Bei allen negativen Aspekten, in Brandenburg beispielsweise die Folgen für die Wirtschaft sowie die ab 2020 möglicherweise sinkenden EU-Fördermittel - meine Vorredner sind darauf um fangreich eingegangen -: Das Votum der Briten bietet auch eine Chance, die genannten Vorteile Europas deutlich zu machen und den Skeptikern zu zeigen, was sie an Europa haben und was ihnen bei einem Austritt möglicherweise verloren geht.
Viele in Großbritannien merken erst jetzt, was der Brexit be deutet, zum Beispiel die drohende Spaltung des Vereinigten Königreichs. Schottland möchte in der EU bleiben, Nordirland befürchtet ein Aufflammen des alten Konfliktes, und die Ra ting-Agenturen erwarten ein geringeres Wirtschaftswachstum sowie weniger Investitionen, vor allem in den wirtschaftlich schwächeren Landesteilen. So stimmte merkwürdigerweise im strukturschwachen Cornwall eine Mehrheit für den Brexit, und kurz nach der Abstimmung fragte die lokale Verwaltung prompt, ob die britische Regierung nun die Millionensubventionen aus Brüssel ersetzen werde.
Nach dem Referendum nutzten natürlich auch Rechtspopulis ten in Deutschland den Brexit, um ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft zu fordern - Herr Gauland hat es vorgetra gen. Höcke sagt:
Woher er und Gauland das wissen, steht in den Sternen. Aus einer aktuellen Forsa-Umfrage für das Handelsblatt geht jeden falls hervor, dass 71 % der Deutschen keine Volksbefragung über die Zugehörigkeit zur EU wünschen.
Die Aussagen zeigen, worum es den Rechtspopulisten bei der Forderung nach mehr Demokratie eigentlich geht - nicht dar um, einen Diskussionsprozess anzustoßen, sondern zu sugge rieren, dass sie angeblich den Willen des Volkes erkannt haben.
Wir Bündnisgrünen sagen Ja zu Europa, fordern aber gleichzei tig Mut zur Veränderung. Die Vorstellung, mit einem Austritt aus der EU mehr Souveränität zurückzugewinnen, ist angesichts der grenzüberschreitenden Herausforderungen eine Illusion.
Ich möchte abschließend vor allem auf zwei Aspekte der EUZukunft eingehen, erstens der Blick auf die junge Generation: 73 % der 18- bis 24-Jährigen hatten sich gegen den Brexit aus gesprochen. Gleichzeitig war die Wahlbeteiligung in dieser Al tersgruppe mit Abstand die geringste. Wir müssen daher zu künftig noch viel stärker auf die Jugend setzen, beispielsweise an Austauschprogrammen festhalten und vor allen Dingen die Jugendarbeitslosigkeit viel entschlossener bekämpfen.
Zweitens müssen wir uns fragen, wie das Projekt Europa bes ser kommuniziert werden kann. Die EU darf nicht ständig zum Sündenbock für das Versagen nationaler Politik gemacht wer den bzw. von Politik, Gesellschaft und Medien zu einem sol chen erklärt werden.
Gute europäische Projekte müssen sichtbarer, die EU transpa renter, bürgernäher und demokratischer werden. Dies kann ge lingen, indem zum Beispiel Europäischer Rat und Euro-Grup pe öffentlich tagen, Hürden für die europäische Bürgerinitiati ve abgebaut werden und das EU-Parlament als einzig direkt gewählte EU-Institution zentraler Ort demokratischer Ent scheidungen wird. Hier haben natürlich Politik und Medien ei ne große Verantwortung.
Beim Thema Kommunikation sage ich aber auch ganz klar: Informationsbeschaffung als politische Entscheidungshilfe ist nicht ausschließlich eine Bringschuld. Auch wenn es in einer ständig komplexer werdenden Welt immer schwieriger wird: Es ist auch eine Holschuld mündiger Bürgerinnen und Bürger, sich vor Wahlen und Abstimmungen ausreichend zu informie ren und nicht erst im Nachhinein die zu erwartenden Auswir kungen ihrer Entscheidungen in Wahlprogrammen oder bei Google zu recherchieren. - Vielen Dank.
Vielen Dank. - Wir setzen die Aussprache mit dem Beitrag des Abgeordneten Vida fort. Er spricht für die Gruppe BVB/FREIE WÄHLER.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass die Europäische Union ein großes Friedensprojekt für unseren Kontinent ist.
(Beifall des Abgeordneten Schulze [BVB/FREIE WÄH LER Gruppe], der Abgeordneten Frau Nonnemacher und Vogel [B90/GRÜNE] sowie vereinzelt SPD, DIE LINKE und CDU)
Ich bin auch der Überzeugung, dass wir ohne das Vereinigte Königreich schwächer sind. Wir müssen uns aber die Frage stellen: Wie verteidigen wir die Werte, die wir alle loben, und wie reagieren wir auf diese Entscheidung? Was lernen wir daraus? - Ich war negativ überrascht, dass man im Nachgang des Volksentscheids ernsthaft über die Gleichwertigkeit aller Stimmberechtigten diskutiert hat. Mir wurde wirklich schlecht, als sich die Leute hingestellt und gesagt haben: Es haben ja nur die Alten mehrheitlich dafür gestimmt. - Das geht so nicht!
Meine Damen und Herren, das ist eine Sache, über die ich nicht zu diskutieren bereit bin, dass unabhängig davon, aus welchen Bevölkerungsgruppen die Mehrheit für einen Volks entscheid zustande kommt, der Volksentscheid seine Wirkung
entfaltet. Man stellte sich hin und sagte: Die Jungen müssen jetzt die Konsequenzen ertragen; es kann nicht sein, dass die Alten sie überstimmen. - Das funktioniert nicht!
Meine Damen und Herren, wir hatten eine Wahlbeteiligung von über 72 %. Das war mehr als bei der Unterhauswahl ein Jahr zuvor. Die Reaktion kann nicht sein, dass wir das trotzig ignorieren.
Wir müssen die Struktur der Europäischen Union kritisch hin terfragen. Welcher Bürger kennt schon die Unterschiede zwi schen EU-Kommission, Rat der EU, Europäischem Rat, dem Europarat, der nicht Teil der EU ist, und Europaparlament? Die Bürger haben einfach nicht das Gefühl, aktiv mitbestimmen zu können, wie sie erwarten. Dabei geht es auch um die Inhalte der Europäischen Union, die in vielen Bereichen, wie sie der zeit praktiziert werden, gegen den brandenburgischen Geist verstoßen. Ich wundere mich darüber, dass linke Parteien so wenig Kritik an der wirtschaftspolitischen Entwicklung der EU-Kommission, die radikalen Kapitalismus und schonungs lose Marktwirtschaft betreibt - in vielen Bereichen, viele Kom missare -, üben. Da bitte ich Sie und auch den neuen Minister der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz, stärker auf zutreten.
Meine Damen und Herren, wir als Freie Wähler haben eine bayerische Kollegin im Europaparlament sitzen. Sie sind da viel stärker vertreten. Damit ist mehr Kritik angesagt.
Auch der Umgang mit ethnischen Minderheiten ist ein Thema, das supranational geregelt werden müsste. Da zieht sich die EU viel zu häufig darauf zurück, das sei Kompetenz der Natio nalstaaten. Da sind wir in Brandenburg im Umgang mit unserer ethnischen Minderheit viel weiter. Es ist nicht in Ordnung, dass man dort auf nationale Kompetenzen verweist. Das sind kleine Punkte, bei denen ich sage: Da können wir mit der inhaltlichen Entwicklung nicht zufrieden sein. Hinzu kommt, dass die EU von vielen als zu weit weg empfunden und es als abgehoben wahrgenommen wird, wie manche Funktionäre sich dort gerie ren.
Nun kommt es zu einem Volksentscheid, und die erste Reakti on der deutschen Öffentlichkeit ist: Wir lehnen das aus Trotz ab. - Nein, die Parteien, vor allem die großen Parteien, die viele Abgeordnete im Europaparlament stellen, müssen das besser erklären und versuchen, diese Inhalte mehr ins Bewusstsein zu rücken. Wir müssen uns vergegenwärtigen: Nach dem Austritt Großbritanniens werden über 40 % der europäischen Bürger nicht innerhalb der EU leben. Da ist die Frage: Mit welcher Attitüde werben wir dann um neue Mitglieder? Mit Trotzreak tionen? Mit Schelte für einen Volksentscheid? - Nein, ich glau be, die Werte des europäischen Hauses - „in Vielfalt geeint“, wie es so schön heißt - sind einerseits viel zu wichtig, als dass man sie an Scharfmachern zerschellen lassen dürfte, anderer seits aber auch zu wichtig, als dass man sie reinen Bürokraten überlässt. Daran hat auch Frau Hackenschmidt deutliche Kritik anklingen lassen. Ich glaube, die Menschen lieben diese Werte, die Brandenburger lieben diese Werte und leben mit den Werten - gerade mit den wirtschaftlichen Vorteilen, wie Herr Christoffers richtig herausgearbeitet hat -, die dieses gemeinsa me Europa geschaffen haben. Weil wir wissen, dass sie das lie ben, davon profitieren und es nutzen, sollte es ein Leichtes sein, sie für all das zu begeistern. Das ist unsere Aufgabe. Kommen wir dieser Aufgabe nach, sind Begehrlichkeiten und
Vielen Dank. - Für die Landesregierung spricht der Justizmi nister. Herr Ludwig, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her ren! Das Ergebnis des Referendums in Großbritannien, bei dem sich 51,9 % der stimmberechtigten Briten für den Austritt aus der EU ausgesprochen haben, ist für viele Menschen in Eu ropa ein erschütterndes historisches Ereignis und ein herber Rückschlag für die europäische Integration. Nach dem Brexit träumen Populisten in Österreich bereits vom Öxit; in vielen Ländern Europas scheinen EU-Gegner an Stärke zu gewinnen. Aus meiner Sicht stellen sich nach der Entscheidung der briti schen Bevölkerung, die wir respektieren müssen - das sage ich ganz deutlich -, vor allem zwei Fragen: Wie geht es nach der britischen Entscheidung weiter? Wie vermeiden wir eine lan ganhaltende Phase der Unsicherheit?
Der britische Premier David Cameron ist zurückgetreten; seine Nachfolgerin, Theresa May, wird das Land als Premierministe rin aus der EU führen. Sie sagte vor Ihrem Amtsantritt: Brexit bedeutet Brexit. - Hier haben wir nun also Klarheit. Wir akzep tieren das. Klar ist, dass Großbritannien Mitglied der Europäi schen Union bleibt, solange die Verhandlungen laufen - und sie haben noch nicht einmal begonnen. Alle Rechte und Pflichten einer Mitgliedschaft gelten solange weiter, für beide Seiten.
Doch bevor wir uns Gedanken über die Frage machen, wie es weitergeht, müssen wir uns mit einer anderen, aus meiner Sicht noch wichtigeren Frage beschäftigen: Wie ist es dazu gekom men? Die Gründe mögen vielschichtig sein; es gibt keine ein fachen Antworten. Denn wenn sich nach der Abstimmung ei nes gezeigt hat, dann dies: Die, die einfache Antworten ver sprechen, liefern am Ende nicht. - Wir sehen hieran aber, dass schnelle Antworten bei vielen Menschen etwas auslösen: Sie befriedigen die Sehnsucht nach Sicherheit und dem Gefühl, au tonom und frei handeln zu können. In einer globalisierten Welt, in der technologische Errungenschaften den Takt vorgeben, na tionale Grenzen verschwimmen und scheinbar ständig neue Krisen das Weltgeschehen dominieren, wächst der Wunsch nach Orientierung und Führung.
Doch wir müssen verstehen, dass dieses Gefühl der Unsicher heit kein abstraktes ist: Selbst hier bei uns müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Menschen in Brandenburg ängstli cher als bisher in die Zukunft blicken: Angst vor politischem Extremismus, Angst vor einer Überforderung der deutschen Bevölkerung und der Behörden durch den Flüchtlingszuzug. In Europa lebt ein Viertel der Menschen an oder unter der OECDArmutsgrenze. Die Jugendarbeitslosenquote ist nach wie vor inakzeptabel hoch: In Griechenland sind es weiter um die 50 %, in Spanien mehr als 40 % und in Italien nur knapp unter 40 %. Die wachsende Zahl schlecht bezahlter und unsicherer Arbeitsplätze lässt immer mehr Menschen an dem Gründungs
versprechen - wachsender Wohlstand durch wirtschaftliche Zu sammenarbeit - zweifeln. Hier lohnt sich auch ein Blick nach Osteuropa: Dort sind viele Länder aus der Transformationskrise längst nicht heraus; die Zahlen sehen zwar manchmal gut aus, aber neoliberale Wirtschaftskonzepte, Spekulation, Kor ruption und die Abwanderung von Fachkräften haben dort eine Situation von Armut hinterlassen und Demokratie und Markt wirtschaft in den Augen vieler Menschen diskreditiert. Die Si tuation in Italien, Spanien oder Griechenland - nicht nur bei der Jugendarbeitslosigkeit - ist hinreichend bekannt.
Auf jeden Fall ist das Abstimmungsergebnis auch deshalb ein Weckruf für uns alle. Wir können die wachsende Kritik an der EU nicht ignorieren. Der Gründungskonsens Europas - Nie wieder Krieg! - reicht nicht mehr. Der neue Tenor Europas muss lauten: Ein Europa der sozialen Gerechtigkeit, gegen Ar beitslosigkeit und Armut!
Wir müssen verstehen, dass die Wahrnehmung der Menschen gegenüber der Europäischen Union von einer Wirtschafts- und Finanzpolitik geprägt ist, die scheinbar immer nur Banken ret tet und die einfache Bevölkerung mit ihren Sorgen und Nöten alleinlässt. Ohne grundlegende Reform, die demokratische und soziale Werte in den Mittelpunkt stellt, werden wir diese Wahr nehmung nicht verändern.
Sehr geehrte Damen und Herren! Das Referendum fand fast ge nau 70 Jahre nach einer berühmten Rede statt - die von Winston Churchill am 19. September 1946 in der Universität von Zü rich. Angesichts eines Europas, das in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs lag, forderte er, etwas wie die „Vereinigten Staaten von Europa“ zu schaffen - mit Unterstützung, aber nicht unter Beteiligung des Vereinigten Königreiches. Verei nigte Staaten haben wir nicht erreicht, wohl aber 70 Jahre Frie den für die Menschen in der Europäischen Union. Das Verei nigte Königreich hatte an dieser Entwicklung einen großen Anteil, auch weil und obwohl es nach seinem Beitritt immer ein besonderes Mitglied der EU war. Aus Brandenburger Sicht steht fest, dass Großbritannien auch nach einem Austritt einer unserer wichtigsten Wirtschaftspartner ist - daran wird sich nichts ändern.
Hoffnung macht, dass für einen Verbleib in der Europäischen Union vor allem junge Menschen gestimmt haben, die ihre Zu kunft nicht nur in Großbritannien, sondern auch auf dem Kon tinent sehen.
Wie geht es nun weiter? Ostdeutschland und damit auch Bran denburg hat die Mitgliedschaft in der EU nach der Wende quasi geschenkt bekommen. Wir in Brandenburg haben der EU viel zu verdanken und müssen jetzt das klare Signal aussenden, dass wir die EU wollen. Auch wir sollten nicht vergessen, dass der Euro und unsere relativ niedrigen Löhne uns im Wettbe werb zusätzliche Vorteile verschaffen. Ein Ergebnis ist der un verhältnismäßig hohe Außenhandelsüberschuss, der wiederum andere belastet. Das heißt, wir tragen aktiv zum Ungleichge wicht innerhalb der EU bei. Das bedeutet für uns: Deutschland hat eine Verantwortung, die EU in aktueller Solidarität, aber langfristig auch im eigenen Interesse - denn niemand kann dau
Sehr geehrte Damen und Herren, die EU ist am besten, wenn sie sich in ihrem Handeln auf eine strategische Schwerpunkt setzung konzentriert. Demgegenüber können wir das tägliche Abarbeiten der Detailregelungen getrost den Mitgliedsstaaten überlassen. Ein Beispiel: Bei den Strukturfonds, von denen auch Brandenburg so sehr profitiert, sollte die EU die strategi schen Ziele vorgeben; aber die Verwaltungsvorschriften sollten wir selbst regeln dürfen - und nicht mehr die Europäische Kommission.
Dieser Konzentrationsgedanke ist zum Beispiel bereits im jet zigen Arbeitsprogramm der Kommission vom Herbst 2015 verankert. Sicherlich muss er entschiedener als bisher verfolgt werden. Die Mitgliedsstaaten müssen ihn aber auch konse quent mittragen. Zu oft wälzen wir die Verantwortung auf die EU ab, wenn eigentlich die Mitglieder gefragt sind - aktuelles Beispiel: das Datenschutzabkommen Privacy Shield. Es ist am Dienstag in Kraft getreten und wird von vielen Seiten kritisiert. Doch als es darum ging, aktiv Einfluss darauf zu nehmen, gab es kaum Änderungswünsche von den Regierungen der EUMitgliedsstaaten.
Sehr geehrte Damen und Herren! Europa ist menschenge macht. Wenn wir das Gefühl haben, Europa entwickelt sich in die falsche Richtung, dann sind wir alle gefragt.