Protocol of the Session on September 21, 2000

Abschließend, meine Damen und Herren, lassen Sie mich sagen. dass ich mir gewünscht hätte. dass man sich, wenn man eine Große Anfrage zum Thema _10 Jahre deutsche Einheit" stellt, auch mit den Themen beschäftigt, die ich wirklich für bedeutsam halte. nämlich mit der Wiederherstellung von Demokratie und demokratischer Mitbestimmun g in den neuen Ländern.

(Beifall bei SPD und CDU)

der Wiederherstellung der Grundrechte der Menschen. der Wirksamkeit des Grundgesetzes in den neuen Ländern, der Wiederherstellung von Freiheit. von Informationsfreiheit, dass man sich schlicht ein Buch kaufen kann,

(Beifall des Abgeordneten Dr. Wagner [CDU])

das man selbst kaufen und lesen möchte. und nicht das, was die Agitprop-Abteilung der SED für richtig und notwendig hält.

(Vereinzelt Beifall bei SPD und CDU)

Dies sind die wahren Leistungen und Emin genschaften im Zuge der Einheit. Ich würde mir wünschen, dass wir dies nicht vergessen.

(Zurufe von der PDS)

Freiheit lernt man erst dann zu schätzen. wenn man sie nicht hat, meine Damen und Herren. - Vielen Dank.

(Beifall bei SPD und CDU)

Herr Lunacek, stehen Sie noch für Fragen zur Verfügung? Bitte sehr, Herr Ludwig!

Herr Lunacek, würden Sie mir - erstens - zustimmen. dass der CDU-Fraktion jederzeit freigestellt ist. wenn diese Fragen Sie so brennend interessieren. eine Große Anfrage zu diesem Thema einzureichen?

(Vereinzelt Beifall hei der PDS)

Würden Sie mir - zweitens - zustimmen. dass durch Abarbeitung der Fälle von so genannten offenen Vermögensfragen in den zukünftigen Jahren das Problem nicht gelöst sein wird? Denn die dadurch entstandene Eigentumslosigkeit bei vielen Ostdeutschen. die noch im Jahr 1990 in Anspruch genommen haben, erstmalig Grund- und Bodeneigentum bilden zu können, wird sie begleiten: denn sie haben nicht die gleichen Existenzgründerchancen wie Westdeutsche. die zum Teil ererbte Immobilien jetzt verpachten.

Würden Sie die zweite Frage bitte wiederholen?

Würden Sie mir zustimmen, dass durch die bloße Abarbeitung wie Sie es dargestellt haben - des Restes der offenen Vermögensfragen das Problem in den nächsten Jahren nicht gelöst wird, weil dadurch, dass viele Ostdeutsche aus diesem Prozess als eigentumslos hervorgehen, sie nicht die gleichen Existenzgründerchancen haben wie Westdeutsche. die zum Teil jetzt ererbte Grundvermögen verpachten?

Zur Frage 1: Ich glaube. es wird in den Redebeiträgen deutlich. wie wir diese Dinge schätzen.

Zur Frage 2: Es ist in der Tat ein Riesenproblem gerade bei Existenzgründern etc., dass die Ostdeutschen nicht die Menge an Kapital haben, wie sie Westdeutsche in vierzig Jahren Demokratie und Marktwirtschaft aufhäufen konnten. Aber die Ursache dafür kann man nicht staatlicherseits mit einem Federstrich beseitigen, sondern die Ursache liegt in vierzig Jahren der Beschränkung der Ostdeutschen durch Diktatur und Mauer. Es bleibt Aufgabe von uns, dafür zu sorgen, dass diese Folgen gemildert werden. und zwar durch Existenzgründerprogramme usw. Ich glaube. diesen Dingen kommt die Politik heute nach.

(Beifall bei SPD und CDU)

Das Wort erhält die Landesregierung. Bitte, Herr Minister Ziel!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn Jahre Einheit der Deutschen - das ist ein feierlicher Anlass. Es gibt auch

reichlich Gründe zum Feiern, wie es auch Gründe zum Nachdenken, zum Innehalten. zum Besinnen gibt.

Die Antworten der Landesregierung auf die Große Anfrage der PDS zeigen beides: Licht und Schatten eines Jahrzehnts, das Deutschland und seine Menschen verändert hat. Bei allem, was dieses Jahrzehnt an Erfolgen. aber auch an lmmgen und Wirrungen prägte. ist mir gar nicht bange, dass dic Deutschen in naher Zukunft ökonomisch zusammengehen werden. Schwieriger erscheint mir da schon die Beantwortung der Frage. ob dies denn in den anvisierten Zeiträumen auch entotiona! möglich sein wird. Dabei hängt beides. das Ökonomische und das Emotionale, untrennbar zusammen.

Prognosen sind immer schwieri g. Aber wir haben uns in diesen Jahren auch nie als Kaffeesatzleser betätigt. Im Gegenteil. Brandenburg hat angepackt, hat zugepackt. Das war auch nötig angesichts der Realität. die fast alles bisher Gewohnte aus der Bahn warf und praktisch jeden in neuer Weise forderte.

ich meine, heute können wir sagen: Die Landesregierung hat ihre Regierungsverantwortung gut genutzt. Wir haben den M011sehen eine Zukunft und der Wirtschaft Perspektiven gegeben. Demokratie ist eine alltägliche Selbstverständlichkeit geworden. Rechtsstaatlichkeit das allgemein gültige Handeln.

Im Fokus dieser Jahre. die schließlich auf durchaus nicht leise Art revolutionär, verzwickt. aufbrausend waren, erstaunt es immer wieder. wie friedlich dieser Wandel vor sich ging. Das hat die Welt aufhorchen lassen - eine friedliche Revolution, Auch viele Mitglieder dieses Hohen Hauses waren dabei: in der kommunalen Ebene. in den Institutionen. in den Kirchen. Da ist es nicht nur ärgerlich, sondern empörend, wenn sich die DVU mit einschleicht in diesen Prozess. Verräterisch ist die Wortwahl „Mitteldeutschland".

Wir haben vielen Nationen dafür zu danken, dass wir. die Deutschen. uns in einem Vaterland wiederfinden konnten, vielen Nationen. angefangen bei Israel über die USA. über Russland, über Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei. Sie haben uns den Weg in die Einheit nicht versperrt. sondern sie haben eher Sympathie für diesen Weg gezeigt. Das sollten wir unseren Nachbarn, das sollten wir den Staaten der Welt, die uns zur Seite gestanden haben. nicht vergessen.

(Beifall bei SPD und CDU)

Die Welt sagt all gemein: Deutschland hat es geschafft; die über vier Jahrzehnte gespaltene Nation ist friedlich zusammengekommen: die Wirtschaft floriert wieder, der Sozialstaat steht fest und sicher. Ich selber würde da gern ein Fragezeichen anbringen.

Der Lebensstandard ist hoch. Die Menschen können ohne Zukunftsängste leben. Doch ich behaupte gleichzeitig: Es fängt alles erst an. Ich will nicht die Modewörter Globalisierung sowie luK-Technologien strapazieren. Tatsache ist, dass sich mit den Arbeitswelten auch Lebenswelten ändern. Das ist ein Wandel, der den Sozialstaat und seine Menschen in bislang nicht gekannter Weise fordern wird. Wir werden den Sozialstaat umbauen müssen, wenn wir ihn erhalten wollen. Möglich ist das.

Inzwischen wurden Reformen auf den Weg gebracht, die mit sozialer Vorsicht das Land modernisieren. Voraussetzun g für ihr Gelingen bleibt die Bereitschaft aller, am Strukturwandel mitzutragen. Ist Brandenburg bereit? Vieles spricht dafür. Das Bruttoinlandsprodukt entwickelt sich, im Vorjahr waren es 0,8 % auf dem Niveau der neuen Bundesländer. Der industrielle Umsatz liegt bei einem Plus von 4,4 %, was besonders auf die Sta

bilität im verarbeitenden Gewerbe zurückzuführen ist. Bremsend wirken sich nach wie vor die Einbußen im Bergbau. in der Metallverarbeitung und in der Bauwirtschaft aus. Erfreulich gut entwickelt sich der Tourismus in unserem Land. Das Land gibt neuen technischen und kommunikativen Innovationen Raum und verfügt über leistungfähige und anerkannte Bildungsstätten. Das alles macht uns zuversichtlich. dass sich diese Region zu einem sehr dynamischen Wachstumszentrum entwickeln kann. Dabei dürfen wir die Balance zwischen Wirtschaft und Sozialen). zwischen Arbeit und Familie, zwischen Solidarität und Toleranz. zwischen Sicherheiten und Mut nicht verlieren,

Meine Damen und Herren! Zehn Jahre deutsche Einheit - vieles muss unerwähnt bleiben, was ebenfalls erwähnenswert wäre. Aber die ersten Schritte sind getan. Weitere Schritte sind nötig. Auch diese Schritte sind nicht ohne Risiken. aber Risiken haben wir auch bisher nicht gescheut. Ich bin sicher. dass wir sie gemeinsam auch im elften Jahr der Republik der Deutschen bewältigen werden und darüber hinaus. - Vielen Dank.

(Beifall hei SPD und CDU)

Das Wort geht erneut an die PDS-Fraktion. Frau Dr. Schröder. bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das neoliberale Leitbild eines dauerhaft dynamischen Wachstumstyps für die ostdeutsche Wirtschaft erwies sich in zehn Jahren deutscher Einheit als untauglich. eine Angleichung von Beschäftigung und Einkommen zwischen Ost und West herbeizuführen. Die hohe und persistente Arbeitslosigkeit ist und bleibt das gravierendste gesellschaftliche Problem der neuen Bundesländer.

Nach Aussage des Sozialreports 2000 empfinden in Ostdeutschland 57 % der Arbeitslosen ihre Entwicklung seit der Wende als Abstieg. Selbst unter den Erwerbstätigen ist es nicht einmal die Hälfte. die ihre Entwicklung positiv einschätzt. Bemerkenswert ist, dass im Vergleich der neuen Bundesländer die Zufriedenheit im Jahre 2000 am höchsten in Mecklenburg-Vorpommern und am geringsten in Brandenburg ist. Die Brandenbur ger Arbeitsmarktbilanz offenbart Ursachen: rückläufige Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 124 000 im Jahre 1999 gegenüber 1992, Anstieg der Arbeitslosenzahl um ca. 60 1).-6 in der Zeit des Bestehens des Landes, Anstieg der Arbeitslosenquote von anfangs 10 % auf heute 19 %.

Die Fakten bleiben hinter den in allen drei Regierungserklärungen gesteckten Zielen weit, weit zurück. Alle politischen Sonntagsreden - auch die heutigen - können nicht darüber hinwegtäuschen. dass Brandenburger Landespolitik. gleich welcher Couleur. an der zentralen Aufgabe einer Beseitigung bzw. Verringerung von Arbeitslosigkeit gescheitert ist. Mit Vehemenz hat die brandenburgische SPD in der 1. und 2. Legislaturperiode die Beschäftigungspolitik der damaligen Bundesregierung von CDU/CSU und FDP - zu Recht. wie ich meine - kritisiert. OTon aus der zweiten Regierungserklärung von Ministerpräsidenten Stolpe im Jahre 1994:

„Denn wenn einige in der Bundesregierung meinen, in der Streichung von Mitteln für die Arbeitsmarktpolitik läge unser finanzielles Heil, so sparen sie den Pfennig. uni dann die Mark zu verlieren. Die Regierenden in Bonn werden so dazu beitragen. dass unsere Gesellschaft kälter und ärmer wird: das Kulturgut Solidarität droht verloren zu gehen.

Genau diese Politik der sozialen Kälte betreiben Sie jetzt mit Ihrem schwarzen Koalitionspartner. Noch vor einem Jahr meinten Sie. mit ihm besser sozialdemokratische Politik in diesem Land gestalten zu können als mit der PDS-Fraktion.

(Zuruf von der CDU: Ein Glück!)

Wie glaubwürdig sind Sie eigentlich noch?

Das Landesprogramm braucht eine neue Gewichtung, hin zu Arbeit und Qualifizierung für Brandenburg. solange neoliberalc Wirtschaftspolitik den Nachweis für substanzielle Beschäftigungserfolge schuldig bleibt. Diese Schuld besteht in erster Linie gegenüber den Langzeitarbeitslosen.

Herr Ministerpräsident. ich freue mich. dass Sie diese Priorität

HI Ihrer gestrigen Bilanz zur Arbeitsmarktpolitik nun auch festgestellt haben. nachdem die PDS-Fraktion in den vergangenen Wochen mehrfach auf dieses Kernproblem verwiesen hat. in keinem anderen ostdeutschen Bundesland liegt der Anteil derer, die länger als ein Jahr arbeitslos sind. so hoch wie in Brandenburg. Derzeit sind es über 38 %.

Als jüngste Frau im Parlament ist es mir Bedürfnis und Verpflichtung zugleich. auf die besondere Schuld hinzuweisen. die die Landespolitik gegenüber Frauen und Jugendlichen trägt. Die Erwerbstätigkeit von Frauen in Ostdeutschland ist nach zehn Jahren von 90 ui» auf 55 % gesunken. Der eigentliche gesellschaftliche Skandal. den auch Brandenburger Landespolitik zu verantworten hat, ist der, dass nicht die Defizite der Erwerbsorientierung bei westdeutschen Frauen ausgeglichen. sondern die Erwerbswünsche ostdeutscher Frauen auf westliche Verhältnisse reduziert worden sind.

Wir werfen der Landesregierung vor, dass sie politisch gegenüber den Problemen der überproportionalen Erwerbslosigkeit von Frauen nicht agiert. sondern lediglich reagiert. Aber auch die Reaktion ist eine viel zu unverbindliche. Besonders alarmierend ist die steigende Jugendarbeitslosigkeit. Offiziell sind in Brandenburg nahezu 30 000 Personen unter 25 Jahren derzeit ohne Job. Die Ausbildungssituation stellt sich von Jahr zu Jahr angespannter dar. Diskutieren Sie endlich ernsthaft mit der PDS-Fraktion und anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, wie den Gewerkschaften. das von Ihnen früher selbst propagierte Konzept einer bundesweiten Um lagefinanzierung.

Wir fordern die Landesregierun g auf, das durch Ihre Politik angehäufte Schuldenkonto in Gänze abzutragen. Verhelfen Sie den Menschen im Land Brandenburg zu einer erlebbaren Definition von Arbeit: A wie Ausbildung. R wie Rechtsanspruch. B wie berufliche Entwicklung, E wie Erwerbseinkommen. l wie Integration und T wie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben!

(Beifall hei der PDS)

Das Wort geht an den Abgeordneten Kuhnert. Er spricht für die SPD-Fraktion.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe von meiner Fraktion den Auftrag erhalten, zum Kapitel Beschäftigun gssituation zu sprechen. Man muss, wenn man das eben Gesagte gehört hat. daran erinnern, wie die Ausgangslage 1989/90 gewesen ist. Damals hat im Politbüro unter Ausschluss der Öffentlichkeit Gerhard Schürer den dort Versammelten mitgeteilt, dass die DDR zahlungsunfähig sei. Aus den Tonbandprotokollen. die