Protocol of the Session on September 27, 2012

Positive Maßnahmen, eine Bevorzugung bestimmter Gruppen in Bewerbungsverfahren, sind in Deutschland ohnehin nur bei gleicher Qualifikation möglich. Eignung, Befähigung und fachliche Leistung eröffnen den Zugang zu öffentlichen Ämtern. Eignung, Befähigung und fachliche Leistung als solche wahrzunehmen und objektiv einzuschätzen ist aber offenbar genau das Problem, wenn man das Bewerbungsfoto einer Frau oder einen Bewerber mit dem Geburtsort Bagdad vor sich hat.

Internationale Erfahrungen und das kürzlich abgeschlossene Modellprojekt der Bundesregierung haben gezeigt, dass mehr Frauen und mehr Menschen mit Migrationshintergrund zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden, wenn sie die Chance hatten, sich anonym zu bewerben, also ganz ihre Qualifikation in den Vordergrund zu stellen. Anonymisierte Bewerbungsverfahren unterstützen somit die in der Antwort auf meine Kleine Anfrage vom 19. April genannten positiven Maßnahmen des Berliner Senats zur Erhöhung des Migrantinnen- und Frauenanteils. Eine beim Institut zur Zukunft der Arbeit erschiene Studie belegt, dass allein die Angabe eines türkischen Namens ausreicht, die Chance auf ein Vorstellungsgespräch um 14 Prozent zu senken. In kleineren Unternehmen sind es sogar 24 Prozent. Der „Tagesspiegel“ berichtete vor zwei Wochen, dass von den 31 000 Menschen aus der Türkei, die Deutschland seit 2010 verlassen haben, gut 20 000 im erwerbsfähigen Alter sind. Es sind also nicht etwa die Rentner, die es in den Süden zieht, sondern Menschen, die gehen, weil sie woanders größere berufliche Chancen sehen. Seit Jahren beobachten wir die Abwanderung von gut ausgebildeten Menschen vor allen Dingen in den angelsächsischen Raum, wo es für Frauen und Männer mit Namen wie Tschingis Aitmatow oder Wole Soyinka sehr viel leichter ist, eine adäquate Stelle zu bekommen, als im partizipationspolitischen Entwicklungsland Deutschland.

Das Modellprojekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat vor allen Dingen gezeigt, dass anonymisierte Bewerbungsverfahren mit einem standardisierten Bewerbungsformular praktikabel und ausgesprochen unkompliziert sind. Im ersten Schritt der Auswahl der Bewerber und Bewerberinnen wird auf Foto, Namen und Geburtsdatum bzw. Altersangabe sowie auf Informationen zum Familienstand und zur Herkunft verzichtet. – Wer dann detektivisch tätig sein möchte, um es doch herauszubekommen, kann das ruhig machen. – Das kann, wie in Celle erprobt, durch Onlinebewerbungen geschehen, in denen diese Angaben zunächst blind geschaltet werden. Die vollständigen Unterlagen bringen die Bewerber und Bewerberinnen dann im zweiten Schritt zum Vorstellungsgespräch mit.

Wir werden den Antrag im Ausschuss beraten und dort auch unsere Kritik einbringen. Wir hoffen, dass wir in der Sache zusammenführen. In der Beantwortung meiner Kleinen Anfrage wurde die Einführung nicht abgelehnt, und Frau Kolat hat in diesem Sommer noch einmal explizit von den Unternehmen eingefordert, dass anonymisierte Bewerbungen einzuführen seien. Sie kennt deren Vorteile also genau.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Vielen Dank! – Für die CDU-Fraktion hat jetzt der Abgeordnete Prof. Dr. Korte das Wort. – Bitte sehr!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick scheint eine anonymisierte Bewerbung vorteilhaft für Bewerber und Arbeitgeber zu sein. Der Arbeitgeber wird mit einer anonymisierten Bewerbung seine Entscheidung nach objektiven Kriterien treffen. Geschlecht, Alter, Herkunft führen nicht zu einer vorschnellen Meinung über die Bewerberin oder den Bewerber. Es zählen berufliche Qualifikation und persönlich Leistung – ein Gedanke, den auch wir teilen. Leistung muss sich lohnen, das gilt gerade auch im Arbeitsleben.

[Zurufe von den PIRATEN]

Aber man soll auch die Nachteile nicht verschweigen; denn natürlich verschieben sich die auf den ersten Blick nachrangigen subjektiven Kriterien auf den Zeitpunkt des Vorstellungsgesprächs. Hier entscheidet der Arbeitgeber, ob die Persönlichkeit, ob der Mensch in das Unternehmen passt. Hier reichen nicht mehr nur die genannten objektiven Qualifikationen.

Eine grundsätzliche Ablehnung dieses Vorschlags wäre jedoch vorschnell, zumal diese Form der Bewerbung

auch in anderen Ländern wie in Frankreich, in der Schweiz, in Schweden und – wir haben es gehört – in Belgien erprobt und in den USA bereits Alltag ist. Wir müssen uns deshalb mit diesem Thema im Ausschuss ausführlich auseinandersetzen und auf jeden Fall eine Abwägung der unterschiedlichen Standpunkte und Interessen vornehmen.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Höfinghoff?

An dieser Stelle nicht, nein! – Die CDU-Fraktion steht dem Thema aufgeschlossen gegenüber, doch wir müssen alle offenen Fragen möglichst auch mit Experten diskutieren.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Anonymisierte Bewerbungen können die Hürden zum Bewerbungsgespräch abbauen. Am Ende wird aber damit nur versucht, bestehende Unterschiede unsichtbar zu machen. Die Benachteiligungen werden möglicherweise nur zeitlich verlagert, ohne reduziert oder gar eliminiert zu werden. Die Entscheidung des Arbeitsgebers über eine Einstellung wird am Ende gerade nicht allein auf Grundlage eines absolut anonymen Verfahrens geschehen.

Bereits an dieser Stelle wird klar, dass nicht eine Nivellierung der Unterschiede in schriftlichen Bewerbungen, sondern vielmehr ein grundsätzlicher Mentalitätswandel vonnöten ist. Dieser jedoch kann nicht einfach durch die Politik, nicht durch unser Haus verordnet werden.

Blicken wir auch einmal auf die rechtliche Situation! Der Berliner öffentliche Dienst ist in seiner Personalpolitik bereits an die Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, gebunden. Sinn dieses Gesetzes ist, wir wissen es alle, die Vermeidung von Benachteiligungen aus Gründen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität. Vor diesem bestehenden gesetzlichen Schutzniveau müssen wir uns auch mit der Frage beschäftigen: Sind zusätzliche Regularien einer anonymisierten Bewerbung sinnvoll, oder bedeuten sie am Ende eine unnötige rechtliche Verkomplizierung?

Das anonymisierte Bewerbungsverfahren führt nach Auffassung meiner Fraktion auch nicht zwangsläufig zu einem optimierten Personalmanagement, sondern bringt womöglich einen größeren bürokratischen Aufwand mit sich, der Arbeitskräfte bindet oder gar noch mehr Arbeitskräfte erfordert. Dieses steht nicht im Einklang mit unserem Ziel, den Berliner Haushalt, wo immer möglich, zu konsolidieren.

Hinzu kommt: Gerade im öffentlichen Dienst, wo bei gleicher Eignung heute Frauen, aber auch Menschen mit Behinderung aus gutem Grund vorrangig eingestellt werden, bringen anonymisierte Unterlagen den Bewerbern keine Vorteile. Diese Regelung kann unter Umständen genau das Gegenteil des Gewünschten erreichen. Der Vorteil dessen, was anderswo „affirmative action“ heißt, ginge verloren.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat nach ihrem einjährigen Modellprojekt mit ausgewählten Unternehmen und Stellen des öffentlichen Dienstes im März 2012 einen Abschlussbericht vorgelegt. Darin wird empfohlen, die Entscheidung über die Einführung bei den jeweiligen Unternehmen und Dienststellen zu belassen. Langfristig erscheint es – so der Bericht – sinnvoll, anonymisierte, mindestens jedoch qualifikationszentrierte Bewerbungsverfahren einzusetzen. Ob ein solches Verfahren aber auch im Einzelfall Sinn macht, kann am Ende nur das einzelne Unternehmen, die Verwaltung oder Organisation selbst beurteilen. Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch meine Haltung. Unter dieser Maßgabe kann ein anonymisiertes Verfahren für das Land Berlin Sinn machen.

Eine einjährige Pilotphase in einem eng begrenzten Rahmen, wie von der Piratenfraktion gefordert, kann zeigen, ob unsere Bedenken in der täglichen Einstellungspraxis bestätigt werden. Eine Erprobungsphase können wir uns daher durchaus vorstellen. Dieses als erste flüssige Rückmeldung an die Adresse der Piratenfraktion! Wir legen aber großen Wert auf eine kritische Evaluierung nach Vorlage des Berichts durch die begleitende wissenschaftliche Arbeitsgruppe. Wir möchten daher den Antrag zunächst im Ausschuss für Arbeit, Integration und Frauen sowie im Hauptausschuss beraten wissen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Vielen Dank! – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Höfinghoff. – Bitte sehr!

Entschuldigung! Ich finde es notwendig, auch zu diesem späten Zeitpunkt zu intervenieren; denn obwohl der Kollege Korte am Ende Zustimmung zu diesem Antrag signalisiert hat, war dieser Redebeitrag – entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege Korte! – sogar für Sie ein neuer Tiefpunkt!

[Heiterkeit bei der LINKEN]

Warum, bitte, sollte dieses Haus es Unternehmerinnen und Unternehmern leichter machen, ausschließlich bzw. bevorzugt Mitglieder der männlichen weißen Mehrheitsgesellschaft einzustellen, wenn Sie es genauso gut

(Vizepräsidentin Anja Schillhaneck)

schwieriger machen und dafür sorgen können, dass Angehörige von diskriminierten Gruppen wenigstens zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden müssen? – Danke!

[Beifall bei den PIRATEN]

Möchten Sie antworten? – Bitte sehr!

Herr Kollege! Vielleicht sind Sie einem anderen Redebeitrag gefolgt als dem, den ich vorhin geleistet habe. Quintessenz ist und war, dass wir diesem Vorschlag offen gegenübersehen, dass wir aber die Vor- und Nachteile abwägen müssen – das ist wohl eine Selbstverständlichkeit –, und das kann nur da geschehen, wo es hingehört, nämlich in den beiden Ausschüssen.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Vielen Dank! – Für die Linksfraktion hat jetzt Frau Abgeordnete Breitenbach das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir teilen das Anliegen des Antrags der Piraten. Trotzdem muss man sich mit bestimmten Fragen noch ein bisschen genauer auseinandersetzen. Übrigens finde ich, auch Sie, Herr Korte, sollten das machen. Schon die Frage gleiche oder gleichwertige Qualifikation ist sehr spannend. Je nachdem, was angelegt wird, werden da unterschiedliche Ergebnisse herauskommen. Es gibt sehr viele Studien, die strukturelle Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt sehr deutlich machen, strukturelle Diskriminierung von Frauen, strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund und strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen – trotz Landesgleichstellungsgesetzen, trotz anderer Gesetze.

[Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Da könnte die anonymisierte Bewerbung eine Chance sein, eine Chance, zu mehr Gleichheit, zu mehr Gerechtigkeit zu kommen. Das sollten wir im Ausschuss gründlich diskutieren.

Ich finde, in diesem Zusammenhang sollte auch diskutiert werden, ob es ausreicht eine Senatsverwaltung zu nehmen, ein landeseigenes Unternehmen, oder ob es mehrere sein sollten oder etwas an ganz anderes. Ich stimmt nicht der Feststellung der Grünen zu, dass ein Modellprojekt nicht nötig sei. Zumindest bei der Auswertung des Bun

desmodellprojektes kam man zu dem Ergebnis, dass es sinnvoll wäre, weitere Modellprojekte zu nehmen und diese auch auszuwerten. Insofern könnte ich auch gut mit einem Modellprojekt leben.

Aber, liebe Piraten, eine Sache muss tatsächlich geklärt werden, da hat Frau Becker recht. Ich glaube, da findet man einen Weg. Man kann in Berlin nicht eine anonymisierte Bewerbung einführen und damit gleichzeitig das LGG außer Kraft setzen. Aber wahrscheinlich ist daran auch nicht gedacht, deshalb müssen Wege gesucht und gefunden werden, um beide Sachen miteinander zu verbinden. Aber anonymisierte Bewerbung ist erst einmal etwas Positives und wird dazu führen, dass Ungleichbehandlung abgebaut wird. Alles Weitere können wir im Ausschuss diskutieren. – Danke!

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Vielen Dank, Frau Breitenbach! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Es wird die Überweisung des Antrags an den Ausschuss für Arbeit, Integration, Berufliche Bildung und Frauen und an den Hauptausschuss empfohlen. Gibt es hierzu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so.

Die Tagesordnungspunkte 18 und 19 stehen auf der Konsensliste.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 20:

Bessere Bildung: Modelle zur „Neuen Lehrer/-innen/arbeit“

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/0479

Eine Beratung ist nicht mehr vorgesehen. Es wird die Überweisung des Antrags federführend an den Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie und mitberatend an den Ausschuss für Arbeit, Integration, Berufliche Bildung und Frauen empfohlen. Gibt es hierzu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 21:

Häufigkeit der Krebsfälle im Umfeld des HZB-Forschungsreaktors BER II in Wannsee untersuchen