Meine Damen und Herren! Ich heiße Sie herzlich willkommen zu unserer heutigen, 63. Sitzung des Landtages von Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt insbesondere unseren Gästen auf der Zuschauertribüne und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.
Für die heutige Sitzung haben sich 16 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.
Seinen Geburtstag feiert heute Herr Kollege Johannes Remmel. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute im Namen der Kolleginnen und Kollegen, Herr Remmel!
Die Fraktion der CDU und die Fraktion der FDP haben mit Schreiben vom 21. Mai 2007 gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dieser aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden CDU-Fraktion Herrn Henke das Wort. Bitte schön.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen – so lautet eine zutreffende Bilanz des Robert-Koch-Instituts – hat sich in den Industriestaaten im zurückliegenden Jahrhundert in einem Ausmaß verändert und verbessert, wie dies in der Geschichte der Menschheit noch nicht vorgekommen ist.
Die Säuglingssterblichkeit ging von durchschnittlich 210 pro Tausend Lebendgeborenen auf weniger als fünf pro Tausend zurück, also um einen Faktor von mehr als 40. Die Sterblichkeit von Kindern im Alter zwischen eins und 15 Jahren verminderte sich um den Faktor 65. Vor hundert Jahren starben mehr als fünfzig Mal so viele Mütter
Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie es damals für sehr verbreitete Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Poliomyelitis, Scharlach, Diphtherie, Gastroenteritis, Meningitis oder Wundstarrkrampf weder eine wirksame Behandlung noch kaum eine Vorbeugung gab. Viele chronische Krankheiten waren damals, an heutigen Kriterien gemessen, schlicht nicht behandelbar. Nach heutigen Maßstäben gab es kaum sichere chirurgische Behandlung.
Am Anfang des letzten Jahrhunderts waren die Menschen vom Sterben umgeben, und die größte gesundheitspolitische Herausforderung war die Vermeidung des frühen Todes. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern betrug im Jahre 1900 39 Jahre, die von Frauen 42 Jahre. Das ist auch der Grund dafür, warum am Anfang des vorigen Jahrhunderts unendlich viele Kinder als Halbwaisen oder Waisen aufwuchsen, weil ihre Eltern schon starben, als sie noch Kinder waren.
Allerdings gibt es leider auch eine andere Seite dieser Medaille, dass die Kindergesundheit heute besser und nicht schlechter ist als früher. Diese andere Seite der Medaille lautet: Wir sind nach Kräften dabei, die Kindergesundheit wieder zu verschlechtern. Die Chancen, die Kinder in den Industriestaaten heute haben, sind sehr viel besser als vor 100 Jahren, aber: Wir sind nach Kräften dabei, viele dieser Chancen zu verspielen. Wir müssen uns klarmachen: Ob diese Chancen Wirklichkeit werden, liegt an uns.
Das Robert-Koch-Institut hat eine umfassende Erhebung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auf den Weg gebracht: den bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey. Er ist die erste repräsentative Bevölkerungserhebung von der Geburt bis zum 17. Lebensjahr in Deutschland. Von Mai 2003 bis Mai 2006 wurden von vier ärztlich geleiteten Untersuchungsteams in insgesamt 167 für die Bundesrepublik repräsentativen Städten und Gemeinden Untersuchungen durchgeführt, an denen insgesamt 17.641 Kinder und Jugendliche teilgenommen haben.
Leider hat nur Schleswig-Holstein die Möglichkeit genutzt, im Rahmen einer landesweiten Aufstockung der Stichprobe zusätzliche landesspezifische Daten zu erheben. Unsere, noch als Opposition vorgetragene Forderung, NordrheinWestfalen möge sich ebenfalls in dieser Form beteiligen, hat die rot-grüne Landesregierung seinerzeit leider abgelehnt.
Die Ergebnisse zeigen, dass viele Kinder und Jugendliche nicht nur unter psychischen Problemen, sondern auch an chronischen Erkrankungen leiden. 15 % der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig, mehr als 6 % gelten als fettleibig. Erkrankungen wie Heuschnupfen, Asthma und Neurodermitis werden häufiger diagnostiziert als früher. Insgesamt leiden etwa 22 % unter Essstörungen.
Nahezu alle Ergebnisse des Kinder- und Jugendsurveys bestätigen den Befund, den auch der Sozialbericht Nordrhein-Westfalen aufweist, den wir gestern diskutiert haben. Ich spreche vom Zusammenhang zwischen den Ressourcen der Eltern und der Lebenswelt des Kindes, die sich auch im Gesundheitsverhalten und der Gesundheit der Kinder widerspiegeln.
Der soziale Status und der Bildungserfolg der Eltern haben einen nachweisbaren Einfluss auf das Gesundheitsverhalten und die Ernährungsgewohnheiten der Kinder. Kinder und Jugendliche, die in Armut leben, haben ein erhöhtes Risiko einer ungünstigen Gesundheitsbiografie. Arbeitslosigkeit macht arm, und Arbeitslosigkeit und Armut machen krank, und zwar beides – dies zeigen der Survey und der Sozialbericht des MAGS NRW – bis in die nächste Generation.
Der 110. Deutsche Ärztetag, der in der vorigen Woche in unserem Bundesland in Münster stattgefunden hat, hat sich in einem eigenen Tagesordnungspunkt mit der Kindergesundheit in Deutschland befasst. Die 250 Delegierten haben dazu einen halben Tag eingesetzt. Als Ergebnis wurden insgesamt 35 Anträge beschlossen, die sich der Stärkung von Kindergesundheit widmen. In diesen Beschlüssen sind so viele gute Ideen enthalten, dass es den Rahmen einer Aktuellen Stunde bei Weitem sprengen würde, auf sie alle einzugehen. Aber einige der dort gemachten Vorschläge möchte ich nennen, weil sie das Spektrum möglicher Handlungsansätze zeigen.
Das gilt etwa für Programme wie „Gesundheit macht Schule“ der Ärztekammer Nordrhein, das wir in Nordrhein-Westfalen mit dem NRWGesundheitspreis ausgezeichnet haben und welches sich die Stärkung von Kindern in Kindergärten und Schulen zum Ziel setzt. Das gilt für den flächendeckenden und nachhaltigen Ausbau von Vernetzungsprojekten zur Förderung der Gesundheit sozial belasteter Familien und für die Etablierung sozialer Frühwarnsysteme, wie sie in Nordrhein-Westfalen begonnen wurden. Wir finden den Vorschlag richtig, dass Eltern von Neugeborenen frühzeitig durch geeignete kommunale Stellen zu Hause aufgesucht und über verfügbare
Hilfsangebote und Vorsorgeuntersuchungen informiert werden. Schon der Landesparteitag der CDU hat dieses Beispiel aus Dormagen zustimmend aufgegriffen.
Bei einer inhaltlichen Überarbeitung der Früherkennungsuntersuchungen nach § 26 Sozialgesetzbuch V durch den Gemeinsamen Bundesausschuss sollten die Erfassung der Lebensbedingungen des Kindes sowie die Identifikation von Zeichen psychischer Auffälligkeiten, von Vernachlässigung bzw. von Gewalteinwirkung sowie die elterliche Beratung stärkere Berücksichtigung finden.
Um möglichst alle Kinder untersuchen und ihren Gesundheits- sowie Entwicklungsstand beurteilen zu können, brauchen wir ein System verbindlicher Kinderfrüherkennungsuntersuchungen und eine zielgerichtete Erweiterung des Inhalts dieser Untersuchungen. Durch ein gesetzlich verankertes Meldewesen, nach dem im Konsens mit den Eltern die Teilnahme bescheinigt wird, können Jugendhilfe und öffentlicher Gesundheitsdienst in die Lage versetzt werden, die mit ihrem Kind nicht teilnehmenden Eltern über ein Erinnerungsverfahren aufzufordern und schließlich auch Kontakt zu solchen Kindern und Familien aufzunehmen, die sich einer Früherkennungsuntersuchung weiterhin entziehen.
Ich kann jetzt aus Zeitgründen auf weitere Anregungen und Ideen nicht eingehen. Aber eines ist mir vielleicht noch gestattet, nämlich die Darstellung der vielleicht wichtigsten Erkenntnis: Ebenso, wie wir im letzten Jahrhundert den Kampf gegen die Infektionskrankheiten nicht alleine durch spezifische medizinische Behandlungen einzelner Infektionskrankheiten gewonnen haben – dazu war auch die Verbesserung der allgemeinen Hygiene- und Lebensverhältnisse notwendig –, so werden wir auch den Kampf gegen Übergewicht und Fettleibigkeit, Essstörungen, Vergiftungen durch Rauchen und Passivrauchen, maßlosen und viel zu frühen Alkoholkonsum, Bewegungsarmut, nachlässige Mund- und Zahnpflege und für eine stabile psychische Gesundheit unserer Kinder nicht allein durch spezifische medizinische Behandlungsmaßnahmen gewinnen, sondern wir brauchen zur gleichen Zeit eine kinderfreundliche Politik, die die Überwindung von Kinderarmut, den Bildungserfolg und die bestmöglichen Vorbereitungen für den späteren beruflichen Erfolg der Kinder in den Blick nimmt. – Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kinder- und Jugendpolitik erfährt in diesem unserem Lande wahrlich eine geradezu immense Aufmerksamkeit. Gestern debattierten wir gleich unter den ersten drei Tagesordnungspunkten zum Wohle vor allem unserer Kinder. Heute machen wir dies unter den ersten beiden Tagesordnungspunkten. Hier und heute legen wir den Fokus ganz besonders auf die Kindergesundheit.
Seit Januar 2006 debattieren wir immer wieder bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten über die Gesundheit unseres Nachwuchses: Mal sind wir durch Fälle von Kindestötung und -misshandlung aufmerksam geworden, mal durch den UNICEFBericht zur Situation der Kinder in Industrieländern, mal – das ist hier der Fall – durch die Veröffentlichung der KiGGS-Studie in der vergangenen Woche.
Schwerpunkte beim Kinder- und Jugendgesundheitssurvey sind unter anderem Krankheiten, Unfallverletzungen, gesundheitliche Lage, Befinden, Lebensqualität, Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, Medikamentenkonsum, gesundheitsrelevanter Lebensstil, Risikoverhalten, körperliche, psychische und soziale Entwicklung, Lebensbedingungen, Soziodemografie und Sozialstatus, Impfstatus. Zum Impfstatus haben wir unter Tagesordnungspunkt 2 – „Verbesserung des Impfschutzes in Nordrhein-Westfalen verbindlich gesetzlich regeln“ – noch Gelegenheit, ausführlich Stellung zu beziehen“.
Zu den in der Beantragung der Aktuellen Stunde genannten Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 und J1 haben wir bereits in unserem gemeinsamen Antrag Drucksache 14/2580 – Sie erinnern sich – Stellung bezogen und haben alle – wir alle hier, Herr Henke – festgestellt, dass wir eine weitere Vorsorgeuntersuchung zwischen U7 und U8, zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr, brauchen.
Im Handlungskonzept der Landesregierung vom 30. Januar 2007 können wir lesen: Eltern, die es ihren Kindern nicht ermöglichen, an den regelmäßigen Früherkennungsuntersuchungen teilzunehmen, sollen dem Jugendamt gemeldet werden, damit notwendige Maßnahmen ergriffen werden können. Die erforderlichen Schritte sind noch abschließend zu prüfen.
Ich frage die Landesregierung: Haben Sie geprüft? Welches Ergebnis ergab sich aus dieser Prüfung? Wo ist der Bericht? Kommt der heute? Und: Von wem kommt er?
Im gleichen Handlungskonzept können wir lesen: Es soll sichergestellt werden, dass die Früherkennungsrichtlinien so gestaltet sind, dass zukünftig Gefährdungen des Kindeswohls durch Vernachlässigung und Misshandlung zum Beispiel durch Einführung entsprechender Untersuchungsschritte und Überprüfung der Untersuchungsintervalle noch früher erkannt werden können.
Umgesetzt, Herr Laschet? Liegt ein Beschluss des gemeinsamen Bundesausschusses mit Ergebnissen zu den Früherkennungen vor?
Über Lebensbedingungen, Soziodemgrafie und Sozialstatus haben wir ebenfalls ausführlich debattiert. Trotzdem möchte ich hier noch einmal ansetzen. In der gestrigen Debatte zur Unterrichtung durch die Landesregierung zum Armuts- und Reichtumsbericht haben wir eine Menge zu den Risiken, auch zu den gesundheitlichen Risiken von Armut, gehört. Wir alle wissen, Herr Henke: Armut macht krank – und Krankheit macht arm.
Das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Sozialstatus ist ein anderes als das derer mit höherem Status. Die Erstgenannten rauchen häufiger, trinken häufiger Alkohol, und auch der Drogenkonsum ist viel stärker. Deutlich zeigt sich in der KiGGSStudie aber auch, dass Mädchen und Jungen, die Hauptschulen besuchen – jetzt kann die Schulministerin hinhören – und in den jungen Ländern leben, erhöhte Rauchprävalenzen aufweisen.
Kinder und Jugendliche sind schlechter ernährt, wenn zu Hause das Geld fehlt. Dem Armuts- und Reichtumsbericht 2007 können wir entnehmen, dass Leistungsempfänger nach dem SGB II monatlich 132,71 € für Nahrungsmittel, ihre Kinder hingegen 79,62 € – das sind am Tag 2,65 €: 1 € für das Frühstück, 1 € für das Mittagessen und 65 Cent für das Abendessen – zur Verfügung haben. Davon, meine Damen und Herren, wird man noch nicht einmal satt – Heranwachsende schon gar nicht!
Aus der KiGGS-Studie können wir auch entnehmen, dass wir noch detaillierte Angaben erhalten werden, und zwar in EsKiMo, der Ernährungsstudie, die als KiGGS-Modul ausgewertet wird. Da hätten Sie sich mit Landesmitteln einbringen können, Herr Henke. Sie hätten die Chance. Fest steht schon jetzt: Es werden zu viele Süßigkeiten
und süße Getränke konsumiert. 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter zwischen drei und 17 Jahren sind übergewichtig oder adipös.
Wann handeln Sie, Herr Laumann? Wann, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, lernen Sie aus den Berichten?
Die ersten Ergebnisse zur KiGGS-Studie wurden auf einem Symposium im September 2006 vorgestellt. Sie kennen sie also schon sehr lange. Sie wollen doch immer regieren! – Tun Sie es endlich!
In der Großen Anfrage der SPD-Fraktion zur Situation der Familien in NRW haben Sie, Herr Laschet, im Einvernehmen mit anderen Ressorts festgestellt, dass Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Familien häufiger schweres Asthma haben – Sie führen das darauf zurück, dass Mütter während des ersten Lebensjahres ihrer Kinder rauchen. Was ist mit den Vätern? Sie rauchen doch – und dass sie schlechten Wohnbedingungen und Verkehrsbelastungen ausgesetzt sind. All das wissen wir und haben uns schon häufig darüber ausgetauscht.
Dabei drängt sich eine Frage auf. Wollen wir sagen „Schön, dass wir noch einmal darüber geredet haben. Bei der nächsten Gelegenheit, zum Beispiel, wenn EsKiMo vorliegt, können wir das Thema gerne noch einmal aufgreifen“?
Oder bekommen wir nun endlich Ergebnisse aus dem Handlungskonzept des Familienministers zu sehen? – Wollten Sie Herrn Laschet mit dieser Aktuellen Stunde eine Plattform bieten, um uns alle vom aktuellen Stand und zu den 15 Punkten des Konzeptes in Kenntnis zu setzen?
Bekommen wir auch von Ihnen, Herr Minister Laumann als Sozial- und Gesundheitsminister, einen Bericht zu den Konsequenzen, die Sie aus den Erkenntnissen der Studie ziehen können?