Protocol of the Session on June 10, 2015

Lange Zeit wurde den entsprechenden Herkunftsfamilien empfohlen, sie mögen doch mit ihren Kindern zu Hause aus schließlich deutsch sprechen, und noch vor Kurzem wollte der CSU-Generalsekretär ihnen dies sogar vorschreiben. Objek tiv ist eine solche Forderung – wenn ich mir dieses Sprach spiel erlauben darf – „be-scheuert“. Deren Umsetzung wäre sprachwissenschaftlich und hirnorganisch gesehen der größt mögliche Unsinn. Denn ganz im Widerspruch zu einer schlich ten Stammtischlogik wurde festgestellt, dass Kinder, die bei spielsweise erst im Alter von zehn Jahren nach Deutschland eingewandert sind, die deutsche Sprache in der Regel schnel ler lernen und schulisch erfolgreicher sind als viele hier ge borene Kinder.

Die Linguisten haben für dieses Phänomen eine plausible Er klärung: Jedes Kind kommt mit einem Talent zum Spracher werb auf die Welt und bringt eine sogenannte Urgrammatik mit, die dann durch Lernen und Erfahrung zu einer vollstän digen Sprachkompetenz heranreift. Wenn ein Kind eine Spra che grundsätzlich beherrscht, kann es auch weitere Sprachen sehr viel leichter erlernen, und wenn eine vielfältige, fordern de Umgebung vorhanden ist, entwickelt sich auch Mehrspra chigkeit auf hohem Niveau. Wenn die Umgebung eines Kin des aber keinen vollständigen Spracherfahrungsraum bietet, wird keine Sprache richtig gelernt, und wenn dann Eltern, de ren Deutsch fehlerhaft ist, auch noch dazu aufgefordert wer den, nur deutsch mit ihren Kindern zu reden, dann entsteht der größtmögliche Schaden: doppelte Halbsprachigkeit und da mit drastisch verminderte Lebenschancen.

Muttersprachlicher Unterricht kann dazu beitragen, dass Lü cken in der Urgrammatik eines Kindes geschlossen werden und somit in der Folge auch das Erlernen der deutschen Spra che erleichtert wird. Deshalb ist muttersprachlicher Unterricht auf jeden Fall besser als kein muttersprachlicher Unterricht – nicht nur, weil Mehrsprachigkeit ein Vorteil ist, sondern auch, weil muttersprachlicher Unterricht oft eine Voraussetzung da für ist, dass überhaupt eine Sprachkompetenz entwickelt wer den kann.

Perspektivisch ist allerdings das gegenwärtige Modell des muttersprachlichen Unterrichts, das sogenannte Konsulatsmo dell, keine gute Lösung. Es basiert auf der Vorstellung, die in den Siebzigerjahren noch gegolten hat, es müsse darum ge hen, die Rückkehrbereitschaft und Rückkehrkompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund zu erhalten. Das ist völ lig überholt: Aus Ausländern und Ausländerinnen sind längst Einwanderer und Einwanderinnen, also Inländer und Inlände rinnen, geworden, und es ist eine Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass die allermeisten Men

schen mit Migrationshintergrund auf Dauer hier leben und zu unserer Gesellschaft gehören.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Der grün-rote Koalitionsvertrag liegt deshalb völlig richtig: Es kann nicht die Aufgabe ausländischer Konsulate bleiben, allein über die Inhalte und die Gestaltung eines muttersprach lichen Unterrichts zu bestimmen. Ein Verzicht auf eine inlän dische, also baden-württembergische Schulaufsicht ist hier auf Dauer ebenso wenig hinnehmbar wie etwa beim muslimischen Religionsunterricht.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Nachhaltig sinnvoll wird muttersprachlicher Unterricht aber erst, wenn die darin tätigen Lehrerinnen und Lehrer nicht da rauf reduziert werden, eine ausländische Kultur zu vermitteln, sondern wenn sie auch unser Land kennen und in der Lage sind, interkulturelle Verständigung zu ermöglichen und Kin dern und Jugendlichen dabei zu helfen, ihren eigenen Weg in dieser Gesellschaft zu finden. Von Konsulaten aus den Her kunftsländern importierte Lehrkräfte sind darauf nicht vorbe reitet. Wenn wir den muttersprachlichen Unterricht umstellen – dazu stehen wir –, dann wird das zusätzliches Geld kosten. Aber das ist nur dann gut angelegt, wenn wir es richtig ma chen.

Muttersprachliche Förderung muss möglichst frühzeitig und alltagsintegriert einsetzen, also am besten bereits in der Kita. Wir brauchen dazu qualifizierte, mehrsprachige Lehrkräfte mit interkultureller Kompetenz. Diese müssen wir ausbilden und gezielt qualifizieren; denn sie sind nicht einfach per Stellen anzeige zu rekrutieren. Für die Entwicklung und Umsetzung eines zeitgemäßen muttersprachlichen Unterrichts brauchen wir also einen gesellschaftlichen Verständigungsprozess, für den diese Landesregierung mit ihrem interkulturellen Dialog, mit ihrer Politik des Gehörtwerdens, mit ihrer aktiven Integ rations- und Inklusionspolitik und übrigens auch mit einer Vervielfachung der Mittel in der Sprachförderung wichtige Grundlagen legt.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Zum Beschlussantrag der FDP/DVP und auch zu den Ausfüh rungen des Kollegen Schebesta kann ich nur sagen: Den Deutschunterricht für Flüchtlinge und den muttersprachlichen Unterricht für Migrantinnen und Migranten gegeneinander auszuspielen ist ähnlich sinnvoll, wie die Luftreinhaltung und den Gewässerschutz gegeneinanderzustellen – nur weil bei des irgendwie mit Umwelt zu tun hat.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Volker Schebesta CDU)

Reden wir also nicht über durchsichtige Taktik, sondern über Inhalte.

Vielen Dank.

(Beifall bei den Grünen)

Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Fulst-Blei.

Sehr geehrter Herr Präsi dent, Kolleginnen und Kollegen! Machen wir uns nichts vor. Die Wahl des heutigen Themas für eine Aktuelle Debatte zeigt im Wesentlichen die Hilflosigkeit der CDU auf. Man klam mert sich offensichtlich an Scheingegensätzen bei der Regie rungskoalition fest.

Ich war durchaus interessiert, was Sie, Kollege Schebesta, heute noch an inhaltlicher Substanz liefern wollten. Aber das war, ehrlich gesagt, mehr als schwach.

(Abg. Volker Schebesta CDU: Gibt es jetzt die Aus sage von Lede Abal oder nicht?)

Im Grunde gestehen Sie ein, dass Ihnen die großen Themen ausgehen. Während unser roter Faden, z. B. im Rahmen eines Zweisäulensystems, immer breiter an Akzeptanz gewinnt, kommt von Ihnen inhaltlich nichts – kein Konzept, kein in haltlicher Vorschlag zum Reiben, nichts. Im Grunde bleiben Sie Ihrer Linie im bildungspolitischen Einmaleins treu: Null mal null ist null.

(Abg. Winfried Mack CDU zur SPD: Beifall? Kein Beifall! Was ist los?)

Zur Sache selbst: Der muttersprachliche Unterricht leistet in der Tat einen wichtigen Beitrag für die Integration von Kin dern und Jugendlichen, hat eine identitätsstiftende Wirkung. Er stärkt die Persönlichkeit und das Selbstbewusstsein im Um feld der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Dies betrifft Kin der und Jugendliche aus Ländern wie Italien, Türkei, Polen, Griechenland oder auch Kroatien.

Diese Bilingualität hat aber auch eine Bedeutung auf dem Ar beitsmarkt. Denken wir z. B. an die starke Entwicklung der Türkei oder auch von Polen als Wirtschaftsnation. Hier gilt es meines Erachtens auch einen Kompetenzschatz weiter zu för dern, und dies wird auch weiterhin erfolgen. Derzeit nehmen 44 366 Schülerinnen und Schüler an solchen Kursen teil. Das Land unterstützt das Angebot mit rund 1 Million € jährlich. Dies geschieht auch deshalb, weil es durchaus auch positive Rückmeldungen zur Zusammenarbeit mit den Konsulaten gibt.

Ein finanzielles Mehr wäre wünschenswert. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags hatten wir übri gens auch keinen Einblick in die von Ihnen hinterlassenen schwarzen Haushaltslöcher. Sie erinnern sich: Lehman Brot hers der Bildungspolitik. Wir hatten auch keine Vorstellun gen, welche anderen integrationspolitischen Herausforderun gen bis zum Ende der Legislaturperiode auf uns zurollen. Ich rede hier beispielsweise auch von der Flüchtlingswelle. Rund 60 Millionen € würde die Übernahme des muttersprachlichen Unterrichts kosten. Für uns, die wir im Gegensatz zu Ihnen eine nachhaltige Finanzierung des Bildungsetats sichergestellt haben, ist dies viel Geld. Zum jetzigen Zeitpunkt bedeutet dies in der Tat eine Prioritätensetzung. Wie kommentierte Arnold Rieger in den „Stuttgarter Nachrichten“?:

Es ist gut, dass der Kultusminister hier Realitätssinn be weist...

Dieser Realitätssinn besteht aktuell auch darin, dass das Kul tusministerium erst am Montag wieder vermelden konnte, dass jährlich 21 Millionen € in die Sprachförderung für Kin

dertagesstätten für Flüchtlinge investiert werden. Dieser Re alitätssinn besteht weiter darin, dass rund 400 neue Lehrer stellen für Vorbereitungsklassen an Grundschulen, weiterfüh renden und beruflichen Schulen geschaffen werden. Dieser Realitätssinn ist in der Tat eine notwendige Reaktion auf die erwartete Verdopplung der Flüchtlingszahlen in nur einem Jahr.

Wir danken der Landesregierung ausdrücklich für dieses ent schiedene Investieren in die Zukunft, übrigens nicht nur in die Zukunft der Menschen, sondern auch in die Zukunft unseres Landes. Denn auch dies ist Teil einer Antwort auf den demo grafischen Wandel und den Fachkräftemangel. Der aktuelle Bildungsbericht 2015 zeigt, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund aufholen und immer häufiger höhere Bildungsabschlüsse erreichen und die Zahl der Abgänger oh ne Abschlüsse weiter sinkt. Es gibt weiterhin eine erhebliche Diskrepanz zu deutschen Schülern, aber dieser Abstand ver ringert sich. Die Maßnahmen der Landesregierung unterstüt zen diesen Prozess. Ganztagsschule, Gemeinschaftsschule, Ausweitung der Sprachförderung im Rahmen von SPATZ, Schulsozialarbeit, Abschaffung von Studiengebühren – all das sind Maßnahmen, die in diese Richtung gehen.

Kollege Schebesta, Ihre Ausführung kann ich auch vor dem Hintergrund nicht verstehen, dass wir mit dem Nachtragshaus halt gerade weitere 180 Stellen für die Grundschulen – dort für die Sprachförderung – bereitgestellt haben. Dies zeigt, dass die Landesregierung hier wirklich unterwegs ist und dass sie die großen Überschriften „Bildungsgerechtigkeit“ und „Si chere Zukunft für ein erfolgreiches Land“ sehr ernst nimmt.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Dies gilt eben für Menschen mit und ohne Migrationshinter grund. Perspektivisch kann man durchaus über die Übernah me des muttersprachlichen Unterrichts reden, zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir dies aber zurückstellen. Dies sagen wir bewusst, aber durchaus auch selbstbewusst.

Ich erinnere daran: 2016 wird der Bildungsetat des Landes erstmals die 10-Milliarden-€-Grenze überschreiten. Dafür ha ben wir seitens der SPD hart gekämpft, und darauf sind wir auch zu Recht stolz.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Für die Fraktion der FDP/DVP erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Kern.

Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen! Herr Kultusminister, nachdem die FDP/DVP und Sie in den vergangenen Jahren in Bildungsfra gen ja nicht immer zu 100 % übereinstimmten, hoffe ich, dass meine heutige Rede Sie nicht völlig aus dem inneren Gleich gewicht bringen wird. Denn heute bekommen Sie Lob von der FDP/DVP-Landtagsfraktion.

Sie werden sich jetzt vielleicht fragen: Womit habe ich denn das verdient? Denn Sie haben bei einem allseits für gut befun denen bildungspolitischen Vorhaben, nämlich muttersprach lichen Unterricht auch regulär an den Schulen anzubieten, „Basta!“ gesagt. Mit solch einer Entscheidung macht man sich

eigentlich bei niemandem beliebt, weder beim Koalitionspart ner noch bei der Opposition.

Herr Kultusminister, Sie bekommen heute unser Lob, weil Sie Mut hatten zu einer unbequemen, aber aus unserer Sicht rich tigen Prioritätensetzung. Aus Sicht der Freien Demokraten hat die Integration der Flüchtlinge in der heutigen Situation Pri orität. Wir Freien Demokraten halten es für erforderlich, dass junge Flüchtlinge so schnell wie möglich eine Schule besu chen, Deutsch lernen und sich auf einen späteren Beruf vor bereiten können. Wir hätten uns von Ihnen freilich schon frü her einmal gewünscht, den Mut aufzubringen, schlicht auf die Menschen und ihre Bedürfnisse zu blicken und zu fragen: Was ist notwendig, und was ist machbar? Sie hätten sich lieber we niger der Frage widmen sollen, was die Grünen wollen.

Wenn die SPD mit nüchternem, unverstelltem Blick die Her ausforderungen im Bildungswesen angegangen wäre und sich damit aus der dogmatischen grünen Umklammerung gelöst hätte, wäre uns im Bildungsbereich viel Unheil erspart geblie ben, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Wenn Sie, Herr Kultusminister, jetzt finden, die oppositionel le FDP/DVP mache es Ihnen heute aber leicht, muss ich Ih nen aber doch etwas Wasser in den Wein schütten. Ihr Hin weis auf die Prioritätensetzung darf nämlich keine bloße Aus rede sein. Wir Freien Demokraten erwarten von Ihnen, dass Sie sich verpflichten, für jeden jungen Flüchtling ein passen des Schulangebot bereitzustellen. Unser Änderungsantrag gibt Ihnen die Gelegenheit, Ihre Glaubwürdigkeit heute zu bewei sen.

Konkret beantragen wir,

1. die Vorbereitungsklassen mit Deutschunterricht an den

allgemeinbildenden Schulen sowie berufsvorbereiten de Klassen an den beruflichen Schulen zügig und be darfsgerecht auszubauen, sodass für jeden Flüchtling bis zu einem Alter von 25 Jahren ein passendes schu lisches Angebot bereitsteht;

2. von einer Überführung des bislang durch die jeweili

gen Herkunftsländer organisierten muttersprachlichen Unterrichts in regulären Unterricht an den badenwürttembergischen Schulen abzusehen, bis der Aus baustand bei den schulischen Angeboten für junge Flüchtlinge den Bedarf bzw. die Nachfrage deckt.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr guter Antrag!)

Die FDP/DVP-Landtagsfraktion bittet allseits um Zustim mung bzw. darum, über den eigenen Schatten zu springen, wem die Zustimmung noch schwerfällt. Die schulische Inte gration junger Flüchtlinge ist ein zu wichtiges gemeinsames Anliegen für Baden-Württemberg, als dass Parteien- oder Ko alitionsstreit dem im Wege stehen sollte.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)