Die AfD-Fraktion hat eine Zwischenbemerkung angemeldet. – Herr Abgeordneter Mohr, Sie haben das Wort!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Kluckert! Sie haben in Ihren Ausführungen eben tatsächlich einige Punkte angesprochen, die wir durchaus nachvollziehen können. Nun frage ich mich: Wo war denn in den letzten Wochen die FDP-Fraktion?
Wo war sie denn? Auch im Gesundheitsausschuss: Wir haben darüber debattiert. Wir haben auch über etwaige Maßnahmen geredet, was dazu beitragen kann, dass die Infektionsketten möglicherweise unterbrochen werden können, was zum zusätzlichen Schutz beiträgt. Sie haben den Maskenantrag abgelehnt. Ich hätte gerne eine Begründung, weshalb Sie ihn abgelehnt haben und weshalb Sie jetzt sagen: Masken, ja. So schlimm ist es noch gar nicht. Alles in Ordnung! – Darauf hätte ich gerne mal eine Antwort. Wo war die FDP-Fraktion? Sie haben Punkte angesprochen, die können wir nachvollziehen. Sie haben nicht nur Unsinn erzählt, aber Sie haben auch so getan, als ob die FDP-Fraktion führend war, Meinungsführer war, was praktisch hier die Position bezüglich Lockerungen betrifft. Das ist nicht der Fall gewesen. – Danke!
Herr Kluckert! Sie haben gleich die Möglichkeit der Erwiderung, aber geben Sie unserer sehr sorgsamen Mitarbeiterin hier mal die Chance. – Herr Kluckert, bitte!
[Allgemeiner Beifall – Torsten Schneider (SPD): Sagen Sie dem Mohr mal, dass er seine Maske falsch verwendet!]
Herzlichen Dank! – Herr Mohr! Es ist schon erstaunlich. Sie als gesundheitspolitischer Sprecher dürfen in dieser Debatte noch nicht mal sprechen für die AfD-Fraktion. Finden Sie doch in Ihrer Fraktion erst mal eine einheitliche Haltung zu dem Thema!
Bei Ihnen erzählt hier vorne der Flügel etwas ganz anderes als Sie in den täglichen Konferenzen, die wir zusammen haben. Und dass sich die FDP nicht eingebracht hat, das können Sie ja wohl nicht erzählen. Die FDP war es in diesem Haus, die die Corona-Drive-in-Schalter zur schnelleren Abtestung, die Sie hier reklamiert haben, gefordert hat.
Und was die Maskenpflicht betrifft, wissen Sie auch ganz genau, dass ich immer ein Befürworter dieser Maskenpflicht war, aber von Ihnen gar keine Idee gekommen ist, wo denn die Masken damals hätten herkommen sollen. Wann haben Sie denn da mal ein paar Konzepte eingebracht? Von daher, die FDP hat sich proaktiv an der Diskussion und an den Maßnahmen beteiligt. Von der AfD kam wenig dazu.
Meine Herren! Sie können den Dialog gerne fortsetzen, aber dann bitte draußen, denn jetzt hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Abgeordnete PierothManelli das Wort. – Bitte schön!
[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Tim-Christopher Zeelen (CDU): Jetzt räumt die SPD ab! – Paul Fresdorf (FDP): Jetzt wird es schwer, Frau Kalayci!]
Ja, welcher Flügel spricht da wieder? – Frau Präsidentin! Ihr lieben Kolleginnen und Kollegen! Unser Leben ist Austausch, wie wir gerade wieder sehen. Wirtschaft, Verkehr, Kultur, alles ist durch Austausch bestimmt. Austausch erfordert Zuwendung und Nähe. Beides ist in der aktuellen Coronakrise nur eingeschränkt möglich. Demokratie ohne Austausch also – undenkbar. Das haben wir gerade in der GO-Debatte gesehen. Wie sollte Politik ihre Legitimation erlangen, wenn Ideen nicht vorher ausgetauscht wurden, wenn Politikerinnen und Politiker sich nicht erklärt haben und sich darum kümmern, Verbündete zu gewinnen.
Wie finden wir überhaupt zu guten Beschlüssen ohne den Austausch mit anderen, mit Bürgerinnen und Bürgern, die ihre Erwartungen darlegen, und mit Fachleuten aller Couleur und Disziplin? Manchmal muss all das obendrein sehr schnell gehen. Es gibt Szenarien, in denen schnelles Handeln erforderlich ist, und das haben wir getan. Gut sechs Wochen ist das her. Gut sechs Wochen war die Stadt heruntergefahren. Dass es gelungen ist, die Ausbreitung des Virus in dieser Zeit so deutlich auszubremsen, zeigt, dass wir einiges richtig gemacht haben.
Damit meine ich gar nicht nur uns oder den Senat. Es waren die Berlinerinnen und Berliner, die mit Besonnenheit auf die Krise reagiert haben, die mit Verantwortung ihr Verhalten geändert haben, die auf Abstand gegangen sind.
Inzwischen haben wir die jetzt schon fünfte Eindämmungsverordnung erlassen, erste Kontaktverbote sind gelockert, die Stimmung auf der Straße erinnert schon fast an den Zustand vor der Krise.
Dass doch alles anders ist, daran erinnern vor allem die Masken, die die Menschen nun verstärkt tragen. Verändert hat sich auch die Debatte über Corona. Es sieht fast so aus, als stünden sich zwei unversöhnliche Lager gegenüber: die einen für einen längeren Lockdown, die anderen für eine Rückkehr zur vermeintlichen Normalität.
Fest steht: Wir hatten Glück. Unser Gesundheitswesen ist nicht kollabiert. Szenen von sterbenden Menschen in improvisierten Krankenhauszelten wie in Italien sind uns erspart geblieben. Die Sterberate in Deutschland ist vergleichsweise niedrig. Es wäre also fahrlässig, jetzt übermäßig zu lockern. Binnen kürzester Frist wären die erzielten Erfolge vielleicht dahin und der wochenlange Lockdown umsonst gewesen.
Wie aber, meine Damen und Herren, finden wir das richtige Maß? Denn je länger die Eindämmungsmaßnahmen dauern, desto deutlicher werden auch die Schäden, die sie verursachen. Und das sind ausdrücklich nicht nur wirtschaftliche Schäden, das sind auch gesundheitliche Schäden, und das sind vor allem soziale Schäden.
Wir registrieren immer weniger Notfälle. Das liegt aber nicht daran, dass es die nicht mehr gibt, sondern die Menschen scheuen vor ärztlicher Behandlung zurück. Wahrscheinlich weil sie Angst vor einer Infektion haben. Vorsorgeuntersuchungen werden ausgesetzt, Erstdiagnosen verspätet gestellt; das kann gravierende Folgen haben, das kann Leben verkürzen. Wir wissen auch von anderen Schäden. Psychisch erkrankte Menschen leiden über die Maßen, überhaupt verstärkt das Kontaktverbot die Probleme, mit denen Menschen schon vorher gekämpft haben. Alleinstehende werden einsamer, Alleinerziehende stehen vor nicht zu bewältigenden Aufgaben. Menschen mit wenig Einkommen fehlt das Geld für die Miete oder um sich mit guten Lebensmitteln zu versorgen. Wo Gewalt in Familien herrscht, fehlt Hilfe und soziale Kontrolle.
Eigentlich ist es ein politischer Standard: Die Erfolge einer Maßnahme müssen mit den unerwünschten Folgen abgewogen werden, und das tun wir, meine Damen und Herren.
Da ist übrigens auch die Wissenschaft gefragt. Die Forschung zum Coronavirus muss gebündelt werden und Ergebnisse produzieren. Nur auf Grundlage wissenschaftlicher Ergebnisse bekommen wir die maximale gesellschaftliche Akzeptanz, und nur faktenbasiert können wir politisches Handeln anpassen.
Unser Ziel ist es, soweit es epidemiologisch vertretbar ist, Normalität in das Leben und den Alltag der Menschen zurückzubringen und Grund- und Freiheitsrechte so wenig wie möglich einzuschränken. Aber auch die Gesundheit ist ein Grundrecht, und die haben wir jetzt im Fokus.
Und was wir nicht oder noch nicht ausreichend tun: Den Rat von verschiedenen Fachleuten einholen. Wir Grünen wünschen uns einen Expertinnen- und Expertenrat mit Leuten aus Medizin und Gesundheitswissenschaft, aber auch aus der Soziologie, der Psychologie, der Gesellschaftswissenschaft und aus den Rechtswissenschaften, natürlich mit der Ärztekammer, dem Ethikrat, der Patienten- und Pflegebeauftragten und den Fürsprechern für Menschen mit Behinderung.
Dieser Beirat sollte bei den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, aber auch zur Lockerungsstrategie gehört werden. Dafür brauchen wir geordnete Bahnen. Und wir müssen die Kriterien, nach denen wir den fachlichen Rat bewerten, öffentlich und damit nachvollziehbar machen. Das kann breitere Legitimation und Akzeptanz verschaffen.
Und auch an anderer Stelle gibt es Neues zu gestalten. Wenn wir demokratischen Entscheidungen neue Legitimation verschaffen können, warum nutzen wir jetzt nicht auch die Gelegenheit, endlich den öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken? Dieser leistet gerade eine herausragende Arbeit. Aber es fehlen noch verbindliche Absprachen zwischen der Senatsverwaltung und den Bezirken; die Ressourcen sind nicht bedarfsgerecht verteilt. Und ja, Datenaustausch darf auch sein. Denn Ansteckungen erfolgen auch zwischen Britz und Köpenick und Reinickendorf und Charlottenburg. Auf lange Sicht können die Gesundheitsämter wieder zu den Zentren der Gesundheitsversorgung werden: bei der Vorsorge, bei dem Infektionsschutz und mehr.
Das versteht diese Koalition als einen wichtigen Teil der Daseinsvorsorge: Orte, die für die Schwächsten unserer Gesellschaft zentrale Anlaufstellen sind. Das möchten wir mit Ihnen zusammen in Berlin wieder aufbauen. Dafür müssen wir dem Fachkräftemangel entgegenwirken, wir müssen die Anerkennung ausländischer Abschlüsse beschleunigen und vor allem, unsere Wertschätzung für die Arbeit, die die Menschen da leisten, darf sich auch in Geld und nicht nur in warmem Applaus ausdrücken.
Natürlich müssen wir uns auch Gedanken über die Weiterentwicklung der coronaspezifischen Versorgung machen. Wir brauchen ein regelmäßiges Screening bei Personal und im Gesundheitswesen und repräsentative Tests, um das Infektionsverhalten besser zu verstehen. Und für Einzelpersonen sollten die Tests wohnortnah sein, damit niemand mit Infektionsverdacht in den Bus steigen muss.