Protocol of the Session on December 4, 2008

Wenn wir uns die neuen PISA-Ergebnisse anschauen, sehen wir, dass 53,4 % der Schülerinnen und Schüler an den Hauptschulen nur auf unterstem oder unter unterstem Kompetenzniveau eine Lesekompetenz entwickelt haben. Auf der anderen Seite sehen wir, dass Sachsen als Siegerland in der PISAE-Studie

(Abg. Franz Untersteller GRÜNE: 12 %!)

in der dortigen Mittelschule nur 12,0 % Schüler auf unterstem Kompetenzniveau oder darunter hat.

(Abg. Franz Untersteller GRÜNE: 12,0 %! – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: 2 % Migranten! Das ist das Thema! Das steht da auch drin!)

Da wird doch klar, dass wir in den Hauptschulen ein gigantisches Problem haben,

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Natür- lich!)

das nicht durch eine Umetikettierung dieser Schulart gelöst werden kann.

(Beifall bei den Grünen und der Abg. Sabine Fohler SPD)

Deshalb sage ich: Hören Sie endlich auf, in diesen dogmatischen Strukturen zu denken! Sie sitzen damit längst in einer selbst gebauten Falle. Diese Falle sieht so aus:

Sie haben den Realschulen eine Bestandsgarantie gegeben. Kollege Schebesta, Sie haben ja neulich gesagt: Die neue Werkrealschule darf keinen Druck auf die Realschule ausüben. Sie muss also hierarchisch darunter bleiben. Sie darf nicht mehr als eine „Realschule light“ sein, um das dreigliedrige Schulsystem nicht zu gefährden. Sie haben außerdem den kleinen Hauptschulen im ländlichen Raum eine Bestandsgarantie gegeben.

Die neuen Pläne werden jedoch das Sterben der kleinen Hauptschulen – der gut arbeitenden kleinen Hauptschulen – in einer dramatischen Weise beschleunigen. Denn wenn die Schüler und Schülerinnen jetzt eine Werkrealschulempfehlung bekommen, können sie selbstverständlich in eine entfernt liegende Werkrealschule gehen. Damit wird den kleinen Gemeinden jede Chance genommen, durch ein innovatives, integratives pädagogisches Konzept mit einem Realschulabschluss – 60 Anträge dazu liegen für entsprechende Modellversuche ja vor – auch im ländlichen Bereich ihre Schule zu erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Fazit, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir müssen endlich weg von den dogmatischen Strukturen. Wir müssen von den Lern- und Entwicklungsbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler ausgehen. Wir brauchen attraktive, integrative, wohnortnahe Schulen in Baden-Württemberg, und wir müssen endlich auch von anderen Bundesländern lernen, in denen pragmatische Lösungen für neue Qualitätsentwicklung und Schulstrukturentwicklung gefunden wurden. Dort wird uns vorgemacht, dass wir damit auch den Druck aus der Gesellschaft und aus den Schulen herausnehmen können.

Machen Sie deshalb endlich Nägel mit Köpfen und betreiben Sie keine weitere Nebelkerzenwerferei und Umetikettierung! Damit kommen wir in Baden-Württemberg nicht weiter.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Zeller.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Rau, Sie haben ein Problem – ein Riesenproblem: Jeder fünfte 15-Jährige kann nicht richtig lesen und damit am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen.

(Zuruf des Abg. Winfried Scheuermann CDU)

Die soziale Herkunft entscheidet noch immer über Schul- und Lebenskarriere.

(Abg. Winfried Scheuermann CDU: Die Lehrer ent- scheiden!)

Den Hauptschulen laufen die Schülerinnen und Schüler davon – mit der Folge, dass wir inzwischen über 800 einzügige Schulen haben. Diese Schulen haben zum Teil nur 30 oder 40 Schülerinnen und Schüler. Der Finanzminister macht Druck. Sachsen zieht bei PISA locker an uns vorbei.

(Unruhe bei der CDU)

Baden-Württemberg ist nicht mehr auf dem Treppchen, meine Damen und Herren. Immer mehr fordern längeres gemeinsames Lernen.

(Abg. Volker Schebesta CDU: „Immer mehr“!)

Jüngst, Herr Schebesta, waren es die evangelischen Kirchen.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: In Baden und in Würt temberg!)

Ich erspare es mir jetzt, die Liste vorzulesen. Sie haben ein Riesenproblem, Herr Rau. Was machen Sie? Als Apostel der Vielgliedrigkeit denken Sie nicht vom Kind aus,

(Zuruf von der CDU: Blödsinn!)

sondern schaffen eine zusätzliche Schulart: die Werkrealschule. Damit sind wir inzwischen viergliedrig; rechnet man das Sonderschulwesen dazu, sogar fünfgliedrig. Sie gehen genau den falschen Weg.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Sie erschrecken auch die einzügigen Hauptschulen; über 800 sind es. Sie kriegen Ärger mit den eigenen Leuten, die natürlich merken, dass da vor Ort einiges brodelt – und das vor der Kommunalwahl im nächsten Jahr. Trickreich schaffen Sie nun die Hauptschulempfehlung ab, ohne die Hauptschulen abzuschaffen. Das nenne ich schlichtweg feige.

(Beifall bei der SPD)

Die Verlierer, meine Damen und Herren, sind die Schülerinnen und Schüler. Sie sind die eigentlichen Verlierer, ebenso wie die kleinen Hauptschulen.

Noch vor Kurzem führten Sie zur Rettung der Hauptschulen den sogenannten Praxiszug ein. Jetzt soll ein neues Firmen

schild her: Die Hauptschulen werden zur Werkrealschule. Der Praxiszug soll entfallen, und die Mittel sollen umgeschichtet werden. Ich frage mich: Was ist das denn für eine konfuse, stümperhafte Bildungspolitik, die Sie hier von sich geben? Das ist nicht durchdacht. Sie hüpfen von einem zum anderen, weil Sie nur der Getriebene sind und nicht mehr der Handelnde.

(Beifall bei der SPD)

Ihnen, Herr Rau – das sage ich klipp und klar –, fehlt die entsprechende Perspektive.

Schon heute, meine Damen und Herren, ist jede zweizügige Hauptschule Werkrealschule – übrigens auch einige einzügige Hauptschulen –; jede dritte Hauptschule ist heute schon Werk realschule.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Na also!)

Trotzdem ist die Akzeptanz der Hauptschulen, Herr Zimmermann – erkundigen Sie sich einmal –

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Sehr hoch!)

vielleicht in Ihrer Vorstellung –, nach wie vor gering und wird weiter sinken.

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Nicht schlechtre- den!)

Nehmen Sie doch das Statistische Landesamt. Es hat klar und deutlich prognostiziert, dass die Schülerzahlen an den Hauptschulen in den nächsten Jahren um weitere 20 % zurückgehen werden.

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Keine Ahnung von der Realität! – Zuruf des Abg. Karl Zimmermann CDU)

Ich finde, der Schulleiter Roland Gärtner aus Flein in der Nähe von Heilbronn hat recht, wenn er Folgendes sagt:

Bald ist die Werkrealschule der unterste Schultyp und muss mit demselben Stigma leben wie jetzt die Hauptschule.

Das ist das Problem.

(Unruhe bei der CDU – Abg. Heiderose Berroth FDP/ DVP: Wenn wir sie ganz abschaffen, dann gilt das bald für die Realschule! – Zuruf des Abg. Helmut Walter Rüeck CDU)

Deswegen ist Ihr Weg der falsche Weg.