Was ist zu DDR-Zeiten in Jugendwerkhöfen passiert? Dort wurden junge Rebellen eingesperrt, weil sie im Alter von 16 oder 17 Jahren Fragen gestellt haben, die nicht ins System passten.
Was ist mit Kindern passiert, deren Eltern politische Gegner waren und denen sie deshalb weggenommen wurden?
All diese Fragen gehören zu einer differenzierten Betrachtungsweise und zur Aufarbeitung. Es geht nicht nur um die Frage, ob sich jemand zur Stasimitarbeit bekannt hat, weil er sich bekennen musste oder weil er sich ehrlichen Herzens mit seinem Lebensweg auseinandersetzte und zu der Erkenntnis kam, dass er sich auf eine falsche Bahn begeben und anderen Menschen Unrecht zugefügt hat. Leider Gottes gibt es keine Differenzierung bzw. wird die seelische Folter, die in der DDR der 70er und 80er Jahre als perfides Mittel angewandt und perfektioniert wurde, nicht in die Betrachtung einbezogen. Folgen körperlicher Folter sind für jedermann sichtbar, die der seelischen Folter hingegen nicht. Ich frage mich, ob nicht die geistigen Väter solcher perfiden Mechanismen gewonnen haben, wenn der Ministerpräsident des Landes Brandenburg darüber nicht diskutieren will, sondern es ihm nur um das Bekenntnis bzw. Nicht-Bekenntnis geht.
Wer von den neuen Verbündeten, die in Regierungsverantwortung gezogen wurden, fragt denn: Wer hat zerstört? Wer wurde benutzt? - Das gehört zur differenzierten Aufarbeitung. Ein diktatorisches System benutzt Leute. Es genügt nicht, sich womöglich nach einer Enttarnung - zur Stasimitarbeit zu bekennen und dann offen damit umzugehen.
Wenn Ministerpräsident Platzeck gerade in der Tradition von ’89 hier seine Versöhnungsstrategie präsentieren will, frage ich mich, ob er vergessen hat, was die Demonstranten damals gerufen haben. Sie haben „Stasi in die Produktion!“ und nicht „Stasi an die Macht!“ gerufen.
Die Aufarbeitung von Geschichte braucht Zeit. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich damit abgefunden hatte, dass Aufarbeitung nicht von heute auf morgen vonstatten geht. Aufarbeitung war nicht unmittelbar nach 1989 möglich. Mir haben Filme über die Zeit nach 1945 geholfen zu verstehen, dass eine betroffene Generation - dazu zähle ich mich genauso - nicht in der Lage ist, mit den Dingen entsprechend umzugehen. Dafür bedarf es eines gewissen Abstands. Junge Leute, die nicht emotional mit dem Thema verbandelt sind, müssen Fragen stellen. Geschichte braucht ihre Zeit - in dem einen Bundesland etwas länger als in dem anderen -, und ich bin sehr froh, dass wir nach 20 Jahren endlich am Anfang stehen, entsprechende Fragen zu stellen und damit umzugehen.
Das ist der Grund - damit komme ich auf den Antrag zurück -, warum wir die Verlängerung der Überprüfungsmöglichkeiten als dringend notwendig ansehen. 20 Jahre reichen nicht. Die junge Generation muss die Möglichkeit haben, Einblick in die Akten zu nehmen und sehr differenziert damit umzugehen bzw. sie zu bewerten. - Vielen Dank.
Vielen Dank. - Dem Beitrag der Abgeordneten Dr. Ludwig folgt der Beitrag der SPD-Fraktion. Die Abgeordnete Geywitz hat das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Abgeordnete! Liebe Frau Dr. Ludwig, Sie haben sehr viele interessante Fragen aufgeworfen. Es gibt
ein gutes Buch über die schreckliche Geschichte der Jugendwerkhöfe; es ist vor kurzem in der Lindenstraße 54 vorgestellt worden. Ich meine, es ist wichtig, dass man immer wieder nach der Geschichte fragt. Das haben wir gestern als letzten Tagesordnungspunkt diskutiert.
Der von der CDU-Fraktion vorgelegte Antrag fordert eine Verlängerung der Möglichkeit, Abgeordnete auf ihre Tätigkeit bei der damaligen Staatssicherheit - egal, ob hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeit - zu überprüfen.
Die Grünen hatten in den 80er Jahren das Problem, vom Wähler als Single-Issue-Partei wahrgenommen zu werden. In Richtung CDU gebe ich den guten Rat, sich im Jahr 2009 nicht in eine ähnliche Gefahrenlage zu begeben. Die Grünen haben sich längst daraus befreit und sich ein vielfältiges Themenspektrum zugelegt. Ich denke, das wird der CDU auch gelingen.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Bildung der rot-roten Koalition einen Aufarbeitungsimpuls gesetzt hat, den es in zehn Jahren Koalition mit der CDU in diesem Hause nicht gegeben hat.
Die SPD-Landtagsfraktion sieht durch die Ereignisse der letzten Wochen einen In-sich-Beweis gegeben, dass die Verfristung 2011 nicht eintreten sollte, sondern man eine Verlängerung der Überprüfungsmöglichkeit braucht.
Wir haben gestern über den Dialog der Generationen gesprochen. Weil des Öfteren in diesem Hohen Haus eine Einteilung in Täter und Nichttäter vorgenommen wird, möchte ich darauf hinweisen, dass 14 Abgeordnete dieses Parlaments 1989 noch nicht volljährig waren. Fünf Abgeordnete wurden erst in den 80er Jahren geboren; sie sind aus meiner Sicht „Quietschies“.
Wir als Parlamentarier sollten dafür sorgen, dass der Generationendialog nicht nur zu Hause, sondern auch im Parlament geführt wird, indem die Kollegen, die in der DDR in Verantwortung standen oder auch nicht, erzählen, wie es war, zu glauben, mit 25 oder 27 Jahren im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, und dann feststellen zu müssen, dass es nur jugendliche Naivität war, die einen zu der Überzeugung gelangen ließ, dass es eine Partei geben könnte, die im Besitz der absoluten Wahrheit ist und alle entsprechenden Instrumente danach ausrichtet.
Ich denke, wir haben uns gegenseitig sehr viel zu erzählen, auch darüber, wie politische Perspektiven die Wahrnehmung von Geschichte beeinflussen können. Das wird natürlich nur auf Grundlage der Kenntnis der Biografien der Abgeordneten möglich sein. Vieles ist öffentlich zugänglich. Jeder muss Rechenschaft darüber ablegen, wann er was gemacht hat. Die Dinge, die nicht öffentlich zugänglich sind, weil sie im Geheimen stattfanden, müssen uns zur Kenntnis gebracht werden, auch über das Jahr 2011 hinaus. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. - Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Abgeordnete Geywitz. - Das Wort erhält die FDP-Fraktion. Es spricht der Abgeordnete Goetz.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als das Stasi-Unterlagen-Gesetz mit Befristung auf den 31.12.2011 beschlossen wurde, hat sich, glaube ich, niemand vorstellen können, dass 22 Jahre nach dem Mauerfall die Probleme noch so drängend sein könnten, wie sie es heute sind, und Aufarbeitung noch so nötig wäre.
Vieles von dem, was gesagt wurde, ist richtig. Aufarbeitung muss weiterhin erfolgen. Sie kommt im Land Brandenburg im Grunde jetzt erst richtig in die Gänge, auch mit der Wahl einer Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen kommunistischer Diktatur.
Selbstverständlich darf im Jahr 2011 nicht Schluss sein mit der Vorlage der Stasi-Unterlagen. Im Kreistag Potsdam-Mittelmark gab es regelmäßig Überprüfungen. Der letzte Antrag wurde Ende 2003, Anfang 2004 gestellt. Es hat anderthalb bis zwei Jahre gedauert, bis die Rückläufe kamen. Ich hoffe, dass es auf der gesetzlichen Grundlage, die wir im Januar schaffen werden, in Zukunft zügiger läuft.
Wenn man mit einer Wartezeit von einem bis anderthalb Jahren zu rechnen hat, hieße das, dass bei einem Vorlageschluss zum Jahresende 2011 keinerlei Ergebnisse erzielt werden könnten, da die Unterlagen nicht mehr herausgegeben würden. Deswegen ist es wichtig, und zwar nicht nur für uns als Landtagsabgeordnete und für den Landtag zur Aufarbeitung, sondern auch für die Kreistage und die Stadtverordnetenversammlungen, die im Ergebnis der hier geführten Diskussionen Anträge auf Überprüfungen stellen, zu einer Fristverlängerung zu kommen. Bei denen wird die Bearbeitung länger dauern, als es im Landtag der Fall sein wird.
Insofern: Zur Aufarbeitung gehört, über den Landtag hinaus ins Land hinein zu schauen, zu Gemeindevertretungen, zu Bürgermeistern, zu neuen Landräten, die gestellt werden.
All das ist Gegenstand einer solchen Aufarbeitung. Auch da brauchen wir weitere Überprüfungen. Insofern ist es gut, diese Frist über das Jahr 2011 hinaus zu verlängern. Die Fraktion der FDP stimmt selbstverständlich zu.
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Goetz. - Das Wort erhält die Fraktion DIE LINKE, für die die Abgeordnete Mächtig spricht.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Ludwig, Sie haben von Sachlichkeit gesprochen - und kurz danach höre ich: „Versöhnungsmaschinerie“, „kleine Fische“ und „Arbeit als Strafe“.
- Arbeit als Strafe. Sie haben einen Vergleich gebracht: „Stasi in die Produktion!“ Es gab schon zu DDR-Zeiten die Bewährung in der Produktion.
(Zuruf von der CDU: Die Bürgerbewegung hat einen Feh- ler gemacht! - Weiterer Zuruf von der CDU: Die SPD hat immer Recht!)
„Der Gesetzgeber hat bei zu beurteilendem Personal darauf verzichtet, rechtliche Konsequenzen an eine belastende Feststellung des Überprüfungsausschusses zu knüpfen. Der Bundestag kann nicht einmal eine Empfehlung an den Abgeordneten aussprechen, sein Mandat niederzulegen. Die eigentliche Würdigung der Vorwürfe, die Bewertung ihres politischen Gewichts wurde bewusst der Öffentlichkeit überlassen.“
So das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1998. Auch Ihre Kollegen aus der CDU-geführten Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern sehen das so, wie Sie im gestern beschlossenen Beamtengesetz lesen können, in dessen Begründung steht: Schon aufgrund der seit der Wende verstrichenen Zeit hat der zuletzt genannte Aspekt in der Praxis kaum noch praktische Bedeutung und bedarf so keiner herausgehobenen Aufnahme im Gesetze mehr.
Werte Kollegen von der CDU, Sie stellen fest, dass selbst 20 Jahren nach dem Fall der Mauer die Stasivergangenheit nicht aufgearbeitet sei. Ich glaube, die Geschichte der DDR ist noch lange nicht aufgearbeitet, und noch heute forscht man an der griechischen Geschichte.
Deshalb wollen Sie die im geltenden Stasi-Unterlagen-Gesetz festgeschriebene Frist vom 31.12.2011 verlängern. Sie fordern weiter, dass die Überprüfungsmöglichkeit von Landesparlamenten weiterhin zur Verfügung stehen müsse, um sicherzustellen, dass nur Personen im Landtag vertreten sind, die dieses Amtes würdig sind. Ich darf an den gestrigen Vortrag meines Kollegen Görke erinnern, dass in diesem Land nur einer darüber entscheidet, wer würdig ist, in einem Parlament zu sitzen: Das sind die Wählerinnen und Wähler unseres Landes und niemand sonst.
Wenn Sie das noch Schwarz auf Weiß lesen möchten, empfehle auch ich Ihnen zur Lektüre das Urteil des Thüringer Landesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2000 zum Fall Ina Leugefeld. Zumindest haben Sie die Aussagen zum § 8 in Thüringen, der seit nunmehr neun - ich wiederhole: neun Jahren - als nichtig festgestellt ist, offensichtlich nicht verstanden, oder Sie wollen es nicht verstehen. Beides bereitet mir durchaus Sorge.
Wie groß ist das gesellschaftliche und politische Interesse an einer solch umfassenden und vorbehaltlosen Überprüfung bei
spielsweise im Deutschen Bundestag? Im Mai dieses Jahres wurde im Bundestag ein FDP-Antrag auf generelle Überprüfung aller Bundestagsabgeordneten und Mitarbeiter der Bundesbehörden abgelehnt - übrigens: von CDU/CSU, SPD und auch der Linken.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse warnte in der Debatte davor, die Unkultur der Verdächtigungen noch anzuheizen. In einer sachlichen Aufarbeitung der Stasiunterlagen wäre dies zu schade.
Sie wissen, dass diese Überprüfung einen erheblichen Grundrechtseingriff darstellt, dessen Bestehen Sie mit Ihrem Antrag verlängern wollen. Dies gilt es bei der Entscheidung immer mitzubedenken.
Sehr geehrte Frau Wanka, Ihre Fraktion beschäftigt sich seit Wochen mit den Biografien der Mitglieder der Fraktion DIE LINKE und einer eventuellen Verstrickung in IM- und HVAVorgänge.