Protocol of the Session on October 10, 2007

In dem Bericht wird zu Beginn festgestellt:

„Jungen sind im allgemeinbildenden Schulwesen im Sinne eines statistisch erwiesenen geringeren Schulerfolgs tendenziell und in vielfältiger Hinsicht benachteiligt. Es gilt allerdings auch, dass diese Benachteiligung vor allem Jungen aus bildungsfernen Milieus betrifft.“

Bildungserfolg ist also nicht nur von der sozialen Herkunft abhängig, wobei dieser Zusammenhang, wie PISA uns gelehrt hat, löblicherweise bei uns in Brandenburg geringer ausgeprägt ist als in anderen Bundesländern. Man muss konstatieren: Jungen sind von dieser Tendenz noch stärker betroffen als Mädchen.

Die Befunde in Brandenburg zeigen darüber hinaus: Der geringere Schulerfolg der Jungen schlägt sich erst nach der Grundschulzeit statistisch deutlich nieder, deutet sich aber schon bei den Grundschulempfehlungen für den nachfolgenden Bildungsgang an. Deshalb will ich bereits an dieser Stelle eine erste Schlussfolgerung aus der Berichterstattung ziehen: Wir werden unsere Schulstatistik geschlechtsorientiert erweitern bzw. ausdifferenzieren, um die beschriebenen Entwicklungen genauer beobachten und auswerten zu können. In der Fachsprache nennt man das übrigens „geschlechtsbewusstes Monitoring“. Das haben wir uns vorgenommen.

In der Ausschussberatung im September hat der Umstand eine wichtige Rolle gespielt, dass in unseren Kindertagesstätten und Schulen überwiegend Frauen arbeiten; darüber haben meine Vorredner schon gesprochen. Mir ist es wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass wir derzeit nicht genau wissen, ob diese Tatsache eine Ursache für den tendenziell geringeren Schulerfolg von Jungen ist. Wir können allenfalls mehr oder weniger plausible Vermutungen anstellen. So kann man zum Beispiel vermuten, dass den Jungen in der Schule männliche Bezugspersonen fehlen, das heißt Vorbilder und Identifikationspersonen, die ihnen etwas zeigen können, was ich für sehr wichtig halte: Anstrengung und Erfolg in der Schule lohnen sich und dürfen nicht als Strebertum verachtet werden; die Tendenz dazu ist unter Jungen besonders ausgeprägt.

Wenn wir einen Mangel an männlichen Vorbildern vermuten, dann können wir dem zum Beispiel dadurch abhelfen, dass wir Männer, insbesondere Väter, für außerunterrichtliche Angebote gewinnen; dafür bieten sich unsere Ganztagsschulen besonders an. Denkbar wäre eine Betätigung als Leiter der Fahrrad AG. Andere Männer finden sich vielleicht für sonstige handwerkliche und technische Aktivitäten, aber auch für künstlerisch-gestalterische Tätigkeiten oder das Vorlesen und den Austausch über spannende Bücher bereit.

(Beifall des Abgeordneten von Arnim [CDU])

Ob „Effi Briest“ dazugehört, sei dahingestellt. Ich halte die zuletzt genannten Aktivitäten aber für wichtig, weil wir - auch das ist schon gesagt worden - eine unterschiedliche Lesefreude bei Jungen und Mädchen konstatieren müssen. Deshalb ist das vielleicht gerade für Männer eine besonders interessante Aufgabe.

Wir müssen uns natürlich auch verstärkt darum bemühen, junge Männer für die beiden Problemberufe zu gewinnen, in denen der Männermangel ganz offensichtlich ist: Erzieher und Lehrer.

Der vorliegende Bericht nennt zwei weitere Erklärungsansätze für den geringeren Schulerfolg von Jungen. Ich will aber auch an dieser Stelle wieder betonen, dass die erziehungswissenschaftliche Diskussion über diese Fragen über Ansätze bisher nicht hinausgekommen ist. Ein Erklärungsansatz geht davon aus, dass unterschiedliche schulische bzw. fachliche Leistun

gen von Jungen und Mädchen mit unterschiedlichen Selbstkonzepten, Emotionen und Motivationen zusammenhängen. Der andere Ansatz leitet die Unterschiede aus besonderen jungenspezifischen Problemlagen beim Erwerb ihrer Geschlechteridentität ab.

Das alles hört sich sehr abstrakt an. Die für mich wichtigste Schlussfolgerung aus beiden Erklärungsansätzen lautet: Es ist für eine Lehrkraft ein erheblicher Unterschied, ob sie im Unterricht einen Jungen oder ein Mädchen vor sich hat. Dieser Umstand sollte zum Beispiel, wie schon erwähnt, bei der Lektüreauswahl genauso berücksichtigt werden, wie es heute schon bei der Berufsorientierung geschieht. Anders ausgedrückt: Geschlechtsneutrale Konzepte sind nicht geschlechtergerecht. Sie verkennen nämlich, dass Mädchen und Jungen unterschiedliche Anregungen brauchen, um ihre Talente und Potenziale bestmöglich nutzen zu können.

Für die konkrete Arbeit an den Schulen bedeutet dies, dass der Auftrag zur individuellen Förderung in den Schulen um die sogenannte geschlechterbewusste Perspektive erweitert werden muss. Insbesondere Jungen müssen in ihrem Bildungsprozess sensibel und aufgeschlossen begleitet und unterstützt werden. Bei der Leistungsentwicklung muss auf den Erfolg von Mädchen und Jungen gleichermaßen geachtet werden. Mir ist bewusst, dass es nicht leicht ist, unsere Lehrkräfte von der Wichtigkeit einer solchen Perspektivenerweiterung zu überzeugen. Gleichwohl werden wir das auch im Rahmen unserer schulaufsichtlichen Steuerungsaufgaben versuchen.

Meine Damen und Herren! Im Anschluss an die Beratung über den Bericht im Bildungsausschuss waren in unseren Zeitungen verschiedene interessante Artikel mit spektakulären Überschriften zu lesen. Da hieß es zum Beispiel, mein Haus wolle künftig getrenntgeschlechtlichen Unterricht zulassen oder Ähnliches. Das hört sich spektakulär an, ist es aber nicht.

Ich sage ganz klar: Im Bericht ist an einer Stelle - auf Seite 10 die Rede von speziellen Mädchen- und Jungenstunden, in denen geschlechterspezifische Probleme und Konflikte besprochen werden können. Wir wissen, dass sowohl Jungen als auch Mädchen derartige Stunden gut finden und in ihrer Entwicklung davon profitieren können. Außerdem gibt es einen Hinweis darauf, dass die zeitweilige Aufhebung der Koedukation, zum Beispiel in bestimmten Phasen des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts oder bei der Einweisung in den Umgang mit dem Computer, sinnvoll ist. Im Sportunterricht ist die zeitweilige Trennung von Mädchen und Jungen übrigens völlig normal.

Ich füge hinzu: Mehr Trennung sollte es nicht geben; denn beide Anregungen gelten für eine gemeinsame koedukative Schule. Sie stellen die Zweckmäßigkeit der Koedukation und des ganz überwiegenden Miteinanders von Jungen und Mädchen in der Schule in keiner Weise infrage.

Für den weiteren Umgang mit dieser Thematik sehe ich zusammenfassend folgende Schritte vor:

Erstens: Wir werden - wie bereits erwähnt - die Schulstatistik und die Auswertungskonzepte unter geschlechterspezifischen Gesichtspunkten erweitern.

Zweitens: Wir werden die Schulrätinnen und Schulräte sowie

die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den nachgeordneten Einrichtungen für dieses Thema intensiv sensibilisieren.

Drittens: Wir wollen Geschlechterbewusstheit und Geschlechtergerechtigkeit unter Berücksichtigung der jeweiligen spezifischen Belange von Jungen und Mädchen in der Lehrerbildung verankern und dafür auch die Steuermöglichkeiten im Rahmen der Fachaufsicht über das Landesinstitut für Lehrerbildung, das LISUM und die staatlichen Schulämter nutzen.

Viertens: Wir wollen - als unverzichtbarer Bestandteil eines solchen Schulprogramms - für eine systematische Verbreitung des Themas im Sinne einer Leitbildorientierung an unseren Schulen sorgen.

Fünftens: Wir wollen - das halte ich für sehr wichtig - die Zahl der negativen Schulkarrieren von Jungen senken.

All das kann letztlich nur durch die Schüler selbst umgesetzt werden. Dazu müssen wir ihre Lernbereitschaft und Lernfähigkeit individuell fördern, insbesondere wenn sie zu wenig häusliche Unterstützung erfahren. Dazu habe ich mich bereits in der letzten Landtagssitzung im Rahmen der Vorstellung des Berichts zu den Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler geäußert.

Abschließend bedanke ich mich noch einmal dafür, dass dieses für mich sehr wichtige Thema hier debattiert werden konnte. Ich bitte Sie gleichzeitig um Unterstützung bei der Umsetzung einer geschlechterbewussten und geschlechtergerechten Ausgestaltung von Erziehung und Unterricht. Zumindest im Bereich der Erziehung sind wir alle angesprochen; das kann nicht alleinige Aufgabe der Schule sein. Wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer in der Schule dabei unterstützen. Darum bitte ich Sie, und dazu fordere ich Sie auf. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Ich erteile noch einmal der Fraktion DIE LINKE das Wort. Die Abgeordnete Kaiser spricht.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU-Fraktion wollte in der Aktuellen Stunde unseren Blick für das „Europäische Jahr der Chancengleichheit“ schärfen. Diesbezüglich habe ich nichts vernommen; das hat nicht stattgefunden. Herr Senftleben hat die Chance vertan, eine kritische Bilanz der Schulpolitik der letzten Jahre in diesem Land zu ziehen. Das, was Sie berechtigt als Probleme bei den Lernerfolgen von Jungen vermerken, ist auch ein Ergebnis der Regierungspolitik aus den vergangenen Jahren. Ich staune, Herr Senftleben, dass es Sie offensichtlich kaltlässt, dass fünf von zehn Kindern aus einkommensstarken Haushalten, jedoch nur eines von zehn Kindern aus einkommensschwachen Haushalten den Sprung in eine Hochschule schaffen. Deshalb bleibe ich für DIE LINKE in diesem Landtag dabei: Die Trennlinie bei schulischem und gesellschaftlichem Erfolg verläuft nicht zwischen Mädchen und Jungen, sondern zwischen sozial bessergestellten und sozial unsicher lebenden Kindern.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Mädchen und Jungen, Frauen und Männer positive Impulse setzt.

Wenn Sie es mit dem „Europäischen Jahr der Chancengleichheit“ tatsächlich ernst meinen, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion, dann wirken Sie den sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten entgegen, dann konzipieren Sie mit uns gemeinsam durch Nutzung des Instruments des Gender-Mainstreaming endlich eine moderne, offensive Gesellschaftspolitik. DIE LINKE in diesem Haus hätten Sie dabei an Ihrer Seite.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Die antragstellende Fraktion erhält noch einmal das Wort. - Der Abgeordnete Senftleben verzichtet auf die ihm verbleibende Minute Redezeit.

(Oh! bei der Fraktion DIE LINKE)

Wir sind damit am Ende der Aussprache zur Aktuellen Stunde angelangt. Ich schließe Tagesordnungspunkt 1 und rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:

Fragestunde

Drucksache 4/5139

Wir beginnen mit der Frage 1422 („Müllskandal“ in Branden- burg), die der Abgeordnete Bochow stellen wird.

Presseberichten zufolge ist es in der Kiesgrube „Lindower Heide“ bei Malterhausen in größerem Umfang zu einer illegalen Müllentsorgung gekommen. Hinweise auf eine nicht sachgerechte Verfüllung der Kiesgrube soll es jedoch bereits frühzeitig gegeben haben.

Ich frage die Landesregierung: Wann sind ihr erste Hinweise auf eine möglicherweise nicht sachgerechte Verfüllung zur Kenntnis gelangt?

Wenn Sie einverstanden sind, wird die Frage 1423 (Müllskan- dal in Brandenburg weitet sich aus), gestellt von Frau Wehlan, gemeinsam mit der Frage 1422 beantwortet; es handelt sich um den gleichen Sachverhalt.

Auch meine Frage bezieht sich auf den neuerlichen Müllskandal im Landkreis Teltow-Fläming, diesmal in Malterhausen.

Ich frage die Landesregierung: Wie bewertet sie den aktuellen Stand, besonders hinsichtlich der Umsetzung notwendiger Kontrollmaßnahmen und eines damit verbundenen ausreichenden Stellenbesatzes?

Die Antwort wird uns Wirtschaftsminister Junghanns geben.

Gegen die Problematik soziale Gerechtigkeit sträuben Sie sich jedoch vehement.

Es gibt ein sehr vergnügliches Buch von Stefan Heym mit dem Titel „Immer sind die Weiber weg“. Weniger vergnüglich liest sich dieses Problem dagegen in der von uns in Auftrag gegebenen Studie zur demografischen Situation im Land Brandenburg. Darin heißt es:

„Brandenburg wird älter, männlicher und dümmer.“

Diese Aussage sollte uns Märker ins Mark treffen. Wir sollten uns fragen, was die eigentlichen Existenzprobleme von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen in diesem Land sind. In dieser politischen Frage sind die sozialdemokratischen Spuren Frau Geywitz, ich sage es ungern - eine Leerstelle. Ich sehe keine Spuren. Wir haben bis heute keinen Bericht über die Lebenslagen bzw. die soziale Lage von Mädchen und Jungen, von Frauen und Männern in diesem Land. In Sachsen-Anhalt liegt ein solcher Bericht seit über drei Jahren vor.

(Frau Lehmann [SPD]: Er liegt vor. Und?)

Ich warte noch immer auf den von unserer Landesregierung versprochenen Bericht.

Ich möchte der etwas einseitig interpretierten Statistik von Herrn Senftleben einen Fakt aus dem Komplex Ausbildung entgegensetzen. Herr Senftleben, obwohl fast genauso viele Mädchen wie Jungen und zudem mit durchschnittlich besseren Leistungen die Schule abschließen, wurden von 18 400 Lehrverträgen im Land zuletzt nur 7 042 mit jungen Frauen geschlossen. So viel zur Benachteiligung von Jungen und jungen Männern!