihnen die 16 Verwaltungsrichterstellen?“ Er hat gesagt: „Ja, das reicht.“ Jetzt schauen wir uns einmal den Antragsstau bei den vier Verwaltungsgerichten im Land Baden-Württemberg an. Ich sage Ihnen: Das reicht eben nicht. Es genügt nicht, immer nur auf den Bund zu zeigen. Uns fehlt bei Ihnen die Einsicht in eigene Fehler und Versäumnisse und das notwendige Maß an Anstrengungen in diesem Zusammen hang, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Es ist richtig, zu sagen: Wir brauchen einen Ausbildungs- und Beschäftigungskorridor für Menschen aus den Balkanstaaten. Ich habe im ersten Teil der Debatte deutlich gesagt, es wäre volks- und betriebswirtschaftlicher Unfug, diejenigen, die schon lange hier sind und beispielsweise in Handwerksbetrie ben und im Mittelstand integriert sind, abzuschieben, weil am Ende eines langen Verfahrens herauskommt, dass sie nicht po litisch verfolgt sind.

(Zuruf: So ist es!)

Wir werden weiter – Stichwort Pflege – Menschen vom Bal kan für unseren Arbeitsmarkt brauchen. Dafür müssen wir ei ne Zugangsmöglichkeit schaffen, aber eben nicht über das Asylrecht. Deshalb ist es notwendig, Anreize zu beseitigen. Denn Sie haben selbst gesagt: Es gibt Sachleistungen in den Erstaufnahmestellen, aber es gibt auch ein Taschengeld. Das ist ein Problem.

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Das ist Ihr Problem!)

Das ist ein Fehlanreiz, über den man diskutieren muss. Ich hoffe sehr, dass Sie das nächste Woche auch tun.

In Ihrer Rede hat Ihre Positionierung zu dem, was Sie in der nächsten Woche tun wollen, gefehlt. Sie haben beschrieben, was in der Vergangenheit passiert ist, haben ein Grundsatzbe kenntnis abgelegt, haben deutlich gemacht, dass die Heraus forderung groß ist, haben Verantwortlichkeiten beim Bund be nannt, haben sich aber nicht zu den eigenen Versäumnissen bekannt und auch nicht dargestellt, mit welcher Positionie rung Sie nächste Woche in die Verhandlungen gehen möch ten. Das fehlt uns.

Sie sagen nun – wie auch Kollegin Sitzmann –, zur Evaluati on der sicheren Herkunftsländer liege nichts vor. Ich kann es Ihnen liefern, erschienen am 18. September beim Institut für Wirtschaftsforschung in Kiel.

(Zuruf von der SPD: Ja!)

Das Institut für Wirtschaftsforschung in Kiel hat sich einmal angeschaut, wie sich die Flut der Asylbewerber entwickelt hat. Dabei geht es einerseits um die Länder auf dem Westbalkan, die nicht als sichere Herkunftsländer eingestuft sind, nämlich Albanien, das Kosovo und Montenegro; hierzu haben wir am heutigen Tag ebenfalls eine klare Positionierung von Ihnen

vermisst. Auf der anderen Seite wurden die drei Staaten un tersucht, die im vergangenen Jahr als sichere Herkunftsländer eingestuft worden sind, nämlich Serbien, Bosnien-Herzego wina und Mazedonien.

Das Ergebnis ist: Die Zahl der Asylbewerber aus den als nicht sicher eingestuften Ländern ist im Jahr 2015 im Vergleich zu 2014 um 724 % gestiegen; sie hat sich also um mehr als das Siebenfache erhöht. Die Zahl der Asylbewerber aus den an deren drei Ländern, den als sicher eingestuften Herkunftslän dern, ist hingegen nur um 32 % gestiegen. Wenn das kein Un terschied ist – 724 % gegenüber 32 % –, dann würde ich gern wissen, was Sie als Beweis noch anerkennen. Ich sage es Ih nen, meine Damen und Herren: Es ist reine Ideologie.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜNE)

Denn das Lager der Fundamentalisten bei den Grünen will das nicht. Und Sie kommen dann mit den seltsamsten Argumen ten. In einem Ihrer Beiträge, Frau Sitzmann, habe ich gelesen, dies würde in Bezug auf die Verfahrensdauer nur zehn Minu ten bringen. Ja, selbst wenn es nur zehn Minuten bringt: Wa rum machen Sie es denn nicht? Wir müssen doch vielfältige Maßnahmen treffen, die letztlich insgesamt etwas bewirken.

Ich traue Ihnen, Herr Ministerpräsident, sowie dem Staatsmi nisterium zu, dass Sie sich die von Ihnen verlangten Zahlen beim Kieler Institut für Wirtschaftsforschung besorgen. Wenn Sie es nicht schaffen, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich, dann bekommen Sie diese Zahlen von mir.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Wir erwarten von Ihnen, dass Sie der Einstufung dieser Län der als sichere Herkunftsländer zustimmen und dass Sie auch weitere Fehlanreize beseitigen. Das ist Ihre Aufgabe als Mi nisterpräsident des Landes Baden-Württemberg. Es ist rich tig, sich dazu zu bekennen und zu unterscheiden zwischen den tatsächlich politisch Verfolgten auf der einen Seite und den Wirtschaftsflüchtlingen auf der anderen Seite. Das haben Sie deutlich getan. Aber diesem Bekenntnis müssen jetzt auch konkrete Handlungen und konkrete Maßnahmen folgen.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Das Wort für die Fraktion GRÜ NE erhält Frau Fraktionsvorsitzende Sitzmann.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der Reden von Herrn Wolf und Herrn Rülke könnte man fast meinen, Minis terpräsident Kretschmann hätte hier gar nicht gesprochen.