Protocol of the Session on February 1, 2006

Wenn ich mir den Kongress vergegenwärtige, denke ich: Sie haben die Schlagzeilen mit diesem Thema besetzt. Man hat ja auch gesehen: Die Zeitungen haben das Thema aufgegriffen. Aber an unterstützenden Maßnahmen des Landes, um die Beschäftigungssituation für ältere Arbeitnehmer zu verbessern, ist nichts gekommen. In diesem Bereich haben Sie völlig versagt.

Aber in der zweiten Runde werden wir vielleicht noch im Detail hören, was Sie vorhaben.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

Das Wort erhält Frau Abg. Sitzmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es gibt zwei Trends, die wir sehr ernst nehmen müssen. Zum einen sinkt bundesweit die Bevölkerungszahl. Damit geht auch die Anzahl der Personen im erwerbsfähigen Alter zurück. Auch wenn die Bevölkerungszahl in Baden-Württemberg zunächst einmal nicht zurückgeht, heißt das aber doch ganz klar, dass der Wettbewerb um gut qualifizierte Fachkräfte schärfer werden wird.

Der zweite Trend ist, dass sich die Altersstruktur in den Belegschaften verändern und dass das Durchschnittsalter der Belegschaften in den Betrieben steigen wird.

Wenn wir nun überall konstatieren müssen, dass die Potenziale älterer Menschen noch nicht ausreichend erkannt werden, dass also die Unternehmen den Erfahrungsschatz, die Verantwortungsbereitschaft und den Überblick, den ältere Menschen haben, in ihrer Personalpolitik noch nicht ausreichend berücksichtigen, dann müssen wir uns fragen: Was ist da zu tun?

Politik muss hierbei mitarbeiten. Sie muss Aufklärung leisten. Der Ministerpräsident hat leider das Gegenteil getan, als er Ende November – die Kollegin Weckenmann hat es schon angesprochen – gesagt hat, ab 40 lasse die Leistungs

fähigkeit nach, gehe es bergab, und deshalb sollten Leute ab diesem Alter weniger arbeiten und auch weniger verdienen.

(Zuruf des Abg. Schmiedel SPD)

Diese Klischees über angebliche Leistungsdefizite bei so genannten Älteren weiter zu bedienen, ist fatal. Das führt zum Gegenteil dessen, was wir brauchen, nämlich einer steigenden Bereitschaft, die Leistungspotenziale älterer Menschen anzuerkennen. Wir wissen alle, dass die Leistungspotenziale nicht weniger werden, sondern dass sie sich im Laufe des Lebens einfach verändern. Das muss man auch hier im hohen Haus einmal zur Kenntnis nehmen.

Der Jugendwahn in vielen Unternehmen muss abgebaut werden, hieß es. Das ist natürlich richtig. Wir haben die traurige Tatsache festzustellen, dass in Deutschland die Erwerbsquote der so genannten älteren Menschen – damit sind die 55- bis 64-Jährigen gemeint – weit unter dem OECD-Durchschnitt liegt. Bei uns beträgt sie nur 39 %, und es ist klar, dass es so nicht weitergehen kann.

Wir brauchen ein Umdenken in den Betrieben. Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass altersgemischte Belegschaften betriebswirtschaftlich durchaus positive Effekte haben. Beispiele dafür gibt es genug. Es geht darum, Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu fördern und im Beruf einzusetzen. Personalentwicklung muss man also so betreiben, dass Menschen weiterqualifiziert werden und Weiterbildung tatsächlich stattfindet.

Damit sind wir beim Thema Landespolitik. Wenn wir im Landtag eine Aktuelle Debatte haben, sollte Landespolitik meines Erachtens im Mittelpunkt stehen. Das bedeutet, es geht um eine aktive Weiterbildungspolitik, die wir in Baden-Württemberg brauchen. Da ist die Landesregierung gefragt – das heißt, eigentlich wäre sie gefragt gewesen. Denn am Ende dieser Legislaturperiode müssen wir feststellen, dass Sie, meine Damen und Herren von der CDU und der FDP/DVP, nichts Substanzielles zustande gebracht haben, was die Bezeichnung „Weiterbildungspolitik“ verdiente.

Sie haben keinen Plan. Sie haben kein Konzept. Sie haben da gekürzt, wo es ging. In vielen Bereichen – nehmen wir einmal das Beispiel Kontaktstellen „Frau und Beruf“ – wiederholt sich das immer gleiche Ritual, dass man darum kämpfen muss, dass die Zuschüsse beibehalten werden, weil die Gefahr besteht,

(Abg. Hillebrand CDU: Was macht denn der Herr Salomon in Freiburg?)

dass sie gekürzt werden. All das schafft keine Perspektiven, die die Beschäftigungssituation im Land tatsächlich verbessern.

Wenn wir jetzt zur Bilanz des Wirtschaftsministeriums und zur Bilanz des Wirtschaftsministers Pfister kommen, darf ich aus der Antwort zu einer Großen Anfrage der Grünen zum Thema „Umsetzung des Aktionsprogramms der Landesregierung ‚Ältere Generation im Mittelpunkt‘“ zitieren. Da erfahren wir, dass vonseiten des Wirtschaftsministeriums zwischen 2000 und 2006 2,2 Millionen € aus Mitteln des ESF-Ziel 3 für die Förderung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgegeben wurden. Laut Bundes

institut für Berufsbildung gibt die Wirtschaft in BadenWürttemberg 2,2 Milliarden € pro Jahr für Weiterbildung und Qualifizierung aus, das Land hat also genau ein Promille dieses Betrags in sechs Jahren ausgegeben. Da muss man sagen, meine Damen und Herren: Zukunftsfähige Politik sieht anders aus. Wie sie aussehen könnte, stelle ich Ihnen in der zweiten Runde vor.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das Wort erhält Herr Wirtschaftsminister Pfister.

(Abg. Ruth Weckenmann SPD: Wie war das mit der Grundgesetzänderung? Das war der Herr Dö- ring, oder?)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will erst einmal sagen, dass ich dem Landtag dankbar dafür bin, dass er dieses Thema engagiert diskutiert und auch Vorschläge für notwendige Konsequenzen macht. Ich habe den Eindruck, dass wir vor einer Entwicklung stehen, die uns allen noch erhebliche Sorgen machen wird, nicht nur, weil es um Einzelschicksale geht, sondern auch, weil es um die Belange unserer Wirtschaft geht, darum, wie auch in der Zukunft unter veränderten Kennzeichen Wirtschaftsdynamik in unserem Land Baden-Württemberg gehalten werden kann.

Wenn die Region Stuttgart in einer jüngsten Umfrage vermeldet, dass bereits heute im Bereich der Facharbeiter ein Defizit in der Größenordnung von 25 % vorliege, dann mag das verschiedene Gründe haben. Ein Grund dafür ist sicherlich auch, dass sich hier – jedenfalls in Ansätzen – insofern eine Entwicklung abzeichnet, als der demografische Wandel – also das Älterwerden, der Altersprozess in dieser Gesellschaft – dazu führt, dass wir vielleicht nicht heute, aber mit Sicherheit morgen,

(Abg. Fischer SPD: Aber nicht übermorgen!)

und nicht nur in Stuttgart, sondern im gesamten Land Fachkräfte mit der Lupe suchen müssen, meine Damen und Herren. Erste Anzeichen hierfür gibt es. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass wir uns in der Vergangenheit viel zu wenig mit dem Problem einer älter werdenden Gesellschaft auseinander gesetzt haben. Schauen Sie sich einmal den Anteil der älteren Menschen, der über 50-Jährigen, an der Zahl aller Erwerbsfähigen in Baden-Württemberg an. Dieser Anteil lag im Jahr 2002 bei 25 %. Er wird im Jahr 2020 schon bei etwa 40 % liegen und wird dann in den nächsten Jahren, wenn nichts Entscheidendes geschieht, über die Marke von 40 % in Richtung 50 % marschieren.

(Zuruf des Abg. Fischer SPD)

Die Konsequenzen aus solchen Zahlen wird jeder verstehen. Die Konsequenzen sind eben, dass uns in der Zukunft überhaupt nichts anderes übrig bleibt,

(Abg. Fischer SPD: Wer hat denn die große Welle der Entlassungen eingeleitet mit den Abfindun- gen?)

als unser Fachkräftepotenzial stärker als bislang aus diesen älteren Menschen zu rekrutieren,

(Beifall bei der FDP/DVP – Zuruf der Abg. Ruth Weckenmann SPD)

weil dies eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Wirtschaft insgesamt noch eine Dynamik entfaltet.

Dem, meine Damen und Herren, steht die Bereitschaft unserer Unternehmen, dieses Thema tatsächlich anzugehen, diametral entgegen. Denn wir können heute sagen, dass ältere Arbeitnehmer nur geringe Chancen haben.

(Abg. Fischer SPD: Zu was?)

Die Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen beträgt in Deutschland 41 %, in Baden-Württemberg glücklicherweise noch 49 %.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

In Großbritannien beträgt sie 56 % und in Schweden 69 %. Das heißt, in allen anderen vergleichbaren Industriestaaten ist diese Erwerbsquote wesentlich höher als in Deutschland. Wenn Sie sich die Einstellungspolitik gerade in Bezug auf ältere Menschen ansehen, dann werden Sie feststellen – Frau Weckenmann, Sie haben die Zahl zitiert –, dass heute tatsächlich nur 41 % der Unternehmen noch Beschäftigte über 50 Jahren haben. 57 % der Unternehmen sagen heute, dass sie eigentlich nicht daran denken, Beschäftigte über 50 Jahre einzustellen. Ich kann Ihnen nur sagen, meine Damen und Herren: Wir können uns diese Entwicklung schlicht und einfach nicht leisten.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Wir können uns diese Entwicklung nicht leisten. Wir sind angesichts der demografischen Entwicklung darauf angewiesen, auf das Potenzial der Älteren hinzuweisen. Insofern müssen wir alle – das ist jetzt salopp formuliert – daran arbeiten, dass das Ende des Jugendwahns jetzt wirklich eingeleitet wird, und zwar aus volkswirtschaftlichen Gründen.

(Abg. Schmiedel SPD: Dann mal los mit der Ar- beit!)

Die Gefahren sind angesprochen worden. Ich will sie noch einmal kurz skizzieren: Wir haben aufgrund dieser Entwicklung einen Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen. Wir belasten dadurch zusätzlich unsere ohnehin schon belasteten Sozialversicherungssysteme mit weiteren Beitragslasten,

(Abg. Fischer SPD: Wer hat denn diese Tür aufge- macht? Wer hat das angefangen?)

insbesondere mit Lohnnebenkosten. Wenn wir dann als weitere Folge dieser aktuellen Entwicklung noch in die Situation kommen, dass ältere Arbeitnehmer systematisch aus dem Erwerbsprozess heraus- und in diese Sicherungssysteme hineingedrängt werden, dann wird sich das alles natürlich potenzieren.

Ich habe über den Fachkräftemangel gesprochen. Das ist mein wichtigstes Thema. Das ist eigentlich das schwierigste Thema. Wir sind in unserer Volkswirtschaft eben – fast hät

(Minister Pfister)

te ich gesagt: wie in keiner anderen Volkswirtschaft – auf Fachkräfte, auf qualifizierte Leute angewiesen. Wir sind übrigens auch – Herr Kollege Schuhmacher hat das zu Recht gesagt – auf das Know-how, auf die Erfahrungen und auf das Können der älteren Arbeitnehmer angewiesen. Wir sind zudem in der Gefahr, unsere Innovationsfähigkeit zu verlieren, die Baden-Württemberg, jedenfalls bis zur Stunde, auszeichnet.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Was machen Sie denn dagegen?)

Ich komme gleich darauf zurück. – Diese Innovationsfähigkeit wird dann Einbußen erleiden, wenn wir auf der einen Seite weniger junge Leute haben und auf der anderen Seite die älteren Leute, die wir noch in der Arbeitswelt bräuchten, systematisch in die Rente hineindrängen. Das kann nicht gut gehen, meine Damen und Herren.

Die Frage ist: Was muss getan werden?

(Abg. Edith Sitzmann GRÜNE: Vor allem: „Was tun wir?“!)

Das Erste ist – um einmal mit der Bundespolitik zu beginnen; ich komme gleich auf das Land zurück –, dass wir Abschied nehmen müssen von einer Politik, die man nur als massive staatliche Vorruhestandsregelung bezeichnen kann.