Protocol of the Session on July 27, 2006

Große Koalitionen sind große Chancen, aber nur dann, wenn es viele Gemeinsamkeiten gibt. Es gibt bei keinem anderen Themenfeld so viele und so sehr unterschiedliche Vorstellungen wie bei der Gesundheitspolitik. Ich glaube, unter diesem Zeichen steht auch der Kompromiss, der gefunden worden ist. Aus der Sicht der CDU gilt das Wort von Machiavelli: „Wer sich mit einem halben Sieg begnügt, handelt allzeit klug. Denn immer verliert, wer einen Sieg bis zur Vernichtung des Gegners anstrebt.“ So etwa darf man sich die Formulierung der Eckpunkte vorstellen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Ich will zurück zur Sachlichkeit. Ulrich Noll hat einiges angesprochen. Ich will es etwas konkretisieren. Wo sind unsere Probleme in Baden-Württemberg? Ein großes Problem ist, dass die Baden-Württemberger – und das ist gut so – im Durchschnitt etwa 15 % mehr verdienen als andere Bürger in Deutschland, einfach deshalb, weil unsere Löhne höher sind.

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Weil wir eine gute Landesregierung haben!)

Mit den höheren Löhnen sind bisher günstige Beiträge im Land möglich gewesen. Diese höheren Löhne führen jetzt dazu, dass Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger bei gleicher Beitragsabführung schlicht und ergreifend mehr Geld in diesen Fonds einzahlen als bisher

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Richtig! Und we- niger herausbekommen!)

und wir einen neuen Risikostrukturausgleich bekommen. Wir zahlen nicht nur mehr ein, sondern wir bekommen auch weniger heraus. Denn künftig werden Ärzte und Krankenhäuser in Baden-Württemberg nicht mehr individuell verhandelt, sondern wir bekommen Bundesdurchschnittszahlen.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Alles zentral und einheitlich!)

Diese Bundesdurchschnittszahlen führen dazu, dass wir mehrere Hundert Millionen Euro mehr einzahlen, dafür aber zu unserer Freude mehrere Hundert Millionen Euro weniger zurückbekommen.

(Zuruf des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP)

Ich glaube, damit kann man nicht zufrieden sein; damit darf auch niemand zufrieden sein.

Ich will es noch etwas konkretisieren. Wir haben Sonderversorgungsformen in Baden-Württemberg, und zwar sehr gute, die auch die Behandlung in Baden-Württemberg im

Vergleich zu anderen Ländern für die Patienten qualitativ verbessert haben: Geriatriekonzept, Schlaganfallkonzept oder das jüngste Kind, an dem auch unsere Sozialministerin sehr hängt: das Thema Brustkrebszentren. Diese Konzepte sind mit den Krankenkassen verhandelt, sie sind innovativ finanziert, und sie tragen zu einer Qualitätsverbesserung bei. Was sie nicht vertragen können, ist eine bundeseinheitliche Gestaltung der Vertragskonditionen;

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: So ist es!)

denn dann sind diese Modelle uninteressant. Die Brustzentren waren der letzte große Wurf, der gemacht worden ist; wir sind dabei federführend. Wenn man sich auf ein solches Modell einlässt, muss man die Chance haben, mit einem solchen Modell nicht nur Qualitätssteigerungen zu erhalten, sondern auch Kosteneinsparungen. Wenn man aber am Beitragssatz keine Kosten mehr abbilden kann, sondern einen Einheitssatz hat, dann kann man sich zurücklehnen. Die Kassen können ihre Mitarbeiter entlassen, denn die Verträge machen keinen Sinn mehr, wenn das beim Preis keine Rolle mehr spielt.

(Beifall bei der FDP/DVP – Zuruf des Abg. Dieter Kleinmann FDP/DVP – Abg. Winfried Kretsch- mann GRÜNE: Wer ist eigentlich der Adressat Ih- rer Rede?)

Langsam! Lieber Herr Kretschmann, in der zweiten Runde werde ich über die Vorteile der Eckpunkte sprechen, denn Vorteile gibt es auch. Es wäre unredlich, jetzt nur Nachteile darzustellen. Aber in der ersten Runde, glaube ich, muss es erlaubt sein, die Diskussion zu führen, die im Land Baden-Württemberg notwendig ist. Es gibt auch ein paar Vorteile.

(Abg. Winfried Kretschmann GRÜNE: Ich will Ih- nen nicht das Wort verbieten, sondern fragen, an wen Sie es richten!)

Herr Ulrich Noll hat es schon angesprochen: 2 000 AOKMitarbeiter im Land sind von einer möglichen Verlagerung des Einzugs der Sozialversicherungsbeiträge betroffen. Heute Morgen entnehme ich der „Stuttgarter Zeitung“, dass es Bestrebungen gibt, das Thema Fonds in eine andere Richtung zu bewegen. Gut so und richtig so! Eines darf allerdings auch nicht passieren. Jetzt will ich wieder Machiavelli zitieren.

(Abg. Michael Theurer FDP/DVP: Schon wieder?)

Machiavelli hat gesagt: „Der größte Feind der neuen Ordnung ist, wer aus der alten seine Vorzüge zog.“ Das stimmt. Wir dürfen jetzt nicht, lieber Ulrich Noll, alle Pressemeldungen aller Verbände nehmen und diese vorlegen, und zwar aller Verbände, die bisher Vorteile aus dem alten System hatten

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Aber wenn es al- le sind? – Abg. Wolfgang Drexler SPD: Ruhe!)

langsam! –, sondern wir müssen schon kritisch mit diesem Thema umgehen.

Das Eckpunktepapier beinhaltet bittere Pillen für BadenWürttemberg, ein Land, das eigentlich gar nicht krank ist,

das gar keine Pillen braucht. Das Schlimme ist, dass wir die bitteren Pillen schlucken müssen, obwohl wir gesund sind – eine sehr seltsame Vorstellung vom Gesundheitssystem. Ich denke, wir haben im Eckpunktepapier jede Menge Korrekturbedarf, auch im Hinblick auf baden-württembergische Situationen. Ich freue mich auf die Diskussion zur Umsetzung dieses Eckpunktepapiers in eine Gesetzesvorlage. Denn dann wird es der parlamentarischen Mitverantwortung unterzogen,

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: So ist es!)

und dann, lieber Ulrich Noll, können wir auch über den Bundesrat reden.

Danke für die Aufmerksamkeit in der ersten Runde.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Sehr gut!)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Haußmann.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Ulrich Noll muss sich hier im Parlament gar nicht so aufmanteln. Alles, was ich bisher von der FDP zur Gesundheitspolitik gehört habe, ging in Richtung Privatisierung von Risiken bzw. Mehrbelastung von Versicherten.

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Was? Das Gegen- teil ist der Fall!)

Sie haben in der Vergangenheit nur die Interessen der Lobbyisten gestärkt.

(Beifall bei der SPD – Abg. Michael Theurer FDP/ DVP: Die SPD hat doch stets Gewerkschaftsinte- ressen betrieben! Die SPD ist doch die Klientelpar- tei an sich!)

Meine Damen und Herren, die vorliegenden Eckpunkte für die Gesundheitsreform sind ein Kompromiss der beiden großen Parteien im Bund, die ja sehr unterschiedliche Modelle hatten. Was die Sache momentan so schwer macht, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist sicher nicht auf dem Mist der SPD gewachsen,

(Zuruf des Abg. Dietmar Bachmann FDP/DVP)

sondern das haben wir unserem Koalitionspartner CDU zu verdanken.

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Heiliger Sankt Florian! Das ist jetzt das Prinzip! – Gegenruf der Abg. Marianne Wonnay SPD: Was wahr ist, ist wahr! – Zuruf des Abg. Michael Theurer FDP/ DVP)

Ein wichtiges Ziel für die SPD bei diesen Verhandlungen war, die Kernelemente der Krankenversicherung zu erhalten. Damit meine ich, es ging uns darum, die solidarische Krankenversicherung für alle gesetzlich Krankenversicherten unabhängig von ihrem Krankheitsrisiko zu erhalten. Wir wollten keine Abstriche im Leistungskatalog. Das zu erreichen ist der SPD auch gelungen. Wir haben die Privatisie

rung von Gesundheitsrisiken, die angedacht war, und unsoziale Leistungsausgrenzungen verhindert.

(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Eine Großtat allererster Ordnung!)

Ich begrüße auch, dass wir einen Schritt in Richtung Berücksichtigung der Demografie gemacht haben, indem zukünftig Palliativmedizin und die geriatrische Rehabilitation Teile des Leistungskatalogs sein werden.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Ohne zusätzliche Mittel?)

Hervorheben möchte ich auch, lieber Kollege Noll, dass es uns gelungen ist, die Ausgliederung ganzer Leistungsbereiche zu verhindern.

(Beifall bei der SPD)

Es bleibt dabei, dass die Folgen privater Unfälle – die Verhandlungsführer der CDU hatten ja angedacht, diese auszugliedern – weiterhin in der gesetzlichen Krankenversicherung abgesichert werden. Es ist schon bemerkenswert, wie sich Unionsvertreter jetzt winden, um zu versuchen, den Eindruck zu erwecken, sie wollten nur eine Ausgliederung der Risikosportarten.

(Zuruf der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

Das war mitnichten so. Wir alle wissen das. Selbst der Ministerpräsident dieses Landes hat zugegeben, dass auch der gesamte Bereich der Freizeitunfälle im Sport ausgegliedert werden sollte. Das haben wir, die SPD auf Bundesebene, verhindert, und das finde ich auch gut so.

(Beifall bei der SPD – Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: Heldentat!)

Ich will noch etwas zum Fonds sagen: Die Einführung eines Fonds hätte nur Sinn gemacht, wenn, wie von Union und SPD während der Verhandlungen ursprünglich ins Auge gefasst, auch realisiert worden wäre, dass die private Krankenversicherung in diesen Fonds mit einbezogen wird,

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Dann hätten wir zu 100 % Sozialismus! – Abg. Hagen Kluck FDP/ DVP: Das einzige System, das funktioniert!)