Die Realschulen erhalten nun die Möglichkeit, auch denjeni gen Kindern und Jugendlichen ein Angebot zu machen, die nicht, noch nicht oder nicht durchgängig auf dem mittleren Niveau lernen können. Dadurch steigern wir nicht nur die At traktivität der Realschulen. Wir leisten damit auch einen Bei trag dazu, dass alle Kinder die Möglichkeit haben, den von ihnen gewünschten Schulabschluss in erreichbarer Nähe zu erwerben.
Ich glaube, ich sage Ihnen auch nichts Neues, wenn ich dar auf hinweise, dass immer mehr Haupt- und Werkrealschulen mangels der notwendigen Schülerzahlen in Zukunft nicht mehr vorhanden sein werden. Deswegen müssen wir auch aus strukturellen Gründen – nicht nur aus pädagogischen, sondern auch aus strukturellen Gründen – auf diese Entwicklung re agieren.
Die notwendige Basis dafür, dass diese Konzeption erfolg reich sein kann, ist der gemeinsame, nach Niveaustufen struk turierte Bildungsplan für die Sekundarstufe I, der, wie Sie wis sen, im Schuljahr 2016/2017 an unsere Schulen kommen wird. Auch hierfür schaffen wir durch die Änderung des Schulge setzes, über die wir heute diskutieren, die rechtliche Grund lage.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, niemand, der sich ernsthaft mit den Schulen in Baden-Württemberg auseinan dersetzt, wird bestreiten können, dass das stark gegliederte Schulsystem im Hinblick auf die aktuellen Veränderungen an seine Grenzen stößt. Der Rückgang der Schülerzahlen und auch die zunehmende Vielfalt an Bildungsvoraussetzungen – ich nenne als ein Beispiel Kinder, die als Flüchtlinge zu uns in unser Bildungssystem kommen – machen es immer schwe rer, diesen Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit in einem ge gliederten Schulsystem gerecht zu werden. Auch in den meis
Klar ist: Allein über eine äußere Differenzierung lässt sich die zunehmende Begabungsvielfalt bei gleichzeitig sinkenden Schülerzahlen nicht mehr abbilden. Vielmehr muss die Diffe renzierung auch im Klassenzimmer durch moderne pädago gische Konzeptionen und neue Unterrichtsformen erfolgen. Deswegen haben wir uns aus gutem Grund für ein weniger stark gegliedertes System, für ein Zweisäulensystem, entschie den. Die Realschulen sind mit diesem Konzept in die Lage versetzt worden, sich in dieser zweiten Säule zu einer stärker integrativen, aber auch erfolgreichen Schulart für ihre Schü lerinnen und Schüler zu entwickeln. Mit der Erweiterung des Auftrags der Realschule wird ein ganz wesentlicher Schritt in diese Richtung unternommen. In anderen Bundesländern und auch international geht die Entwicklung – Sie wissen dies – ebenfalls in Richtung weniger stark gegliederter oder diffe renzierender Schulsysteme.
Auch die CDU – ich habe das an Ihrem Konzept ablesen kön nen – hat mittlerweile verstanden, dass wir unsere Schulland schaft in einem solchen Sinn weiterentwickeln müssen. Aber Sie gehen in Ihrer Konzeption diesen Weg eben nicht konse quent. In Ihrem Eckpunktepapier für ein Gesetz zur Stärkung und Modernisierung der Realschule wird beispielsweise deut lich, dass Sie zwar die Richtung anerkennen, dass Sie aber scheinbar den Weg nicht finden können oder möchten. So pla nen Sie ebenfalls in der Realschule eine Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6.
Ihr Konzept beschränkt sich dabei aber auf zusätzliche För der- und Unterstützungsangebote. Gleichzeitig heben Sie her vor, dass die Realschulen eine erweiterte allgemeine Bildung vermitteln. Eine echte Orientierungsstufe, meine sehr geehr ten Damen und Herren, kann dies nicht sein.
Ab Klasse 7 trennen Sie dann in einen Praxisweg, der zum Hauptschulabschluss führen soll, und einen Realschulweg.
Ich möchte gern meine Ausführungen bis zum Schluss vortragen, dann würde ich gern auf die Frage antworten.
Wie Sie dann in den folgenden Klassenstufen Durchlässigkeit ge währleisten möchten – auch bei unterschiedlicher Entwick lung der Schülerinnen und Schüler –, bleibt völlig unklar. Un ser Gesetzentwurf sieht eben vor, dass nach jedem Schulhalb jahr Schülerinnen und Schüler, auch was ihre Niveauzuwei sung angeht, neu eingruppiert werden können. Damit garan tieren wir eine größere Durchlässigkeit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch mit der Bin nendifferenzierung tun Sie sich in Ihrem Eckpunktepapier sehr schwer. So soll in Ihrem Praxisweg mindestens in den Fächern Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen und Naturwissenschaf ten leistungsdifferenzierter Unterricht stattfinden.
Wie es scheint, sehen Sie also die Notwendigkeit, binnendif ferenzierten Unterricht einzuführen, aber nur in den zentralen Fächern; doch beim Realschulweg können Sie sich dazu of fensichtlich nicht durchringen. Warum Sie diese Möglichkeit dann überhaupt einführen möchten, bleibt Ihr Geheimnis.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten, glaube ich, wenn wir uns über die Weiterentwicklung unserer Schul landschaft und insbesondere der pädagogischen Konzeption der Realschule unterhalten, auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen blicken.
Die Weiterentwicklung der Realschule ist in diesem Zug ein großer Schritt, der auch und gerade der Unterschiedlichkeit der Schüler – ich habe es beschrieben – gerecht wird. Mir ist bewusst, welche Veränderungsbereitschaft wir damit auch den Lehrerinnen und Lehrern abverlangen. Klar ist auch, dass die Realschulen für diese Entwicklungsaufgabe Zeit und Ressour cen brauchen.
Es geht bei der Änderung des Schulgesetzes nicht nur um ei nen weiteren Abschluss, einen weiteren Bildungsgang an der Realschule; es geht dabei auch um eine Entwicklung der pä dagogischen Konzeption, um die Einführung auch individu alisierter Lernformen und um Unterricht auf unterschiedlichen Niveaustufen. Die Rückmeldungen zu diesem Vorhaben, über das wir heute debattieren und in zweiter Lesung dann ent scheiden werden, waren ganz überwiegend sehr positiv.
Natürlich gibt es auch noch Zweifel und Bedenken bei den Lehrerinnen und Lehrern, die die Arbeit vor Ort leisten müs sen. Diese nehmen wir sehr ernst. Wir werden die Lehrerin nen und Lehrer bei der Bewältigung dieser Herausforderun gen nach Kräften unterstützen. Beispielsweise werden wir die Umsetzung dieses Vorhabens mit umfassenden Fortbildungs angeboten, auch bezogen auf die neue Systematik des Bil dungsplans, begleiten. Ferner stellen wir in großem Umfang zusätzliche Ressourcen bereit, sodass die Realschulen zukünf tig mit Poolstunden im Umfang von zehn Stunden eine Per sonalausstattung haben werden, wie sie diese in der Geschich te der Realschule in Baden-Württemberg noch zu keinem Zeit punkt hatten, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Lassen Sie mich abschließend noch auf einen Kongress zu rückkommen, der am vergangenen Wochenende in Kornwest heim stattfand, einen Bildungskongress mit dem Thema „In dividualisiertes Lernen – Schule im Wandel“.
Gut 450 Eltern und Pädagogen kamen zu dieser Veranstaltung. Ich war von der Offenheit und dem großen Interesse an die ser Thematik wirklich sehr beeindruckt. Denn dort wurde deutlich, dass das Thema „Wie gehe ich mit der Unterschied
lichkeit der Schülerinnen und Schüler an allen Schularten um?“ ein aktuelles Thema ist, dem sich die Lehrerinnen und Lehrer in Baden-Württemberg an allen Schularten stellen wol len und aus meiner Sicht – die ermutigenden Beispiele haben dies gezeigt – auch stellen können.
Ich bin der festen Überzeugung, dass angesichts der gesell schaftlichen Entwicklungsprozesse auch individualisierte Lernformen in Zukunft stärker an unseren Schulen Platz grei fen müssen. Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Her ren, rufe ich alle dazu auf, den Realschulen heute die Mög lichkeit und den Weg zu dieser Entwicklung frei zu machen und in zweiter Lesung diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Herr Kultusminister, ich wollte eine Frage stellen, als Sie gerade über die Orientie rungsstufe an den Realschulen gesprochen haben. Ich habe dazu jetzt zwei Fragen.
Das Sitzenbleiben wird in der Orientierungsstufe in der fünf ten Klasse abgeschafft. Können Sie hier noch einmal die Gründe darlegen, warum Sie das für den richtigen Weg hal ten?
In der sechsten Klasse – auch in der Orientierungsstufe – ver zichten Sie darauf, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Da bleibt es erhalten. Können Sie die Gründe hierfür und die Voraus setzungen, dass ein Schüler, eine Schülerin in der sechsten Klasse sitzen bleibt, kurz darlegen?
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Lieber Herr Kollege Kern, der Sinn einer Orientierungsstufe ergibt sich ganz wesentlich aus der Tatsache – das ist die Beschreibung aller weiterfüh renden Schulen –, dass die Schüler mit höchst unterschiedli chen Voraussetzungen aus den Grundschulen kommen.
Schülerinnen und Schüler, die auf dem Papier möglicherwei se in Mathematik eine Eins an der einen Schule haben, kön nen bei Weitem leistungsschwächer sein als Schülerinnen und Schüler mit einer Eins von einer anderen Grundschule. Der Sinn einer Orientierungsstufe ist es, die Schülerinnen und Schüler von ihrem Lernstand, den sie von der Grundschule mitbringen, auf den Lernstand an der Schule zu bringen, die sie zukünftig besuchen.
Sehr oft stellen wir fest – das zeigen auch Beispiele in ande ren Bundesländern, die mit diesem Modell arbeiten –, dass dieses erste Jahr, die Klasse 5, nicht ausreicht, um die Schü lerinnen und Schüler ihrem tatsächlichen Leistungspotenzial gemäß an das Niveau der entsprechenden Schule heranzufüh ren. Deswegen wird in aller Regel bei Einrichtung einer Ori entierungsstufe mit Klasse 5 und Klasse 6 auf die Versetzungs entscheidung in Klasse 5 verzichtet. Denn es ist klar, dass Schülerinnen und Schüler oft erst dann ihr tatsächliches Po tenzial entwickeln können.
Deswegen werden wir zukünftig bei entsprechender Umset zung im unterrichtlichen Geschehen die Schülerinnen und Schüler auf dem jeweiligen Niveau – auf dem grundständigen oder mittleren Niveau – fördern, auf dem sie sich in ihrer Lernentwicklung befinden.
Wir werden dann die Frage zu beantworten haben, auf wel chem Lernniveau jeweils diese Leistungsmessung stattfindet, auch die Benotung, die es weiterhin geben wird. Aber es wird eben keine Versetzungsentscheidung am Ende von Klasse 5 geben. Es wird aber am Ende von Klasse 6 bei Gültigkeit der multilateralen Versetzungsordnung eine Versetzungsentschei dung geben. Diese Versetzungsentscheidung kann dann aber eine Versetzungsentscheidung auf der Basis des mittleren Ni veaus sein. Sie kann aber auch eine Versetzungsentscheidung auf der Basis des grundständigen Niveaus sein.
Deswegen bleibt grundsätzlich die Notengebungsverordnung in Kraft. Es bleibt auch die multilaterale Versetzungsordnung in Kraft. Damit schaffen wir es, Schülern nicht von vornher ein zu signalisieren, dass der Leistungsabstand z. B. zum mitt leren Niveau zu groß ist und dieses Niveau deshalb für sie un erreichbar ist. Unser Ziel ist es – das ist der Sinn der Orien tierungsstufe –, Schülerinnen und Schüler durch Förderung im unterrichtlichen Geschehen auch in die Lage zu versetzen, positive Lernmotivation zu entwickeln, um damit den erfolg reichen Weg auch an der Realschule gehen zu können.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweifelsohne hat die Real schule einen festen Platz in der Mitte unserer Gesellschaft. Es hat schon sehr beeindruckt, als die Realschulen in BadenWürttemberg mit Realschulen auch aus anderen Bundeslän dern am 17. April dieses Jahres einen gemeinsamen „Süddeut schen Realschultag“ in Ulm veranstaltet haben, auf dem füh rende Vertreter der Wirtschaft aus Baden-Württemberg und aus Deutschland insgesamt den besonderen Stellenwert des pädagogischen Auftrags der Realschulen untermauert haben.
Meine Damen und Herren, zweifelsohne hat die Realschule in Baden-Württemberg – das war immer ein Kernelement ei ner vernünftigen CDU-Bildungspolitik in Baden-Württem berg – dazu beigetragen, dass die jungen Menschen an den Realschulen ein Ticket für das Berufsleben bekommen haben.
Herr Minister, ich bin Ihnen auch dankbar, dass Sie das nicht in Abrede gestellt haben. Auch wenn es nicht Ihre Absicht war: Sie haben damit zumindest in diesem Bereich auch die vorherige Bildungspolitik der CDU gewürdigt.
Wenn 21 % der Kinder mit einer Gymnasialempfehlung auf die Realschule gehen – damit ist dieser Anteil gestiegen –, dann zeigt das, dass die jungen Menschen nach wie vor ein