Protocol of the Session on May 4, 2006

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 85. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste, die Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich.

Zunächst habe ich einiges Geschäftliche mitzuteilen. Am Dienstag sind vier Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der SPD und der Linkspartei.PDS zum Thema: „1. Mai in Kreuzberg – Engagement der Anwohner und Polizeikonzept haben sich bewährt!“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Gefangenenfluchten, fehlende Haftplätze, gescheiterte Justizreform – 4½ Jahre Sicherheitsrisiko Senatorin Schubert“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Weltoffen zur WM und im Alltag – Berlin braucht endlich eine umfassende Integrationsstrategie!“,

4. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Blamage zur Fußball-WM: in Berlins Mitte Großbaustellen – in der übrigen Stadt lässt der Senat die Infrastruktur verfallen!“.

Im Ältestenrat konnten sich die Fraktionen auf ein gemeinsames Thema nicht verständigen. Ich rufe zur Begründung der Aktualität der eingegangenen Anträge auf. Für die Fraktion der SPD erhält Herrn Zackenfels das Wort. Ich mache zuvor noch einmal darauf aufmerksam, dass nur die Aktualität zu begründen ist. Der Ältestenrat hat mich aufgefordert, schärfere Maßstäbe anzulegen; ich tue das gern, das kann die Sitzung sehr verkürzen. – Bitte schön, Herr Zackenfels!

Herzlichen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für einen Abgeordneten aus Friedrichshain-Kreuzberg gibt es in diesen Tagen kaum etwas aktuelleres als den 1. Mai. Wir meinen, dass dieses Thema auch die Aktuelle Stunde im Abgeordnetenhaus bestimmen sollte. Dafür sind drei Gründe ausschlaggebend: Zum einen war dies sicherlich der friedlichste 1. Mai seit Jahren. Wir hatten Scharmützel statt Straßenschlachten, wir hatten gesunkene Festnahmen in der Walpurgisnacht und am 1. Mai, und wir hatten rund 1 000 Polizisten weniger im Einsatz als im Vorjahr.

Zum anderen befinden wir uns am Ende eines Prozesses. Seit den schwersten Ausschreitungen 2001 unter Senator Werthebach hat sich viel getan – der Regierungswechsel zu Rot-Rot, ein neuer Innensenator, ein neuer Polizeipräsident, ein neues Konzept, die so genannte „ausgestreckte Hand“, das die Polizei dankenswerterweise auch durchhält. Insgesamt gibt es eine Bereitschaft, Freiheit zur politischen Meinungsbildung und zum Protest, Freiheit zum friedlichen Feiern zu ermöglichen, ohne auf politische Aussagen zu verzichten, ohne aber auch durch Bilder von brennenden Autos zur Stigmatisierung dieses Tags der Arbeit in Berlin beizutragen.

Wie alle Konzepte, so brauchte auch dieses seine Zeit und den unbedingten Willen zur Kontinuität. Dazu waren nicht alle Parteien in diesem Hause bereit – ich erinnere an den Missbilligungsantrag 2003 gegen Erhart Körting wegen dieses Konzeptes. Ich zitiere daraus:

Nach den Maikrawallen ist die Deeskalationsstrategie des rot-roten Senats für unsere Stadt nicht länger tragbar.

Wir haben uns als Regierungsparteien, aber auch gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen zu Recht nicht beirren lassen und in diesem Konzept weitergemacht.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Drittens muss man allerdings darauf hinweisen, dass das alles nichts wäre, wenn es nicht den ehrlich beherzten Vorstoß der Bewohnerinnen und Bewohner gegeben hätte, sich ihr Wohnumfeld nicht mehr sinnlos kaputt machen lassen zu wollen. Mit Interesse habe ich der heutigen Presse entnehmen können, dass ein Teil der Gewalttäter auch in diesem Jahr wieder eigens zu den Maifeiertagen aus Brandenburg und anderen Bundesländern eingereist ist. Ich finde immer, Ehre, wem Ehre gebührt, aber man kann nicht aufzählen, wer alles an diesem Tag mitwirkt: die unzähligen Vereine, die Jugendlichen und Träger, die Teams der Quartiersmanagementgebiete, die Veranstalter des Myfestes, PDS und Bündnis 90/Die Grünen und stellvertretend für viele im Kiez die QM-Beauftragte aus dem Bezirk selbst, Silke Fischer.

Wir hatten uns an die Bilder vom Mauerpark, vom Boxhagener Platz und aus Kreuzberg SO 36 gewöhnt. Manche mögen sich sogar damit abgefunden haben,

[Ratzmann (Grüne): Wir nicht!]

manch einer sogar politischen Vorteil daraus ziehen wollen. Den Grad an Einsatz zu würdigen, der es nun nach vier Jahren kontinuierlicher Verbesserung ermöglichte, diese Spirale der Gewalt zu durchbrechen, kann nicht aktuell genug sein, als dass wir uns damit in diesem Haus nicht einmal detaillierter beschäftigen sollten. Gibt es etwas Aktuelleres als Deeskalation? – Wir meinen ausdrücklich: Nein! Deshalb würden wir uns freuen, wenn Sie unserem Wunsch nach Aussprache hierüber folgen würden. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Danke schön, Herr Kollege Zackenfels! – Für die Fraktion der CDU hat jetzt der Kollege Braun das Wort. – Bitte sehr, Herr Braun!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In unserer Fraktion haben wir lange darüber diskutiert, wie aktuell in Berlin eigentlich das Entweichen von Strafgefangenen aus dem Berliner Justizvollzug ist.

[Schimmler (SPD): Mir kommen die Tränen!]

Viele waren der Meinung, dies sei in Berlin bereits Alltag, also nicht mehr aktuell. Hat es überhaupt noch Sinn, sich mit Frau Schubert auseinander zu setzen? – Die

Wir möchten deshalb heute mit Ihnen darüber diskutieren, wie künftig derartige Missstände verhindert werden. Ich bin aber sicher, Sie haben kein Konzept, Sie werden auch weiterhin bagatellisieren. Ich erinnere mich noch an die Zeiten, da sind Justizsenatoren dieser Stadt zurückgetreten, wenn es nur einen einzigen Fall gab. Sie übernahmen damals die politische Verantwortung. Aber das ist von der politischen Führung, von Frau Schubert und ihrem Staatssekretär, wohl nicht zu erwarten.

Apropos Justiz und Reform: außer Selbstbeschäftigung kein erkennbarer Nutzen für den rechtssuchenden Bürger. – Lange wird es wohl nicht mehr dauern mit diesem Senat. Nach dem 17. September wird Berlin eine neue politische Führung haben. Und das ist gut so!

Danke schön, Herr Kollege Braun! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Frau Villbrandt das Wort. – Bitte schön, Frau Villbrandt!

Spatzen pfeifen es von den Dächern Berlins: Egal wie die Wahlen am 17. September ausgehen werden, Frau Schubert wird jedenfalls nicht mehr weiter für das Justizressort verantwortlich sein.

Lassen Sie mich einen kleinen Rückblick machen. – Im Februar 2005 gelang einem Strafgefangenen nach einer vorgetäuschten Verletzung die Flucht aus dem Jüdischen Krankenhaus in Wedding. Im September 2005 gelang einem 17-Jährigen die Flucht aus dem Jugendgefängnis in Buch, nachdem er den Besuch von drei Freunden erhalten hatte. Einer tauschte mit ihm die Mütze und den Pullover und blieb statt seiner in der Justizvollzugsanstalt.

[Zurufe von der Linkspartei.PDS]

Im Oktober 2005 gelang einem Rauschgiftdealer die Flucht, nachdem er mit einer Begleitung in das Café Kranzler ging und dort unter dem Vorwand, die Toilette benutzen zu wollen, entwich. Im Januar 2006 gelang einem weiteren Gefangenen die Flucht. Er besuchte die Wohnung seiner Ehefrau und Kinder in Marienfelde. Obwohl er von bewaffneten Justizwachmeistern begleitet wurde, konnte er dennoch den Schlüssel der Ehewohnung an sich nehmen, seine Begleiter überlisten und entweichen. Im März 2006 konnte der Fluchtversuch des Hauptangeklagten im Sürücü-Prozess, des inzwischen erstinstanzlich verurteilten Ayhan Sürücü, aus einem Gefangenentransporter nur durch Zufall vereitelt werden. – Auch an dieser Stelle noch einmal Anerkennung für die schnelle Reaktion des ihn begleitenden Wachpersonals.

[Beifall bei der CDU]

Im April 2006 kehrte ein Gefangener von seinem Hafturlaub nicht zurück. Nach meiner Kenntnis befindet er sich noch immer auf freiem Fuß.

Dies sind die bekannt gewordenen Fälle. Jeder Fall ist sicher als Einzelfall zu behandeln, jeder Fall hat unterschiedliche Ursachen. Die CDU fragt jedoch, ob der erhebliche Stellenabbau in der Berliner Justiz dazu geführt hat, dass Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist, Mängel bei der Begutachtung und Entscheidung der Frage, ob und gegebenenfalls wie Gefangene auszuführen sind, vorhanden sind. Frau Justizsenatorin Schubert fehlt bis heute ein Konzept, wie diese Mängel abzustellen sind. Ihre einzige Reaktion war es, ihre Büroleiterin zu befördern und sie zusätzlich mit den Angelegenheiten des Strafvollzuges zu betrauen. So sind halt die Sozialdemokraten!

[Och! von der SPD]

Dies alles ist zu wenig! Die Berliner CDU erwartet, dass derartige Missstände abgestellt und nicht umorganisiert werden.

Was macht eigentlich Herr Wowereit? – Der interessiert sich in Berlin grundsätzlich nicht für unangenehme Aufgaben, dieser Herr ist bekanntermaßen nur für Glamour und Preisverleihungen zuständig.

[Frau Michels (Linkspartei.PDS): Unerhört!]

In der Stadt ist längst der Eindruck entstanden, Frau Schubert ist mit ihrem Amt überfordert. Resozialisierung darf nicht dazu führen, dass die Sicherheit der Justizmitarbeiter und Bürger nicht mehr gewährleistet ist.

[Beifall bei der CDU]

Derartige Vorfälle, wie von mir dargestellt, diskreditieren in den Augen der Bürger das gesamte System der Resozialisierung. Daran dürfen wir kein Interesse haben.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP – Ha, ha! von der SPD]

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Langsam wird Deutschland vom Weltmeisterschaftsfieber erfasst. Die Bürger und Bürgerinnen freuen sich, alle Welt ist aufgeregt. Berlin hofft auf Besucher aus aller Welt, will gute Geschäfte machen, will ein guter Gastgeber sein. Allein aus Brasilien sind bereits um 52 000 Übernachtungen in Deutschland gebucht. Berlin ist die internationale Metropole Deutschlands, und das wollen wir ausbauen, nicht nur zur WM. Wir wollen noch mehr Gäste, und die, die hierher kommen, sollen auch später wieder Berlin besuchen wollen. Und sie sollen, wenn sie wollen, auch bleiben können.

[Beifall bei den Grünen]

Berlin ist die Einwanderungsstadt Deutschlands, das muss endlich auch in der Berliner Politik ankommen. Das erfordert mehr als das Verwalten von Problemen. Das erfordert eine strategisch angelegte Einwanderungspolitik für diese Stadt. Davon ist bei Rot-Rot nichts zu merken. Es gibt eben nicht nur Meldungen, die für Berlin werben. Überfälle auf Menschen mit Migrationshintergrund oder auf dunkelhäutige Menschen, das Verharmlosen von Vorfällen durch Politiker haben ebenfalls ein starkes Medienecho, und das Image Deutschlands und Berlins könnte empfindliche Risse bekommen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in der Stadt zurzeit kaum ein aktuelleres Thema als die Fußball-WM. Deshalb haben wir das Thema auch für die Aktuelle Stunde vorgeschlagen. – Berlin war schon immer eine Stadt der Kontraste. Das ist auch gut. Was sich jedoch im Zusammenhang mit der Fußball-WM auftut, ist eigentlich weniger gut. Ich finde es prima, dass Berlin Hauptaustragungsort der FußballWM wird, weil es dem Fußball, aber auch der Stadt nutzt. Die Stadt bekommt durch die Veranstaltung mehr Renommee. Sie bekommt hoffentlich auch viele Gäste, was bekanntlich wirtschaftliche Vorteile für die Stadt nach sich zieht.

Wenn ich aber von Renommee spreche, wird mir bereits unwohl, wenn ich bedenke, was sich hier in Stadt in Sachen Bauen und Infrastruktur tatsächlich tut, wie viel Fassade dabei im Spiel ist und was sich hinter der Fassade verbirgt. In Berlin wird noch an vielen Stellen gebaut, auch im Bereich der öffentlichen Infrastruktur. Das möchte ich gar nicht kleinreden. Der Alex wird umgebaut und dadurch gewissermaßen baureif gemacht. Die für die Präsentation Berlins wichtigste Straße, die Straße Unter den Linden, wird umgebaut. Im Bereich des Friedrichsforums wird aufgewertet. An der Friedrichstraße entsteht ein privates Großvorhaben. Auch das ist gut.

Berlin ist für seine Bevölkerungsvielfalt bekannt. Es ist ein Aushängeschild. Einzelne Vorkommnisse wird man nie vollständig ausschließen können, aber es wird immer deutlicher, dass Berlin seine Integrationsaufgabe insgesamt nicht gelöst hat. Wie glaubwürdig ist eigentlich unser Werbeslogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“, wenn über Berlin im internationalen Reiseführer zu Recht steht, dass dunkelhäutige Menschen bestimmte Gegenden der Stadt meiden sollen? Wenn Freunde, Gäste, die etwas länger bleiben wollen oder möchten, durch Sicherheitsschleusen, durch Absperrungen müssen, um ihren Aufenthalt zu verlängern? Wenn Abschiebungen immer wieder stattfinden, die auf großes Unverständnis in der Stadt und bundesweit stoßen? Das gehört nicht zum Gesicht einer offenen Stadt, die zu ihrer Vielfalt steht.

Es gibt immer noch Politiker, die nicht begriffen haben, was hier seit 45 Jahren gelaufen ist. Sie sprechen von Gastarbeitern, von Parallelgesellschaften. Berlin ist eine multikulturelle Stadt. Wer das in Frage stellt, stellt auch Berlin in Frage und kann kein guter Gastgeber für die Fußballweltmeisterschaft sein. Wer ignoriert, dass in Deutschland Menschen aus der Türkei, aus Angola, aus Vietnam, aus Russland oder aus dem Kosovo ihre Heimat gefunden haben, schließt die Augen vor der Herausforderung des 21. Jahrhunderts.

Wir alle wissen, dass kulturelle Unterschiede auch gesellschaftliche Reibung erzeugen. Diese brauchen wir. Sie bringt aber auch Konflikte mit sich, die gelöst werden müssen. Dazu müssen die Migranten-Communities etwas beitragen. Das ist klar. Darüber ist in den letzten Monaten viel Richtiges gesagt worden. Es muss eine Verständigung auf eine gemeinsame Grundlage für Staat und Gesellschaft geben, das Anerkennen von Grund- und Menschenrechten, das Eintreten für die gemeinsame Regel, Perspektiven, die Zukunft verheißen.

Wo ist das aber in der Berliner Politik erkennbar? – Berlin muss sich endlich dazu bekennen, Einwanderungsstadt mit einem Leitbild zu sein, das mobilisiert und zum Mitmachen einlädt. Die rot-rote Regierung hat hier versagt. Die Expertise der PDS-Fraktion zur Ausländerbehörde, Abteilung IV, ist ein Beweis dafür, dass rot-rote Reförmchen nicht mehr helfen. Berlin muss radikal umdenken und die Verwaltung umbauen. NRW hat ein Integrationsministerium. Berlin muss zeigen, dass Einwanderung in Deutschland funktioniert. Wir Grüne wollen das. Wir wollen die Einwanderungsgesellschaft gestalten. Darüber müssen wir reden, damit Schlagzeilen über Gewaltschulen, No-Go-Areas, Ehrenmorde und rassistische Anschläge der Vergangenheit angehören. Berlin ist in Sachen Integration Kreisliga, Bundesliganiveau sollten wir schon anstreben. – Danke!