Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Während wir hier debattieren, sind in ganz Baden-Württemberg junge Menschen auf der Straße und protestieren gegen das Bildungswesen im Land. Nach aktuellen Angaben sind zurzeit etwa 15 000 Schülerinnen und Schüler und Studierende auf den Straßen.
Wir haben es mit der größten Bildungsprotestbewegung seit drei Jahrzehnten zu tun. Ich glaube, das, was sich schon seit Tagen auf unseren Straßen abspielt, wird kein Strohfeuer sein. Das ist vielmehr Ausdruck einer tief sitzenden Enttäuschung und einer Wut darüber, welchen Stellenwert und welche Ausrichtung Bildung in unserem Land hat.
Lassen Sie mich das gleich vorneweg sagen: Man muss nicht mit allen Forderungen, die da aufgestellt werden – das ist ein ganz bunter Strauß an Forderungen, der im Raum steht –, übereinstimmen und sie richtig finden. Das geht mir selbst auch so. Ich kann mit einer Forderung „Alles umsonst, was mit Bildung zu tun hat“ nichts anfangen. Das finde ich verkehrt, ebenso wie ich es verkehrt finde, die berechtigte Kritik an der Umsetzung von Bachelor und Master so weit zu treiben, dass man sagt, Bachelor und Master seien ganz abzuschaffen.
Ich finde aber, dass wir uns in diesem Haus sehr gründlich, sehr ernsthaft und sehr respektvoll mit der Substanz dieser Kritik auseinandersetzen müssen. In der Substanz geht es um zwei Punkte, um zwei Fehler, die tief in unser Bildungssystem eingraviert sind:
Erstens: Es gibt Kritik daran, dass Bildung im Land insgesamt zu wenig wert ist. Das erleben die Menschen gerade in dieser Krisenzeit in einer sehr dramatischen Form, wenn sie sehen, welche Ressourcen und Reserven es gibt und welche Kraftakte die Politik zu leisten in der Lage ist, um Banken zu retten und um sich der Wirtschaftskrise entgegenzustemmen. Angesichts dessen muss man sich schon die Frage gefallen lassen: Welchen Kraftakt leisten wir als Politik im Vergleich dazu, um unser Bildungssystem gut aufzustellen? Diese Frage ist angemessen und legitim.
Es ist ganz eindeutig: In unserem Bildungssystem fehlt es schlicht an Geld, an materiellen Ressourcen. Das fängt bei der Bezahlung der Erzieherinnen und bei der Ausstattung der Kindergärten an, das geht weiter über die Schulen – Stichwort z. B. fehlende Ganztagsschulen – bis ins Hochschulsystem hinein, bis zu den fehlenden Studienplätzen und der schlechten Ausstattung der Lehre. Es fehlt Geld im System. Es genügt aber nicht, nur Geld obendrauf zu packen; denn das Geld im Bildungssystem ist auch zu schlecht gesteuert. Es fließt insbesondere zu wenig Geld in die Förderung von guten Lernbe
dingungen, innovativen Unterrichtskonzepten und guten Studienbedingungen. Da liegt der Hund begraben.
Zum Zweiten geht es darum, welche Philosophie, welche Grundausrichtung, welche Idee eigentlich hinter der Bildungskonzeption dieser Landesregierung steckt. Wir erleben – egal, welchen Bereich wir betrachten, ob die Schulen oder die Hochschulen –: Bildung ist quasi wie ein Hürdenlauf organisiert: Wer kommt über die nächste Hürde drüber? Wer schafft es ein Treppchen weiter? Wer bleibt auf der Strecke?
Der Hürdenlauf beginnt total früh, und zwar in der dritten Klasse, spätestens aber ab der Grundschulempfehlung. Das geht weiter über das G 8: Halte ich diesen Prüfungsmarathon mithilfe von Nachhilfe oder welchen Maßnahmen auch immer durch? Das geht beim Hochschulzugang damit weiter, ob ich einen Studienplatz ergattere, ob ich die Aufnahmeprüfung bewältige, das Auswahlverfahren durchstehe. Das geht im Studium gerade so weiter.
Das, was wir in der Schule als „Altes Denken“ kritisieren, wie unterrichtet wird, wie bewertet wird, wie benotet wird, Stoff eingetrichtert und abgefragt wird, dieses Systems des permanenten Abprüfens, von dem wir wissen, dass es nicht das Bes te ist, um gut zu lernen, übertragen wir jetzt über Bachelor und Master auf die Hochschulen – und zwar nicht, weil Bologna das so vorgeschrieben hätte; vielmehr ist es eine fantasielose, unkreative Umsetzung eines guten Studienreformmodells in eine recht traurige Praxis in Deutschland. Das ständige Messen, Vergleichen und Benoten – das wissen wir schon aus der Schule – macht Lernerfolge nicht größer. Man kann es auch so ausdrücken: Die Sau wird vom Wiegen nicht fetter. Das stimmt für die Schulen und auch für die Hochschulen.
(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Das ist unglaublich! – Zuruf des Abg. Werner Pfisterer CDU)
Kollege Schüle aus Freiburg und Kollege Pfisterer aus Heidelberg: Bevor Sie hier mit unüberlegten Zwischenrufen kommen, hören Sie ganz genau hin und denken Sie gründlich über folgenden Zusammenhang nach:
(Zuruf von der SPD: Das kann er doch gar nicht! – Abg. Franz Untersteller GRÜNE zur CDU: Denkt doch einmal an das Wahlergebnis!)
Warum eigentlich schneidet an allen Standorten, an denen es viele junge Menschen gibt, die studieren, und es ein großes Bildungsbürgertum gibt, die CDU bei den Wahlen so kläglich ab? Wenn Sie eine Antwort darauf haben, dann rufen Sie nicht mehr dazwischen.
(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE zur CDU: Ihr seid auf dem Weg zur Minderheit in den Großstädten! – Gegenruf des Abg. Werner Pfisterer CDU)
20 % und weniger. – Was wir zurzeit erleben, ist nicht etwa eine punktuelle Bewegung – Studenten, die kurz einmal pro
testieren und dann wieder aus der Öffentlichkeit verschwinden –, sondern wir erleben, dass so etwas wie eine Bildungslobby entsteht. Das sind Menschen, die sich ernsthaft darum kümmern, dass Bildung einen neuen Stellenwert, eine neue Priorität in unserem Land bekommt und dass Bildung grundsätzlich anders ausgerichtet wird. Diese Bewegung hat unsere ganze Unterstützung, und ich fordere Sie in der Landesregierung auf: Hören Sie die Signale!
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Erfolgreiche Hochschulpolitik ist ein Markenzeichen unseres Landes. Die Mehrzahl der Studenten identifizieren sich deshalb nicht mit dem diffusen Forderungskatalog des Bildungsstreiks, der von der Enteignung der Banken bis zur völligen Abschaffung von Noten und Leistungsbeurteilungen reicht. Nur wenige beteiligen sich an fragwürdigem Aktionismus, an Aktionen wie Unterrichtsboykott und fingierten Banküberfällen
oder heißen dies gut, wie die Frau Kollegin Bauer es tut – das ist bedauerlich und traurig. Niemand will ein nivellierendes Bildungswesen, in dem Leistung und Eigenverantwortung einer Gleichmacherei und einer Vollkaskomentalität geopfert werden – sehen wir einmal von ein paar linken Gruppierungen und prominenten Gewerkschaftsmitgliedern ab,
(Abg. Norbert Zeller SPD: Das will doch gar nie- mand! – Abg. Theresia Bauer GRÜNE: 15 000 in Ba- den-Württemberg! – Gegenruf des Abg. Werner Pfis terer CDU)
In Stuttgart haben die Studenten ein konkretes Anliegen. Sie befürchten, dass sich das Gleichgewicht von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften verändert, dass Studiengänge nicht mehr angeboten und Professorenstellen gestrichen werden. Deshalb der Bildungsstreik. Die Medien berichten von einem Masterplan der Universität Stuttgart, und die Studenten befürchten, dass sich ihre Universität zu einer Technischen Universität entwickelt. Wir teilen diese Befürchtung.
(Beifall der Abg. Theresia Bauer GRÜNE – Zuruf des Abg. Werner Pfisterer CDU – Gegenruf der Abg. The- resia Bauer GRÜNE: Ich applaudiere nur!)
Auch wenn wir die Autonomie der Hochschulen respektieren, eine solche Entwicklung unterstützen wir nicht.
Eine völlige Austrocknung der Sozial- und Geisteswissenschaften käme einer Kulturschande gleich. Gerade der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Geisteswissenschaf ten und Technik verdankt die Universität Stuttgart den Erfolg in der Exzellenzinitiative. Die Projekte zur Simulationstechnik und zur intelligenten Produktions- und Fertigungstechnik beweisen das.
Eine reine TU Stuttgart ohne Geisteswissenschaften beschädigt den Hochschulstandort der Landeshauptstadt Stuttgart. Eine reine TU ist noch lange kein Erfolgsgarant im Exzellenzwettbewerb. Im Gegenteil: Die Forschungsexzellenz wird durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ingenieurwissenschaften mit Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gestärkt, wenn sich diese Bereiche gemeinsam auf Zukunftsthemen konzentrieren und die Fakultäten ihre Eigenständigkeit behalten.
Das sind die Handlungsfelder; in diese Richtung müssen wir gehen. Da sind wir mit den Studenten und den Professoren einig. Ein interdisziplinäres Angebot entspricht unserer humanistischen Tradition. Nur so lassen sich Ethik und Moral in die Ausbildung integrieren, und nur so werden unsere Studenten verantwortungsbewusste Führungskräfte.
Die inhaltliche Auseinandersetzung mit bestehenden oder vermeintlichen Missständen unserer Bildungs- und Hochschulpolitik scheuen wir nicht. Wir wissen, dass viele Reformen, die wir in den letzten Jahren angepackt haben, noch von Kinderkrankheiten geplagt sind. Diese Kritik nehmen wir ernst. Aber klar ist auch – bei allem Leidensdruck, der da entstanden ist –: Was in Europa einheitlich gilt, ob es G 8 oder der Bologna-Prozess ist, ist unumkehrbar. Alle Länder und alle Hochschulrektorenkonferenzen haben diesen Reformen zugestimmt.
Wir werden nachsteuern, wo sich die Kritik als berechtigt erweist. Im Übrigen aber bleiben wir auf Kurs. Wir wollen junge Menschen ausbilden, die nicht eindimensional denken, sondern ein theoriefundiertes Fachwissen haben, und die wissenschaftliche Probleme lösen und soziale Kompetenzen in unsere Gesellschaft einbringen. Wer ein Studium nur zur Selbstverwirklichung betreibt, verkennt, dass er der Gesellschaft etwas von dem zurückgeben muss, was er von ihr bekommen hat.