Protocol of the Session on September 29, 2011

Meine Damen und Herren Abgeordnete! Ich begrüße Sie zur 43. Sitzung des Landtags Brandenburg. Ich begrüße auch unsere Gäste, Schülerinnen und Schüler aus dem Oberstufenzentrum Prignitz in Wittstock. Herzlich willkommen!

(Allgemeiner Beifall)

Ihnen liegt der Entwurf der Tagesordnung vor. Gibt es hierzu Bemerkungen? - Herr Senftleben, bitte.

Herr Präsident! Werte Kollegen! Wir als CDU-Fraktion beantragen die Aufnahme eines neuen Tagesordnungspunktes 1 „Gegen Vorverurteilungen - Fairness und Sachlichkeit im Umgang mit dem Polizeieinsatz in Neuruppin!“. Wir haben gestern im Landtag eine sehr sachliche Debatte - wie wir alle finden aufgrund von Dringlichen Anfragen zum Polizeieinsatz in Neuruppin am letzten Wochenende geführt. Diesbezüglich müssen wir heute in der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“, einer sehr großen Tageszeitung in Brandenburg, die Meinung eines Landtagskollegen lesen:

„Insoweit verstärkt sich meinerseits der Verdacht, dass hier seitens der Polizeiführung und des Innenministeriums von Anfang an die Konfrontation mit den demokratischen Kräften gesucht wurde.“

Das heißt für uns, dass ein Landtagsabgeordneter offensichtlich der Meinung ist, dass im Vorfeld einer solchen Demonstration eine rechtswidrige Handlung im Innenministerium vorbereitet und geplant worden ist. Diesen Vorwurf würden wir in dieser Landtagssitzung gern ausgeräumt wissen, weil das erstens nicht so stehenbleiben darf und sich zweitens die Frage stellt, auf welcher Grundlage wir hier im Landtag diskutieren und uns vereinbaren, Dinge - wie gestern vom Innenminister vorgestellt - in den Fachausschüssen weiter zu diskutieren.

Solche Aussagen beschädigen unserer Ansicht nach das Ansehen des Landes, des Landtags, der Polizei und aller demokratischen Kräfte im Einsatz für ein friedliches Miteinander im Land Brandenburg. Deshalb bitten wir darum, heute die Gelegenheit zu erhalten, das unter Punkt 1 der Tagesordnung zu diskutieren. - Vielen herzlichen Dank.

(Schwacher Beifall CDU)

Dazu gibt es eine Wortmeldung des Abgeordneten Görke.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte kurz im Namen der Koalitionsfraktionen gegen dieses Begehr sprechen. Meine persönliche Meinung vorab: Herr Kollege, das ist mittlerweile eine „Sternstunde“ - zumindest einer Oppositionsfraktion -, dass Sie dazu übergeben, persönliche Meinungen von Abgeordneten in diesem Hohen Haus zu diskutieren.

(Vereinzelt Beifall DIE LINKE und SPD)

Zum Fakt: Wir haben gestern aufgrund mehrerer Dringlicher Anfragen Stellungnahmen der Landesregierung zu diesem Sachverhalt zur Kenntnis genommen. Es ist im Parlament verabredet, dass der Innenausschuss nach Auswertung der genauen Abläufe dieses Einsatzes darüber berät. Er ist das Gremium, welches diese Diskussion führen sollte, und deshalb ist das heute nicht der Platz.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Nichtsdestotrotz liegt Ihnen der mündliche Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung um einen neuen Punkt 1 vor. Darüber lasse ich jetzt abstimmen. Wer dem Antrag Folge leisten möchte, den bitte ich um Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Antrag bei einer Enthaltung mehrheitlich abgelehnt.

Ich lasse über die Tagesordnung in der vorliegenden Fassung abstimmen. Wer ihr folgen möchte, den bitte ich um Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Bei einer Reihe von Enthaltungen ist die Tagesordnung in der vorliegenden Fassung angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

Thema: Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung für die Zukunft - Zukunftsdebatten in Brandenburg

Antrag der Fraktion DIE LINKE

Drucksache 5/4033

Die Abgeordnete Kaiser beginnt die Debatte für die Linksfraktion.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste! „Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung für die Zukunft Zukunftsdebatten in Brandenburg“, das ist das Thema unserer heutigen Aktuellen Stunde. Für meine Fraktion gibt es inmitten von Tagespolitik kein aktuelleres Thema.

Mit öffentlichen Debatten zu den Leitbildern für die Metropolregion Berlin-Brandenburg einerseits sowie für ein solidarisches Brandenburg der Region durch die Linke andererseits haben wir gute Erfahrungen in diesem Land gemacht. Erkenntnisse aus Meinungsstreit und politischem Wettbewerb mündeten in Programme. Diese standen 2009 zur Wahl und erwiesen sich als so passend und konsensfähig, dass mit der jetzigen rotroten Koalition politische Weichenstellungen für Gemeinsinn und Erneuerungen vorgenommen werden konnten. Wir sind also politische Schritte gegangen - im Ergebnis einer Diskussion -, um mit sozialen Maßstäben durch würdig bezahlte Arbeit, bessere Bildungschancen, ökologischen Umbau sowie finanzpolitisch mit Augenmaß Armut zu bekämpfen, solidarisch mit den Kommunen umzugehen, um den Brandenburgerinnen und Brandenburgern eine gute Zukunft in Brandenburg zu ermöglichen. Und: Die Mehrheit im Land identifiziert sich mit diesen Inhal

ten, und gut die Hälfte unserer Landsleute findet das Handeln von Regierung und Koalition überwiegend richtig und in Ordnung.

Jetzt, noch nicht ganz in der Mitte der Wahlperiode, lohnt es sich - gleichzeitig mit sachlichem Blick auf die Bilanz -, den Bogen schon weiter zu spannen. Angesichts neuer Herausforderungen wie den Krisen um Euro und Atomkraft, angesichts alter und neuer sozialer Ängste lohnt es, Konzepte zu überprüfen, Politik auch neu zu justieren. Wir denken, auch und gerade das Parlament ist in Verantwortung, nicht taktisch den verbalen Schlagabtausch zu pflegen, sondern offen im Dialog an zukunftssicheren Lösungen zu arbeiten, die für das Land gut sind.

Kein Zufall, dass gerade SPD und die Linke neue Leitbilder erarbeiten. Angesichts der Politik einer Bundesregierung, die sich weigert, die Finanzmärkte und Banken zu besteuern, aber die Schuldenbremse heiligspricht, die einen Zickzackkurs in der Atompolitik fährt, aber die Länder und Kommunen mit den praktischen Folgen ihrer Politik allein sitzen lässt - da haben wir genug Beispiele: die Bekämpfung von Armut, den Ausbau neuer Stromnetze oder Konversion; sogar bei der Einführung des Digitalfunks oder neuer Personalausweise -, sind die Folgen durch Länder und Kommunen zu tragen.

Die Bewohnerinnen und Bewohner unseres Landes - das unterstreichen die Linke und die Koalition ganz klar - haben ein Recht auf Klarheit darüber, wohin Politiker das Land steuern wollen, wohin die Reise gehen wird - und das nicht allein als Verkündung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Ja, die Leute im Land sind in Bewegung - und wie! Sie nehmen ihre Belange in die Hand - Schüler und Lehrer, Landesjugendring, Musikschulen und freie und Förderschulen, Polizei, Oberbürgermeister, von Fluglärm Betroffene, CCS- und Windkraftbefürworter und -gegner oder Menschen, die in großer Nähe zu Tagebauen oder in Nachbarschaft mit Bibern leben oder mit Hochwasserfolgen konfrontiert sind.

Eines ist ganz klar: Die ideologische Brechstange hat in der Politik wirklich ausgedient, und wir sind gefordert, uns genau anzugucken, wogegen sich Demonstrationen und Volksinitiativen richten bzw. wofür sie sich einsetzen. Sie richten sich nicht zwingend und nicht im Grunde gegen die heutige Politik rotroter Landesregierungen. Sie richten sich auch gegen Folgen von Politik, und oft genug sind sie deshalb da, weil man von dieser Regierung mehr erwartet: größere Schritte, schnelleres Handeln.

Wer genau hinsieht, muss bemerken: Wir versuchen die Widersprüche nicht glattzubügeln. Wir bürsten die Volksinitiativen nicht ab und reden ihnen auch ihre Ziele nicht aus. Wir machen nicht einfach Versprechungen. Wir begeben uns in diese oft kontroverse Debatte, machen als Koalitionsfraktionen auf Probleme aufmerksam, nehmen die Anliegen sehr ernst und versuchen ihnen zu entsprechen. Musikschule und Polizeireform, denke ich, waren gute Beispiele neuer Praxis, und darin, wie wir das tun, unterscheidet sich Rot-Rot wohl von fast allen Landesregierungen, die ich kenne.

Brandenburginnen und Brandenburger sollen und wollen parlamentarische und Regierungsentscheidungen nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen müssen, sondern selbst Verantwortung

für ihre Lebensfragen, ihre Zukunft und die Chancen ihrer Kinder und Enkel übernehmen. Genau das ist die Basis aller Demokratie, auch wenn natürlich nicht jedem und jeder alle Positionen gleichermaßen passen.

Ganz klar, damit ist noch lange nicht alles in Butter. Offene Debatten angesichts oft völlig gegensätzlicher Interessen, abnehmender Ressourcen und öffentlicher Haushalte münden ja nicht einfach in machtpolitische Lösungen, selbst wenn sie von den jeweils Unzufriedenen so wahrgenommen werden.

Politische Entscheidungen sind ergebniskomplexe Abwägungen zwischen wünschenswert und möglich, zwischen heute und morgen, zwischen laut oder leise oder gar nicht artikulierten Interessen. Die Richtungsentscheidung für das Land ist also das Ergebnis von Diskurs, Dialog und Debatte. Das ist Politik. So verstehen wir Politik. Wir sind es selbst, die Bürgerinnen und Bürger, die öffentlich oder zu Hause, in der Schule, im Verein, in der Nachbarschaft oder in gewählten Vertretungen miteinander diskutieren. Die Fragen sind: Wie wollen wir leben? Was wollen wir bewahren? Was ist uns am wichtigsten?

Vor zwei Jahren waren das in Brandenburg Arbeit, von der man leben kann, die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen, aber auch die Lebensbedingungen in den Kommunen vor Ort. Können wir uns mit den Möglichkeiten, die eine Kommune hat, noch ein Zuhause bauen? Die Fragen haben sich nicht wesentlich verändert. Wir, Landtag, Regierung und Parteien, sind Teil dieser Debatte, und wenn wir genau hinsehen, erkennen wir, dass wir auch gestern und heute diese Debatten über Klimafragen und Fragen zur Kulturpolitik auf dem Tisch gehabt haben, zum Beispiel am Montag auf dem Forum zur Demografie, als es darum ging: Wie können wir in diesem Land unsere Belange regeln und vertreten?

Allein mit dem Ehrenamt wird es nicht gehen angesichts der Tatsache, dass die Brandenburgerinnen und Brandenburger immer schneller altern - nicht wir persönlich, sondern im Durchschnitt. Die Glücksstudie in der vergangenen Woche hat uns beschieden, dass wir damit ein Problem haben. Wenn wir glücklicher werden wollen, müssen wir nicht nur mehr Sport treiben und gesünder leben, das haben wir auch begriffen, sondern die Rahmenbedingungen für das Leben der Menschen in diesem Land gestalten.

Eben deshalb - ich wiederhole es - haben sowohl die SPD als auch die Linkspartei ihre Arbeit an einem Leitbild für Brandenburg erneut aufgenommen. Tagesprobleme, Tagespolitik, die den Tag überdauern soll, braucht breitestmögliche Akzeptanz für weitgesteckte Ziele. Um diese Akzeptanz muss man ringen. Für Entscheidungen und Handeln im Detail brauchen wir Grundsätze, Maßstäbe und Kriterien als Kompass, und genau aus diesem Grund setzen wir heute hier im Landtag diese Themen: Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung für die Zukunft. Das sind die Grundlinien, wenn Sie so wollen, der rote Faden für die Politik meiner Fraktion.

Zukunftsfähig zu arbeiten heißt für uns, soziale Fragen von heute rechtzeitig zu erkennen, bevor sie zu Schicksalsfragen werden, bevor Risse in der Gesellschaft zu unüberwindlichen Gräben wachsen. Leichter und kleiner ist Nachhaltigkeit nicht zu haben, und, liebe Kolleginnen und Kollegen, genau dieser Grundsatz der Nachhaltigkeit soll für künftige Landespolitik, also für alle Entscheidungen gelten, und er ist bereits im Koali

tionsvertrag vereinbart. Die Nachhaltigkeitsstrategie, um dies zu untersetzen, befindet sich in Arbeit.

Meine Fraktion hat sich im März auf einer öffentlichen Konferenz dazu verständigt. So bereiten wir die gesellschaftliche Debatte vor. Wir unterstützen ganz klar die Absicht der Landesregierung, sich dieser Sache zu öffnen und offensiv Mitstreiter zu gewinnen. Hier sind wir aber auch als Parlamentarier gefordert. Wir selbst haben vor gut anderthalb Jahren beschlossen zu prüfen - ich zitiere -,

„ob und welche im Bund oder in anderen Bundesländern erprobten Instrumente zur parlamentarischen Begleitung eines Beirates zur nachhaltigen Entwicklung eingeführt werden können.“

So sperrig das klingt, so ist es doch Zeit, meine Damen und Herren, in der Sache zu entscheiden. Nachhaltigkeit als Begriff verstehen wir so komplex, wie es die Enquetekommission des Deutschen Bundestages zum Schutz des Menschen und der Umwelt bereits in den Neunzigerjahren entwickelt hat. Nachhaltigkeit als Konzeption einer dauerhaft zukunftsfähigen Entwicklung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimension menschlicher Existenz.

Die Politik muss die Belange unserer Kinder und Enkel von vornherein mitdenken. „Enkeltauglichkeit“ - so nannte es ein Mitglied meiner Fraktion - ist also Hauptkriterium unserer Politik. Unsere Vorstellung von einem Leitbild geht deshalb von fünf zentralen Lebensfragen der Bürgerinnen und Bürger aus. Das sind:

erstens - die nachhaltige Bildungslandschaft, also: Wie werden meine Kinder und Enkel groß? Können sie in gut ausgestattete Kindergärten und Schulen gehen? Ist die Schule wohnortnah und die Schulklasse angemessen groß oder - besser - angemessen klein?

Zweitens - Wirtschaft und Arbeit. Soziales und ökologisches Wirtschaften - dazu stehen die Fragen: Kann ich qualifiziert in einem Beruf arbeiten? Kann ich mit und von meiner Arbeit gut leben? Werde ich existenzsichernd bezahlt? Das ist übrigens eine Frage, die mit unserer Leitbilddebatte in der Gesellschaft nicht nur sozusagen provinziell brandenburgisch diskutiert wird, sondern die DGB-Gewerkschaften sind gerade auch in einer solchen inhaltlichen Debatte und fragen nach Rahmenbedingungen für die neue Arbeitswelt in diese globalisierten, flexibilisierten Gesellschaft. Insofern sind wir mit diesen Fragestellungen nicht allein, und ich denke, wir sind an den richtigen Fragen dran.

Eine dritte Frage ist die nach der Lebensqualität in zukunftsfähigen Städten und Dörfern. Haben wir vor Ort die entscheidenden Kompetenzen und Mittel in der Hand, um Lebensorte neu zu gestalten, ein solidarisches Gemeinwesen für alle Generationen, in dem wir heimisch sind und hier bleiben? Wenn sich eine Enquetekommission mit solchen Fragen beschäftigt, dann auch damit: Was kann vor Ort besser geregelt werden? Welche Fragestellungen müssen nicht zentral, sondern können vor Ort entschieden werden? Wie werden Mittel und Kompetenzen aufgeteilt?

Ein viertes Thema ist der Klimawandel. Mit dem Klimawandel leben wir, und wir müssen ihn bewältigen. Eine Energiewende

muss Versorgungssicherheit gewährleisten, aber die Energiepreise müssen auch sozial verträglich sein, und es steht für viele die Frage: Können wir uns Wärme, können wir uns Strom zukünftig noch in dem Maße leisten, wie wir ihn brauchen? Das ist die soziale Seite der Energiefrage.

Das fünfte Thema ist zukunftsfähige Finanzpolitik, trotz eines abnehmenden Landeshaushaltes soziale Balancen zu wahren. Das haben wir gerade mit der Haushaltsdebatte bereits auf der Tagesordnung.

Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, egal, ob Bildung, Arbeit, Daseinsvorsorge, Klimaschutz oder Haushalte: Es ist kein Geheimnis, dass der Linken in ihrem Herangehen dezentrale vor zentralen Lösungen sowie öffentliches bzw. öffentlich kontrollierbares Eigentum vor Privatisierung kommen.

(Zustimmung DIE LINKE)