Protocol of the Session on March 31, 2004

Das Wort geht an die antragstellende Fraktion. Frau Abgeordnete Große, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! „Großes Zittern an den Schulen“, „Alarmglocken schrillen an den Schulen“, „Jede zweite Schule gefährdet“ - so oder ähnlich lauten die Überschriften in den Zeitungen der letzten Tage. Selten konnte man so viel über Schule in den Medien finden und wohl noch nie war das von so viel Hilflosigkeit und Zorn getragen.

Die Quittung auch dafür erhielt die große Koalition bei der letzten Sonntagsumfrage. Der Verlust von Zufriedenheit mit der Regierungspolitik liegt bei 23 % im Vergleich zu 2002. Wie groß die Unzufriedenheit mit der Bildungspolitik der Landesregierung ist, wurde leider nicht erfragt. Auch wissen wir nicht, wie hoch der Anteil der Bildungspolitik am freien Fall der Zufriedenheit der Brandenburgerinnen und Brandenburger ist. Hinsichtlich der Ursachensuche dafür gibt es offensichtlich unterschiedliche Wahrnehmungen innerhalb der Koalition, vor allem aber gegenseitige Schuldzuweisungen für das Desaster, vor dem wir stehen. Erfolg scheint nur eine Mutter zu haben, und die heißt CDU, Misserfolg nur einen Vater, und der heißt Reiche. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, meine Damen und Herren.

(Starker Beifall bei der PDS)

Die Verantwortung für die Eskalation vor Ort tragen Sie beide gleichermaßen. Wenn die soziale Balance aus den Fugen gerät, der soziale Friede zwischen verschiedenen Schulen, verschie

denen Kommunen gefährdet ist, wenn Bildungsbiografien von Zwölfjährigen mit einem Fehlstart, dessen Folgen noch nicht absehbar sind, beginnen, dann haben Sie das gemeinsam zu verantworten.

(Beifall bei der PDS)

Das Vertrauen in die Regionalschulämter als Vollstrecker der Grausamkeiten und damit auch das Vertrauen in Politik ist auf null gesunken. Mein Mitleid mit Schulräten hält sich wirklich in Grenzen. Es ist ja bekannt, dass wir eine andere Struktur wollen. Sachsen-Anhalt hat sie inzwischen. Aber was Schulräte zurzeit aushalten und ausbaden müssen, ohne selbst dafür verantwortlich zu sein, ist unglaublich. Wie die gleichen Schulräte ihrer zunehmenden Verantwortung für die Beratung von Schulen nachkommen sollen, ist unter diesen Bedingungen unvorstellbar.

Die volkswirtschaftliche Dimension der Schließung von ca. 230 Schulen ist inzwischen durchaus vergleichbar mit der der in den Sand gesetzten Großprojekte. Hat die Landesregierung eigentlich schon einmal hochgerechnet, in welcher Höhe Landesmittel und kommunale Mittel, Steuergelder also, in diese Schulen geflossen sind und zum Teil noch fließen, wie die Kosten der Kreise für den Schülerverkehr steigen und wie hoch die dann auf die Eltern umgelegten Kosten sein werden?

(Beifall bei der PDS)

Das größte Problem besteht aber in Folgendem: Wie soll bei den derzeitigen Rahmenbedingungen die uns durch die PISAErgebnisse auferlegte Pflicht zur Verbesserung der Qualität schulischer Bildung erfüllt werden können? Was, meine Damen und Herren der Koalitionsfraktionen, glauben Sie, wird unter diesen Bedingungen aus Ihrer Bildungsoffensive? Woher sollen Lehrkräfte gefährdeter oder schon zur Schließung anstehender Schulen ihre Motivation für das Erstellen von Schulprogrammen, die Erarbeitung schulinterner Rahmenlehrpläne, das Entwickeln von Ganztagskonzepten, die Vorbereitung schulinterner Evaluation und eben für die Verbesserung der Qualität von Bildung und Erziehung nehmen? Was meinen Sie, wie motiviert Kinder sind, die sich beim Tag der offenen Tür bewusst für eine Schule entschieden haben, an der es dann aber keine 7. Klasse mehr gibt, deren Zweitwunsch auch nicht erfüllt werden kann, weil die Schule übernachgefragt ist oder eben auch keine 7. Klasse einrichtet, und die dann einer von vornherein nicht gewollten Schule in einer nicht gewollten Stadt zugewiesen werden?

Noch einmal: Diese Kinder sind zwölf Jahre alt. In diesem Alter sind sie heutzutage schon in der Pubertät. Was muten Sie unseren Kindern zu?

(Beifall bei der PDS)

Wie, glauben Sie, sind Eltern verfasst, die zum Beispiel aus Berlin in den ländlichen Raum gezogen sind und sich bewusst für eine Stadt entschieden haben, in der es eine weiterführende Schule gibt, die es dann eben nicht mehr gibt, wofür sie auch noch mit höheren Fahrtkosten belastet werden?

Meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, Bundespräsident Johannes Rau hat in seiner bemerkenswerten Berliner Rede im Mai 2002 etwas Wunderbares gesagt - das hat er übrigens oft

getan und die SPD muss sich fragen lassen, warum das so folgenlos bleibt -:

„Menschen sind nicht so mobil und nicht so bindungslos wie Kapital und sie werden und sie wollen es auch nie sein. Wir brauchen Heimat und Bodenhaftung. Wir brauchen familiäre Bindungen, Freunde, Bekannte, ein starkes soziales Netz. Menschen brauchen Wärme und sie brauchen Geborgenheit.“

(Beifall bei der PDS)

„Wer das für altmodisch hält, der täuscht sich. Die Politik muss Ängste und Unsicherheiten ernst nehmen. Sie muss Orientierung bieten.“

Orientierung bieten - genau das vermissen wir. Ihre Politik, meine Damen und Herren, heißt: Augen zu und durch! Dabei kamen die sinkenden Schülerzahlen nicht so überraschend wie zum Beispiel das Aus der Chipfabrik über uns. Diese Entwicklung ist uns seit 1992 bekannt. Der zweite Bericht der eigens für den Erhalt der Sek-I-Schulen im ländlichen Raum eingesetzten Regierungskommission war im April 2000 fertig. Ganze zwei Jahre brauchte die Landesregierung für eine Stellungnahme. Eine der wichtigsten Forderungen, nämlich die Vereinfachung der Struktur durch die Gründung von Sekundarschulen vorzunehmen, fiel dem Koalitionsstreit zum Opfer, was uns ehrlich gesagt auch nicht verwundert hat, weil die Bildungsphilosophien beider Parteien wie Feuer und Wasser sind.

Nun ist die Situation so, dass zum Beispiel die Realschule Velten der Gesamtschule Velten die Luft zum Atmen nimmt, während die Torhorst-Gesamtschule Oranienburg, eine seit zwei Jahren stark übernachgefragte Gesamtschule, die daneben liegende Realschule, die nie eine Chance hatte, eine „richtige“ Realschule zu werden, sterben lässt. Solche Beispiele gibt es in jedem Kreis. Sie widerlegen, verehrte Kollegin Hartfelder, auch Ihre These, dass Klassenunterricht an Realschulen per se besser ist als Kursunterricht an Gesamtschulen.

(Starker Beifall bei der PDS)

Es ist ein unlauterer Wettbewerb ausgebrochen. Mit Qualität hat er in den wenigsten Fällen zu tun. Glöwen gehört auf wundersame Art zu diesen glücklichen Ausnahmen.

Die Heuchelei der Regierung, Qualität als Begründung für die Schließung anzuführen und nicht zuzugeben, dass diese Verwerfungen vor allem dem Stellenabbau aufgrund der Haushaltskonsolidierung geschuldet sind, ist geradezu unerträglich.

Sie stehen vor einem bildungspolitischen Scherbenhaufen, meine Damen und Herren der Koalition, und Sie nötigen die Kommunen dazu, diese Scherben zusammenzukehren.

(Beifall bei der PDS)

Fragen Sie Ihre Amtsdirektoren und Bürgermeister! Sie werden die Antwort bekommen: Dieses System ist krank, die Schulentwicklungsplanungen sind Makulatur, Schulträger sind ohnmächtig, der Elternwunsch gerät zur Farce. Zugleich werden Sie ganz oft hören: Eine Strukturreform ist überfällig, nur durch eine Reform kann Chancengleichheit gewahrt werden,

eine andere Pädagogik, nämlich die des Förderns statt des Auslesens, wachsen. Die Zeit dafür ist überreif.

(Beifall bei der PDS)

Meine verehrten Damen und Herren Abgeordnete, stellen Sie sich einfach für Ihren Wahlkreis vor, es gäbe dort eine Schule für alle Kinder von Klasse 1 bis 9. Die 10. Klasse wird an der gleichen Schule von Schülern, die eine Berufsbildung anstreben, besucht. Für die Schüler, die es wünschen - und das sollten mehr als bisher sein -, schließt sich das Gymnasium oder das Oberstufenzentrum von Klasse 10 bis 12 oder 13 an. Natürlich wäre dann auch in Ausnahmefällen zur Sicherung der ländlichen Standorte Einzügigkeit möglich. Dass dies nicht den von Minister Reiche immer befürchteten Qualitätsverlust nach sich zieht, beweist unter anderem Finnland. In meinem Kreis könnte man so jedenfalls 11 von 13 gefährdeten Schulen erhalten. Die Schule bliebe vor Ort. Die investierten Mittel wären nicht in den Sand gesetzt. Die Schüler könnten ihre Freizeit wieder vor Ort verbringen. Die Lehrkräfte könnten flexibler eingesetzt werden. Diese eine Schule für alle ist pädagogisch sinnvoll, weil Kinder eben von Kindern am besten lernen, und sie ist auch kostengünstiger.

(Beifall bei der PDS)

Wagen Sie also jetzt den großen Sprung. Lassen Sie uns auch auf diesem Gebiet einmal die Ersten sein.

Ich höre natürlich den Aufschrei des Realschullehrerverbandes und des Gymnasialschulleiterverbandes. Mir ist auch bewusst, dass Schüler und Eltern gute Erfahrungen mit Realschulen und Gymnasien gemacht haben, wie sie bisher arbeiten, und diese Schulen deswegen ungern aufgeben würden. Das müssen sie aber auch gar nicht; denn eine gute Schule bleibt eine gute Schule, egal welcher Name darüber steht.

(Beifall bei der PDS)

Die geltenden Rahmenbedingungen sind absolut ungeeignet, Brandenburg zu einem Bildungsstandort zu entwickeln. Wenn ideologische Barrieren überwunden werden und Bildung als wichtigste Zukunftsinvestition nicht nur propagiert, sondern wirklich begriffen wird, sind Alternativen machbar. Es ist höchste Zeit für eine grundlegende Wende in der Bildungspolitik.

(Beifall bei der PDS)

Ich danke Ihnen, Frau Abgeordnete Große, und gebe das Wort der Fraktion der SPD. Frau Abgeordnete Siebke, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hören eigentlich den gleichen Text - nur von Frau Große jetzt noch etwas mehr hervorgehoben - nun schon zum x-ten Male. Aber auch wenn wir dieses Thema noch mehrmals auf die Tagesordnung setzen, werden wir in den nächsten Jahren nicht mehr Kinder haben, die von der Grundschule in die 7. Klasse wechseln.

(Frau Kaiser-Nicht [PDS]: Ja, eben!)

Ich habe gedacht, es hat inzwischen auch bei der PDS ein Denkprozess stattgefunden;

(Hammer [PDS]: Im Gegensatz zu anderen!)

denn diesmal steht das Thema „Schulsterben - alternativlos“ nicht mehr mit einem Fragezeichen dahinter, sondern es ist eine Aussage.

(Zuruf von der PDS: Sie hätten einmal zuhören sollen!)

Die Rede von Frau Große hat dem allerdings widersprochen. Es war das alte Klagelied, und die Alternativen, die hier zum Teil genannt worden sind, sind nicht unsere Alternativen.

(Hammer [PDS]: Das ist klar!)

Ich skizziere noch einmal ganz kurz die Problemlage.

Wenn weniger als die Hälfte der Kinder von der Grundschule in die Sekundarstufe I wechselt, dann kann mir niemand weismachen, auch Frau Große nicht, dass dabei alle Schulstandorte im Lande erhalten bleiben können.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der PDS: Das hat sie nicht gesagt! - Weitere Zurufe von der PDS)

Sie hat Recht: Die Entwicklung war seit langem absehbar. Deshalb ist ja am Ende der letzten Legislaturperiode die Kommission eingesetzt worden, die sich mit der Situation von Schulen im ländlichen Raum befasst hat. Diese Kommission war besetzt mit allen, die mit Schule zu tun haben. Ich nenne sie hier ausdrücklich noch einmal: In dieser Kommission waren Wissenschaftler tätig, es waren Vertreter der Elternschaft anwesend, Vertreter der Lehrerschaft, der Wirtschaft und der kommunalen Spitzenverbände sowie Abgeordnete dieses Landtages waren dabei. Alle gemeinsam - bis auf die Vertreterin der PDS; das will ich hier auch sagen - sind zu der Auffassung gelangt, dass es sinnvoll ist, ein Schulangebot vorzuhalten, bei dem Schule als Schule gestaltet werden kann, und nicht den Weg zu gehen, weiterführende Schulen im Lande Brandenburg als einzügige Schulen einzuführen.

Schule vor Ort ist wichtig. Das gebe ich unumwunden zu.

(Vereinzelt Beifall bei der PDS)