Protocol of the Session on June 18, 2009

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 69. Sitzung des 14. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie.

Krankgemeldet sind heute Frau Abg. Dr. Unold und Herr Abg. Reichardt.

Aus dienstlichen Gründen haben sich entschuldigt Herr Minister Rau, Herr Minister Pfister, Frau Ministerin Dr. Stolz, Herr Minister Professor Dr. Frankenberg, Frau Staatsrätin Dr. Hübner und – für heute Nachmittag – Frau Ministerin Gönner.

Meine Damen und Herren, unser Kollege Rivoir hat heute Geburtstag. Herr Rivoir, im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen herzlich und wünsche Ihnen alles Gute.

(Beifall bei allen Fraktionen – Abg. Wolfgang Drex- ler SPD: Martin, wir trinken Sekt! Wir gehen ins Res taurant! – Gegenruf des Abg. Rainer Stickelberger SPD: Das ist ein Schwabe! Der gibt doch nichts aus!)

Wir treten nun in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Antrag der Fraktion der SPD und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – Sprachförderangebote für alle förderbedürftigen Kinder – Drucksache 14/4280

Das Präsidium hat folgende Redezeiten festgelegt: für die Begründung des Antrags fünf Minuten, in der Aussprache fünf Minuten je Fraktion.

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Mentrup.

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! „Sprachförderangebote für alle förderbedürftigen Kinder“ ist das Thema der aktuellen Debatte, und das ist auch gut so.

In der Medizin bezeichnet man als Multiorganversagen einen Vorgang, bei dem, ausgehend von einer Problematik an einem Ort, am Ende eine Kettenreaktion bei verschiedenen Organen erfolgt und bei dem der Eingriff zur Stabilisierung des einen Organs dazu führt, dass dann ein anderes Organ möglicherweise nicht mehr so mitkommt. Das, was wir im Moment bei der Einführung einer flächendeckenden Sprachförderung aufbauend auf einer flächendeckenden vorgezogenen Einschu

lungsuntersuchung erleben, droht zu einem Multiorganversagen zu werden.

(Abg. Günther-Martin Pauli CDU: So ein Blöd- sinn!)

Ich fordere Sie an dieser Stelle schon einmal dringend auf, hier endlich umzusteuern, um Ihre richtigen Ziele auch vor Ort umzusetzen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Bärbl Mielich GRÜNE)

Worum geht es? Wir wissen seit acht Jahren, dass etwa 30 % der Kinder zum Einschulungstermin einen Sprachförderbedarf haben. Da gibt es einen therapeutischen Sprachförderbedarf – dessen Anteil liegt bei etwa 5 bis 7 % der Kinder –, und es gibt einen allgemeinen Sprachförderbedarf, der nicht aus einer besonderen Störung folgt, sondern eine Art verzögerten Spracherwerb darstellt; dessen Anteil liegt bei etwa 25 bis 27 % der Kinder.

Seit dieser Zeit experimentieren wir und erforschen wir, wie wir mit diesem Thema umzugehen haben. Zwei Ergebnisse sind festzustellen. Das eine ist: Sprachförderung ohne Förderung des Kindes insgesamt hat keinen Sinn. Daraus ist eine Bildungsdiskussion geworden, die Gott sei Dank dazu führt, dass die Landesregierung heute zumindest bei der Wahrnehmung des Bildungsauftrags auch an den Kindertagesstätten im Wort steht und sich hierfür verantwortlich fühlt. Die Einführung des Orientierungsplans ist hier sozusagen der fachliche Background und das fachliche Abbild einer solchen Diskussion.

Gleichzeitig macht man sich aber auch seit acht Jahren daran, dem speziellen Sprachförderbedarf, den man feststellt, durch besondere, zusätzliche Programme zu begegnen. Hier haben sich viele Kommunen auf den Weg gemacht, hier hat sich die Landesstiftung auf den Weg gemacht, hier haben sich viele Wissenschaftler auf den Weg gemacht. Viele Kinder erhalten ein solches Sprachförderangebot. Es ist aber noch kein flächendeckendes System entwickelt worden, das dazu führt, dass alle Kinder dieses Sprachförderangebot erhalten.

Nach einer achtjährigen Diskussion ist es jetzt endlich an der Zeit, aus diesem Projektstatus herauszukommen und zu einem flächendeckenden Versorgungsstatus zu gelangen.

(Beifall bei der SPD – Abg. Volker Schebesta CDU: Genau das machen wir!)

Es ist an der Zeit, nicht nur zu beschwören, wie wichtig das alles ist, sondern endlich auch eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen, und zwar mit zwei Zielen: Die Kinder müssen früher erreicht werden, und jedes Kind muss mit dem richtigen Angebot erreicht werden. Das sollten eigentlich die Ziele der Diskussion sein, die wir seit einiger Zeit führen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Bärbl Mielich GRÜNE)

Dazu gehört, dass man zu einem festgelegten Zeitpunkt und rechtzeitig den Sprachstand überhaupt erhebt. Da unterscheiden wir uns von manchen anderen, die sagen: Das geht alles nicht, das ist zu früh, das ist eine Zumutung. Wir sind der Meinung, dass man, wenn man einen solchen Bildungsauftrag ernst nimmt, auch von außen und in einer gewissen vordefinierten Norm – die in der Ausgestaltung durchaus noch diskussionswürdig sein kann – versuchen muss, einen Stand zu erheben. Denn man kann Sprachförderung nicht sicherstellen, wenn man nicht vorher den Eltern und auch den Kindern und den Einrichtungen klar sagt: Wo liegt denn noch ein eventueller zusätzlicher Sprachförderbedarf?

In der Umsetzung dieser vorgezogenen Einschulungsuntersuchung – das gehört an dieser Stelle zur Kaskade des Multiorganversagens – hapert es dann aber schon wieder. Man lässt zu, dass man eine gesetzliche Regelung verabschiedet, der der Städte- und der Gemeindetag ablehnend gegenüberstehen, weil sie die Fragen stellen: Wie sollen wir das umsetzen? Wie soll das dauerhaft finanziert werden? Sie sagen: Wir stehen auch in der Verantwortung. Wir geben Versprechungen an die Eltern ab und fühlen uns dann aber als Träger von Einrichtungen, aber auch als kommunalpolitisch Verantwortliche in der Umsetzung der entsprechenden Sprachförderung alleingelassen.

Wir halten es für ein Unding, ein so wichtiges Ziel in einem ersten Schritt einzuführen, obwohl die anderen Beteiligten damit nicht einverstanden sind. Das ist politisch nicht in Ordnung, und das delegiert Verantwortung an eine Stelle, an der man dann am Ende vor Ort dieser Verantwortung nicht gerecht werden kann, obwohl man es in der Sache durchaus will.

(Beifall bei der SPD)

Nun führen diese zusätzliche Untersuchung und die diesmal gleichzeitig anstehenden zwei Jahrgänge zu einem Personalproblem. Wir haben nicht genug Personal, wir können es nicht schaffen, bis zum nächsten Jahr alle Kinder, die jetzt eigentlich anstehen, zu untersuchen. Frau Stolz hat gestern gesagt, sie peile 90 % an. Unsere Rückmeldungen von vor Ort sprechen eine ganz andere Sprache. Hier stehen Kindertagesstätten bereit, Sprachförderung zu machen. Sie planen, entsprechende Anträge zu stellen, oder haben sie zum Teil auch schon gestellt. Sie können es aber nicht umsetzen, weil die für die Förderung verpflichtende, vorgezogene Einschulungsuntersuchung nicht stattfinden kann, und zwar nicht deshalb, weil die Leute vor Ort nicht wollen, sondern weil einfach das Personal noch nicht da ist.

Das ist ein zweiter Punkt, bei dem man sagen muss: Das kann nicht sein. Wir dürfen Kindertagesstätten, die schon bisher Sprachförderung über die Landesstiftung gemacht haben, die

zum Teil eigene Untersuchungsergebnisse zugrunde legen durften, jetzt nicht gängeln und ihnen nicht die Mittel für die Sprachförderung verwehren, bloß weil wir es auf der anderen Seite nicht geregelt bekommen, diese vorgezogene Einschulungsuntersuchung für alle sicherzustellen.

(Beifall bei der SPD)

Das wird sich zwar ändern, aber Sie müssen trotzdem auf die se Situation so reagieren, dass Sie auch andere Sprachuntersuchungsergebnisse dann anerkennen, wenn es eben nicht gelingt, die Ergebnisse im Rahmen dieser vorgezogenen Einschulungsuntersuchung zu erheben, einfach weil der Zeitpunkt nicht eingehalten werden kann, zu dem diese Untersuchung eigentlich erfolgen sollte.

Die nächste Frage ist dann: Was passiert mit den Kindern, die einen Sprachförderbedarf haben? Darauf haben Sie in Ihrer Stellungnahme zu unserem Antrag geantwortet, dass etwa 13 % der Anträge abgelehnt werden und dass das etwa 8 % der Kinder betrifft. Das kann uns nicht zufriedenstellen. Stellen Sie sich vor, wir schaffen es, bis zum Sommer maximal 90 % der anstehenden Kinder überhaupt zu untersuchen. Von diesen 90 % der Kinder haben dann voraussichtlich 30 % einen Sprachförderbedarf, und von denen werden wiederum 8 % auf keinen Fall in eine solche Förderung durch die Landesstiftung kommen.

Wir haben am Ende die schon jetzt bestehenden Förderangebote für etwa 70 % der Kinder im Land nicht wirklich ausgeweitet, wenn wir auf der einen Seite 10 % Kinder haben, die nicht zum Tragen kommen, und dann in einem zweiten Schritt wiederum weitere 8 bis 10 %. Das kann uns nicht zufriedenstellen. Denn eines muss Ihnen doch klar sein: Sie fordern von den Eltern die Teilnahme an einer verpflichtenden Untersuchung. Sie können diese Untersuchung nicht überall anbieten. Sie stellen einen Sprachförderbedarf fest, Sie können ihn aber an vielen Stellen nicht decken. Sie erfüllen die Verpflichtung erst für Kinder ab dem fünften Lebensjahr.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Viel zu spät!)

Wir wollten es ja eigentlich einmal früher haben. Das heißt, Ihre wesentlichen strategischen Ziele – ein Angebot für alle Kinder schaffen und alle Kinder überhaupt erst einmal für ein solches Angebot vorbereiten und auch überprüfen und dann für alle ein solches Angebot sicherstellen, sodass wir an 100 % kommen; das muss doch unser Ziel sein – haben Sie verfehlt. Ich fordere Sie auf, in allen diesen Punkten nachzubessern.

Jetzt erweist sich, dass es falsch ist, eine staatliche Aufgabe ohne eigene Haushaltsmittel und ohne eigene Haushaltsstellen über eine Stiftung abzuwickeln, die auf einem Antragsverfahren bestehen muss, die auf Bedingungen bestehen muss, die möglicherweise nicht eingehalten werden. Ein Kind, das einen Sprachförderbedarf hat, kommt dann möglicherweise nicht in den Genuss einer Sprachförderung, weil eben der Antrag falsch gestellt ist, die Gruppe zu klein ist, das Kind zu jung ist oder was auch immer. Das darf nicht sein.

Ihr strategisches Ziel verfehlen Sie hier, und ich fordere Sie dringend auf, nachzubessern. Das ist zum Nutzen unserer Kinder, und genau das ist unsere Verpflichtung, gerade wenn wir

auf der anderen Seite andere Institutionen und auch die Eltern verpflichten, sich auf einen solchen Weg zu begeben.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Schebesta.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Nach dieser Rede – ohne medizinische Befunde mit meinen Worten ausgedrückt: „Es ist alles Mist“ – will ich gleich am Anfang auf zwei Dinge hinweisen.

Erstens: Für die allgemein notwendige Sprachförderung haben wir zur Arbeit in den Kindergärten mit dem Orientierungsplan und mit dem, was damit seit Jahren in den Kindergärten Anwendung findet, eine Antwort gegeben. Diese wird immer weiter und immer besser umgesetzt,

(Abg. Marianne Wonnay SPD: Wo sind denn die Rah- menbedingungen für die Arbeit?)

sodass Sprachförderung allgemein verbessert worden ist.

Das Zweite: Für den besonderen Sprachförderbedarf stehen die Mittel in dem Umfang zur Verfügung, dass mit dem Programm der Landesstiftung im nächsten Kindergartenjahr rund doppelt so viele Kinder an einer solchen Sprachfördermaßnahme teilnehmen können. Wir erreichen damit nicht mehr rund 10 %, wie in diesem Kindergartenjahr, sondern rund 20 %.

(Abg. Günther-Martin Pauli CDU: Na also!)

Das zeigt, glaube ich, deutlich, dass wir in der Analyse sowohl die Einschätzung teilen, dass Sprachförderung notwendig ist, als auch den Anspruch verfolgen, die Kinder flächendeckend zu erreichen, die diese Sprachförderung brauchen. Wir sind uns nur in der Bewertung nicht einig, ob es richtig ist, wie wir es tun.

Da haben Sie als Opposition den Vorteil, dass Sie immer sagen können: Das läuft nicht gut.

(Abg. Norbert Zeller SPD: Jetzt lassen Sie das doch einmal! – Zuruf des Abg. Reinhold Gall SPD)