Protocol of the Session on June 13, 2002

Berlin ist bildungspolitisch auf dem Nullpunkt. Wir müssen von vorn anfangen. Wir brauchen eine seriöse Bildungspolitik ohne waghalsige Experimente, deren Folgen wir nicht einzuschätzen wissen. Ich bitte Sie wirklich dringlich aus dieser aktuellen Bildungsmisere heraus, die Einführung des Pflichtunterrichts um zwei Jahre zu verschieben. Seien Sie mutig. Ich weiß, es gehört Mut dazu. Ihre politischen Gegner und Ihre politischen Freunde werden es Ihnen nicht anlasten. Ich bin davon überzeugt, Eltern, Schüler und ein Großteil der Lehrer wird es Ihnen danken! – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Danke schön! Für die Fraktion der Grünen hat das Wort der Abgeordnete Herr Mutlu!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Rettet die Bildung!“ So lautete das Motto der gestrigen Demonstration. Ich finde es nicht erfreulich, wenn vier verschiedene Parteien hier nach vorn laufen und keiner dieses ansatzweise anmerkt. Es ist kein Wunder, keiner von Ihnen war da. Ich konnte jedenfalls keinen sehen.

[Zurufe von der PDS]

30 000 Menschen, jung und alt, Schüler und Lehrer, Mütter und Väter waren auf der Straße, um die Politik wachzurütteln, meine lieben Kollegen. Ich hoffe, dass die Vertreter der Regierungsfraktionen von Rot-Rot

[Frau Dott (PDS): Frau Schaub war da!]

nicht, wie in der Vergangenheit schon so oft geschehen, die berechtigten Forderungen der Demonstranten einfach ignorieren und zur Tagesordnung übergehen.

In der Opposition hat man üblicherweise die Aufgabe, auf alle möglichen Missstände und Versäumnisse der Regierung hinzuweisen. Es ist eine Aufgabe, die – das gebe ich gern zu – weniger unangenehm ist als das Regieren-Müssen in einem finanzpolitischen Tal der Tränen. Die Oppositionsrolle wird allerdings durch die Tatsache, dass man immer und immer wieder dieselben Dinge anprangern muss, dieselbe Kritik üben muss, keineswegs angenehmer. Mir liegt die Bildungspolitik und die Integrationspolitik sehr am Herzen, ganz besonders auch im Hinblick auf die sprachliche Integration.

Wenn ich nun aber mitverfolge, wie Sie, meine Damen und Herren von der rot-roten Koalition, die Bildungs- und damit die Integrationspolitik vernachlässigen, kommt bei mir keine Freude auf. Ihnen, Herr Böger, kann das eigentlich auch gar keinen Spaß machen. Sie mussten sogar schon unter Diepgen falsche Prioritäten und finanzielle Aushungerung rechtfertigen. Jetzt haben

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Sie im Grunde auch dasselbe unter Rot-Rot zu vermitteln. Man kann sagen, es wäre eine gewisse Art von Kontinuität. Ich halte aber von dieser Kontinuität nichts.

[Beifall bei den Grünen]

Ich würde mich für Sie und vor allem für unsere Kinder freuen, brauchten Sie nicht immer bloß anzukündigen, was Sie alles täten, wie Sie es jetzt auch getan haben, Frau Dr. Barth und Frau Dr. Tesch, sondern wenn Sie auch anfingen, all Ihre Versprechungen vor und nach den Wahlen, all das, was in dem Koalitionsvertrag festgehalten ist, endlich in die Tat umzusetzen!

[Beifall bei den Grünen und der CDU]

Sie, meine Damen und Herren von der rot-roten Koalition, haben angekündigt und versprochen, der Bildungspolitik höchste Priorität einzuräumen. Sie wollten 30 neue Ganztagsschulen gründen, mit der flächendeckenden Einführung der verlässlichen Halbtagsgrundschule wollten Sie feste Betreuungszeiten und bessere Erziehung ermöglichen. Mehr Ganztagsgrundschulen wird es bis 2004 nicht geben. Wie sich die verlässlichen Halbtagsgrundschulen entwickeln wird, wissen wir bislang noch nicht.

Verantwortungslos sind darüber hinaus die von Ihnen beabsichtigten Einschnitte im vorschulischen Bereich. Mit dem Abbau von Stellen im Leitungsbereich der Kitas oder der Verschlechterung des Betreuungsschlüssels der Horte schaden Sie den Kindern und senken damit auch die Qualität der vorschulischen Bildung insgesamt. Aus den Ergebnissen von PISA wollten Sie gerade haushaltspolitisch die gebotenen Konsequenzen ziehen. All das haben Sie bisher nicht getan.

Wir beraten gerade den Doppelhaushalt 2002/2003. Ich sehe keine einzige müde Mark, die Sie in die Bildung zusätzlich investieren! [Klemm (PDS): Euro!]

Danke, Herr Kollege! – Sie praktizieren gerade das Gegenteil von dem, was Sie uns hier tagtäglich in der Presse oder hier im Plenum erzählen. Bildung ist für Sie Rotstiftpädagogik, nicht mehr und nicht weniger! Damit brechen Sie nicht nur Ihre Wahlversprechen und zeigen den Wählern immer wieder Ihre lange Nase, sondern untergraben damit die Zukunftsfähigkeit dieser Stadt und dieser Gesellschaft. Dabei hat PISA in aller Deutlichkeit gezeigt, wo unsere Defizite liegen und wie wichtig und notwendig eine qualitativ gute vorschulische Erziehung ist. Die extreme Finanzlage Berlins darf meiner Meinung nach keine Ausrede für jeden Politikansatz sein, den Sie hier betreiben. Jede Notlage wird durch kurzsichtiges Streichen und Kürzen nur vorübergehend gelindert, auf mittlere und lange Sicht hingegen weiter verschärft.

Wenn Sie aber jetzt die finanziellen Rahmenbedingungen sowohl für die Schule als auch für den gesamten vorschulischen Bereich verschlechtern wollen, dann brechen Sie eines Ihrer zentralen Wahlversprechen.

Die Defizite liegen auf der Hand. In der Sprachstandserhebung, die jüngst für die Innenstadtbezirke durchgeführt wurde, schnitten die Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache, wie hier von vielen wiederholt worden ist, ziemlich schlecht ab. Gleichzeitig wies das Sprachvermögen etwa der Hälfte der deutschstämmigen Kinder ebenfalls erhebliche Mängel auf. Diese Tatsachen weisen auf wenigstens drei eng miteinander verzahnte Probleme hin:

Erstens zeigen sie, dass die Integration und die Sprachförderung von Minderheiten grundsätzlich in der Sackgasse steckt. Dat ist keine Lösung.

Zweitens zeigen die Ergebnisse, dass hier nicht einfach ein so genanntes „Ausländerproblem“ vorliegt, sondern eine handfeste soziale Schieflage. Ein Mangel an sprachlichem Ausdrucksvermögen ist immer auch eine Frage der sozialen Herkunft und ihrer entsprechenden Bildungsferne.

Und drittens wird belegt, wie wenig der Politik dieser Bereich bislang überhaupt wert war.

Sie verschärfen die Problematik, wenn Sie z. B. Förderstunden abbauen. Wenn wir uns die Organisationsrichtlinien für das kommende Schuljahr anschauen, Frau Tesch, ist es so, dass Sie bei der Förderung von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache ganze 30 Stellen gekürzt haben. Sie haben Recht, es werden 732 Stellen zur Verfügung gestellt. In diesem Schuljahr, im laufenden Schuljahr haben wir 762 Stellen. Wenn ich ganz einfach subtrahiere, bleibt da eine Differenz von 30. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie gezielt fördern. Sie streichen! Seit 1995 wurden die Mittel für die Förderung von Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache kontinuierlich gesenkt, bis wir heute ungefähr die Hälfte von dem haben, was es 1995 dafür gab.

Die Ergebnisse der Sprachstandserhebung sind nicht neu. Sie überraschen auch nicht. Die Weddinger Sprachstandserhebung vor zwei Jahren hat uns die Defizite eindeutig belegt. Schon damals haben wir gesagt: Es ist sinnlos, eine flächendeckende Sprachstandserhebung zu machen, weil die Ergebnisse keine anderen sein werden. – Fangen Sie lieber an, etwas dagegen zu tun!

[Beifall der Frau Abg. Senftleben (FDP)]

Fangen Sie an, gegenzusteuern, anstatt immer wieder zu erzählen, was Sie tun wollen und versprechen!

[Beifall bei den Grünen und der FDP]

Ein anderes Beispiel: Nach wie vor ist die Zukunft der ausgesprochen erfolgreichen Mütterkurse finanziell ungewiss. Erzählen Sie mir hier nicht, dass Sie das ausbauen wollen. Sie haben das nicht im Haushalt, und solange das nicht im Haushalt ist, solange Sie das wieder auf die Bezirke abschieben, dabei hat der Rat der Bürgermeister, zu Ihrer Erinnerung, schon im letzten Jahr beschlossen – – Er ist nicht mehr bereit, die Art der Finanzierung für diese bezirksübergreifende Aufgabe zu übernehmen. Das ist eine Landesaufgabe, und dann müssen Sie die Mittel dafür bereitstellen. Wenn wir uns das in den Haushaltsberatungen angucken, haben Sie keinen einzigen Schritt gemacht, Sie haben nicht einmal unseren Antrag, der im Plenum diskutiert worden ist bzw. auch im Ausschuss angemeldet worden ist, diskutiert.

PISA hat zweifelsfrei erwiesen, wie notwendig die vorschulische Bildung gerade für die Spracherziehung ist. Erst kürzlich hatte ich die Gelegenheit, mich mit schwedischen Pädagogen und Bildungsexperten auszutauschen. Abgesehen von vielen höchst bemerkenswerten Merkmalen des skandinavischen Bildungssystems und seines anderen Selbstverständnisses von Bildung, wo der Schüler im Fokus, im Mittelpunkt steht, gelten dort vorschulische Einrichtungen als eigenständige Bildungseinrichtungen, und sie werden auch entsprechend gefördert. Dass diese Länder in der PISA-Studie so viel besser abschneiden als wir in Deutschland, darf daher nicht verwundern. Es ist – wie ich eingangs schon bemerkt habe – alles andere als erquicklich, immer wieder die gleiche Stagnation der Berliner Bildungspolitik anzuprangern. Ich fordere Sie auf, kommen Sie endlich mit Taten. Zeigen Sie uns, was Sie tatsächlich für diesen Bereich tun wollen. Begreifen Sie unser Antragspaket, das wir im Frühjahr dieses Jahres unter der Überschrift „Bildung hat Priorität“ eingereicht haben, als eine Chance, als eine Unterstützung. Fangen Sie endlich an, diese kleinen Schritte in die Tat umzusetzen! Sie haben diese Chance damals unter der großen Koalition auch vertan.

Achten Sie bitte auf die Redezeit!

Ich komme zum Schluss. – Sie haben auch damals, im Jahre 2000, wo wir dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, nichts getan. Sie haben auch nach der Innenstadtkonferenz 1998 nichts getan außer der Einrichtung der Mütterkurse, die jetzt gefährdet sind. Meine Damen und Herren von SPD und PDS, lösen Sie endlich Ihre Wahlversprechen ein, retten Sie die Bildung, investieren Sie in unsere Kinder, investieren Sie in die Zukunft dieser Stadt! – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP – Beifall der Frau Abg. Baba (PDS)]

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Danke schön! – Das Wort hat nunmehr auf Seiten des Senats der Senator Böger.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich freue mich, dass wir heute Gelegenheit haben, über Bildung zu diskutieren. Ich gebe vorab all jenen Kolleginnen und Kollegen im Parlament Recht, die auf gewisse Zusammenhänge zwischen der Bildungspolitik und der Finanzpolitik hingewiesen haben. Das ist wahr, und zwar gilt das, Frau Kollegin, in allen Ländern. Der neue Kollege in Hamburg von der FDP macht auch Furore in vielen Bereichen. Wenn ich daran erinnere, die Demonstration, die finde ich auch richtig, die hat sich an die Ministerpräsidenten gerichtet. Und da gibt es noch einige Regierungen, an denen Sie beteiligt sind. Was ich sagen will, ist, wenn man dieses Thema und die Fragestellung ernst nimmt, sollte man sich vor dem kleinteiligen parteipolitischen Karo hüten. Das haben Sie leider nicht getan.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Das hilft überhaupt niemandem weiter, herumzumosern und zu sagen: Was hast du getan? – Und so weiter!

[Mutlu (Grüne): Sie haben nichts getan! Das ist doch das Problem!]

Von der CDU habe ich Vorschläge bekommen, die sie noch nie gemacht hat. Die Verantwortung für PISA – das ist eine Untersuchung von 2000 mit 15-Jährigen – macht eine lang haltende Fehlentwicklung in unserem Bildungssystem deutlich. Ja, das ist so, das ist bitter! Ich sage Ihnen etwas voraus: Selbst wenn wir bessere finanzielle Bedingungen hätten, die ich mir wünsche, es würde eine relativ lange Zeit dauern, bis Sie bessere Ergebnisse haben. Wer anderes sagt, lügt sich in die Tasche und verfällt in einen Aktionismus, der nicht hinhaut.

[Beifall bei der SPD und der PDS – Zuruf des Abg. Mutlu (Grüne)]

Daraus kann man natürlich nicht schließen: Wir lehnen uns zurück und lassen alles weiter so laufen wie bisher. – Jeder, der die Situation in Berlin etwas genauer verfolgt, weiß, dass das gar nicht stimmt. Aber es ist wahr: Veränderungen im Bildungssystem, Veränderungen insbesondere dann, wenn wir glücklicherweise in der Bundesrepublik Deutschland einmal dazu kommen, Qualität zu messen, was geschehen ist, diese Veränderungen brauchen einen längeren Prozess. Im Übrigen werde ich in meiner Verantwortung nicht die Politik verfolgen, ich decke nicht Schwächen schonungslos auf, ich lasse es eben lieber unerklärt, da lässt sich besser über alles Mögliche reden. Nein, wir werden in Berlin auch die Sprachstandserhebungen fortsetzen. Das sind keine Tests, das ist durchaus nicht Schlaumeierei, sondern es ist mir aus pädagogischen Gründen wichtig, dass es eine Sprachstandserhebung ist, in der Kinder sozusagen spielerisch gemessen werden, was sie an Sprachfähigkeiten haben. Diese Sprachstandserhebungen – so habe ich es angeordnet – werden in Zukunft schon in der Kita beginnen, damit wir dort einen Ausgangspunkt haben. Sie werden dann in allen Bezirken bei Eintritt in die Grundschule gemacht. Sie sollen noch einmal gemacht werden am Ende der dritten Klasse. Nun kommt ein Unterschied: Anders als meine Kollegen in Hessen und Hamburg mache ich Sprachstandserhebungen von allen Kindern und nicht nur von ausländischen Kindern,

[Beifall bei der SPD und der PDS – Beifall der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

und zwar sehr bewusst, weil ich nicht so durch die Welt gehe und weil wir schon gemerkt haben, durch diese Erhebung, dass sprachliche Defizite durchaus nicht immer mit Nationalitätsfragen korrespondieren, sondern sehr stark – ich gebe zu, es ist nicht neu, aber es ist bitter, das auch im Jahr 2002 festzuhalten – mit sozialen Verhältnissen korrespondieren, und da muss man anfangen und ansetzen.

[Beifall der Frau Abg. Dr. Tesch (SPD)]

Ich freue mich, wenn die FDP dies so sieht.

Herr Senator, gestatten Sie eine Zwischenfrage?