Protocol of the Session on November 8, 2018

Darauf geht der Thüringen-Monitor ja an verschiedenen Stellen ein. Das ist auch ganz logisch, wenn man bedenkt, dass gerade das Thema „Flüchtlinge und Integration“ nach wie vor ein Dauerbrenner ist und in der Hoch-Zeit der gesellschaftlichen Debatte ja auch die Erhebungen dieses Thüringen-Monitors stattgefunden haben.

Es gibt eine wirklich interessante Erhebung im Thüringen-Monitor, die ich Ihnen gern noch mal vorstellen möchte: Fast 60 Prozent der Thüringer sagen, die Bundesrepublik ist durch Ausländer gefährlich überfremdet. Wenn man dann fragt: „Ist das auch in Thüringen so?“, dann sagen das schon nur noch 36 Prozent. Und wenn man noch genauer fragt, ob das auch für das eigene Wohngebiet zutrifft, für die eigene Region, in der man zu Hause ist, wo man seine Heimat hat, dann sagen das nur noch 11 Prozent. Eine Mehrheit findet also, wenn wir diese Daten in dieser Form auswerten, Ausländer überfremden unsere Gesellschaft in einem gefährlichen Ausmaß. Aber nur jeder Zehnte in Thüringen bestätigt, dass das auch für das eigene Umfeld gilt. Diejenigen, die eine Alternative für die Demokratie etablieren wollen, skandieren momentan über Lautsprecher, dass sie die Einzigen seien, die unsere Heimat vor den Fremden verteidigen würden. Aber nach den Ergebnissen des Thüringen-Monitors ist das für circa 90 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer überhaupt nicht relevant, denn sie sehen diese Gefahr zumindest nicht vor ihrer Haustür.

Was für den Einzelnen Heimat ist, meine Damen und Herren, ist sehr unterschiedlich. Es kann das vertraute Stadtviertel, der Dorfplatz, die Familie sein; manche verbinden mit Heimat vor allem hierzulande auch kulinarische Genüsse wie Bratwürste, Klöße, Wurstgulasch, die Schlager-Süßtafel – alles unbestritten sehr unterschiedlich, was wir als Heimat schätzen und lieben. Mit Sicherheit aber ist Heimat keine Verteidigungszone, keine reine Abgrenzungslinie gegen andere Menschen.

Aber der diesjährige Thüringen-Monitor sagt noch mehr aus. Es gibt da weitere Erhebungen und die stimmen sehr bedenklich. Der eine oder andere Vorredner ist bereits auch auf diese Zahlen eingegangen. Da sagen zwar 86 Prozent der Befragten, die Demokratie sei die beste aller Staatsformen. Aber im Konkreten wird es interessant: Das Vertrauen in die Bundesregierung als demokratische Institution hat gegenüber dem Vorjahr um 13 Prozent abgenommen. Vorher waren es 37 Prozent, jetzt nur noch 24 Prozent. Also nur noch rund ein Viertel der Befragten vertraut dieser Regierung. Auf der anderen Seite sind die Menschen zufrieden mit den Ergebnissen von politischen Prozessen und bewerten laut der Auswertung in diesem Thüringen

Monitor die politische Praxis überwiegend als gut – 55 Prozent der Leute sagen das. Das zeigt hohe Zufriedenheitswerte auch bei der Einschätzung der Lebenslage – dazu haben wir auch schon den einen oder anderen Redner gehört – oder bei der Einschätzung des Wohnumfelds, Bewertung von Politikfeldern, der öffentlichen Sicherheit oder wirtschaftlichen Lage. Ich will das jetzt nicht alles wiederholen.

Gleichzeitig zeigt sich eine massive Kritik am politischen Prozess, der an sich – wie gesagt – als überwiegend gut wahrgenommen wird. Das ist schon sehr kontrovers.

Es ist gibt noch ein sehr interessantes Stimmungsbild. Ein Großteil der Bevölkerung – 72 Prozent nämlich, also fast drei Viertel – fürchtet um den Zusammenhalt in unserem Land. Ein Großteil – 68 Prozent – möchte, dass wieder mehr für die Mehrheit der Leute im Land getan wird, statt sich um Minderheiten zu kümmern. Gleichzeitig zeigen Befragungen deutschlandweit, dass sich die Menschen einen anderen Fokus der Politik wünschen, und zwar weg vom Migrationsthema. Mich hat neulich eine ältere Dame im Wahlkreis angesprochen und gesagt: „Gibt es denn überhaupt noch irgendein anderes Thema, um das Sie sich kümmern, als Ausländer? Ich kann das schon nicht mehr hören.“ Die Forscher des Thüringen-Monitors vermuten aufgrund dieser Zusammenhänge, dass es den meisten Menschen nicht darum geht, prinzipiell Politik für Minderheiten abzulehnen, sondern – und das ist interessant – dass es ihnen darum geht, dass vonseiten der Politik grundsätzlich wieder mehr für das Allgemeinwohl gemacht wird.

Nun müssen bestimmte Umfrageergebnisse, die ich Ihnen genannt habe und die uns vielleicht erschrecken, ja auch Ursachen haben. Wir verfolgen die Debatte derzeit in der ganzen Republik und wir werden das in Gesprächen und Diskussionen auch immer wieder gefragt. Zur Bundestagswahl in Sachsen wurde die AfD stärkste Partei. In den neuen Bundesländern generell hat sie viel größere Stimmenanteile als im Westen. Dabei sagt mancher westdeutsche Diskutant zu mir: „Ihr habt doch all die Milliarden bekommen, eure Straßen sind zum Teil besser als unsere, eure Innenstädte sind wieder saniert und schick. Was ist eigentlich bei euch im Osten los?“ Dieses Thema hat den ThüringenMonitor auch wiederholt beschäftigt und zieht sich auch in diesem Jahr wie ein roter Faden durch: Es geht um die Ostdeprivation – Herr Blechschmidt ist dankenswerterweise auch schon darauf eingegangen –, das Gefühl also, als Ostdeutscher benachteiligt zu sein.

Jetzt frage ich mal ganz provokant: Was wir da jedes Jahr lesen, in schöner Regelmäßigkeit, was sich in tabellarischen Verläufen von statistischen Erhebungen auch immer mehr fortzusetzen scheint

wundert uns das eigentlich ernsthaft? In Sachsen ist Petra Köpping Gleichstellungs- und Integrationsministerin und sie hat einen bemerkenswerten Text unter dem Titel „Ostdeutschland oder Das große Beschweigen“ veröffentlicht. Darin beschreibt sie die Stimmung der Menschen, mit denen sie zusammentrifft, in einem Bundesland, das eine der besten Wirtschaftsentwicklungen der letzten Jahre hatte, wo eigentlich alles in Butter sein müsste.

Sie schreibt – Frau Präsidentin, Sie gestatten zu zitieren –: „Irgendwann war es nicht mehr das ‚normale‘ Murren und Schimpfen. Es schwoll an in einer ungeahnten öffentlichen Erregung, die sich in Bürgerversammlungen, Demonstrationen und Protestwahl zeigte. Ich ging hin, um mehr zu erfahren und das Gespräch anzubieten. So stand ich auch am Rande vieler Pegida-Demonstrationen. Hier und bei anderen Gelegenheiten kamen viele aufgebrachte Menschen auf mich zu und schimpften auf ‚die da oben‘, auf Flüchtlinge und auf ‚das System‘. Einige meinten, die Stimmung sei die gleiche wie 1989. […] Und fast in allen Fällen war recht schnell nicht mehr die ‚Flüchtlingsproblematik‘ das alles entscheidende Thema. Es ging um etwas viel tiefer Liegendes. Etwas Grundlegenderes. Die Flüchtlinge waren der Anlass, doch der Grund der Erregung war bei vielen offensichtlich älter. Und da war es wieder: Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen der Menschen während der Nachwendezeit. Obwohl seitdem fast 30 Jahre vergangen sind, offenbarten sich unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, die die Menschen bis heute noch bewegen, unabhängig, ob sie sich nach 1990 erfolgreich durchgekämpft haben oder nicht. Es ging in fast allen Gesprächen um Lebensumbrüche. Vor allem berufliche, aber auch private. An einem Tag raunte mir dann ein […] Demonstrant zu: ‚Sie immer mit Ihren Flüchtlingen! Integriert doch erst mal uns!‘ Diese Aussage brachte es auf den Punkt: Hier geht es anscheinend bei vielen gar nicht um das Thema Flüchtlinge. Diese waren nur Projektionsfläche für eine tiefer liegende Wut und Kritik. […]

Tatsächlich haben die meisten Westdeutschen noch immer nicht verstanden, was eigentlich wirklich im Osten nach 1990 passiert ist. Von einem Tag auf den anderen änderte sich hier alles. Viele im Osten, aber auch im Westen, haben davon profitiert, andere zerbrachen daran. Der gesellschaftliche Umbruch hatte nicht nur wirtschaftliche Folgen, sondern er betraf die gesamte Lebenswelt.

[…] Plötzlich fanden sich fast Vierzigjährige in einer Art zweiter Pubertät wieder, in einer plötzlich ausgewechselten Welt, in einem plötzlich ausgewechselten Leben. Ohne Boden. Und nie für möglich gehalten – ohne Arbeit. Aber mit Familie. […] Die Umbruchphase war für die wenigsten reibungslos. Und manche gewannen nie mehr festen Boden unter den Füßen. […] ‚Wie die Buchbestände ganzer Ver

lage auf dem Müll landeten, so auch die Lebensläufe. […]‘, fasste die Journalistin Kerstin Decker schon 1999 die damalige Situation zusammen.

Die phänomenale Gleichzeitigkeit der sich überschlagenden Ereignisse wirkte auf uns von Veränderungen durchgeschüttelte Ostdeutsche wie ein Kulturschock. Die massenhafte Konfrontation mit westdeutschen Standards bei den ersten Besuchen im Westen stellte beinahe alles in der DDR – alle geltenden Werte und Orientierungen – infrage, oft genug aber auch auf den Kopf. Die Arbeitswelt, die gesamte Warenwelt, das Versicherungswesen, der Verkehr, die Zeitungen, das gesamte Bankwesen, das Personal an den Hochschulen, die Zusammensetzung der Eliten, viele Orts- und Straßennamen, die verwaltungstechnische Einteilung plötzlich in Länder und Kreise, die Parteien, von den Ampelmännchen bis zu den Zündhölzern – nichts blieb, wie es vorher war. Ich behaupte: Wer das nicht selbst miterlebt hat, kann sich schlicht nicht vorstellen, wie tiefgreifend der Wandel war.

Bislang hatten die Menschen eine riesige Schlange vor einem Arbeitsamt nur aus den Propagandasendungen des ‚Schwarzen Kanals‘ gekannt. In der neuen Realität selbst dorthin zu gehen und einen Antrag auf Arbeitslosengeld stellen zu müssen, war eine große Überwindung. Das war ein Bruch, den die Menschen vielleicht am Anfang gar nicht so gespürt haben, weil sie ihren Alltag zu bewältigen hatten, der aber noch 30 Jahre später unheimlich stark nachwirkt. Bisher musste die Treuhandanstalt allein für alles herhalten, was falsch gelaufen ist, mit der Folge, dass für die in der Gesellschaft angerichteten Kollateralschäden nach der Wende nicht Politiker ihre Köpfe hinhalten mussten, sondern eine schnell wieder aufgelöste Behörde nach der Drecksarbeit mit Schmutz beworfen wurde. Das war taktisch klug von den verantwortlichen Politikern, aber es war katastrophal für die Demokratie. Nicht die handelnden Akteure wurden verantwortlich gemacht, sondern das System als solches. Auch das beschädigte die Ausbildung einer demokratischen Kultur im Osten Deutschlands.

Soll die Aufarbeitung gelingen, müssen sich auch die westdeutschen Eliten in Politik und Gesellschaft aktiv mit einbringen. Es geht darum zu verstehen, was in den 90er-Jahren schiefgelaufen ist. Der Osten darf dabei nicht länger als ein nachträglich zu erziehendes und missratenes Kind betrachtet werden, stattdessen muss gemeinsam darüber gesprochen werden, welche verheerenden Nachwirkungen die Nachwendezeit bis heute hat und wie ihre negativen Folgen möglichst repariert werden können.“ So weit also dieses Zitat.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Thüringen-Monitor liefert eine Reihe bedenklicher Ergebnisse, ein paar davon habe ich schon aufgezählt. Ich frage aber noch mal, auch im Hinblick auf

das, was Petra Köpping da schildert, was ich Ihnen eben als Zitat hier präsentiert habe: Wundert uns das? Wenn es in diesem Beitrag schon einmal angesprochen wird: Das Thema „Treuhandanstalt“ ist tatsächlich eines, das viele Menschen, insbesondere hier im Osten, bewegt hat und immer noch bewegt. Vor Ihnen, meine Damen und Herren, steht jemand, der den Beruf des Offset-Druckers gelernt hat. Ich habe gearbeitet in der ältesten Druckerei der Region. Silvester 1640 hat der Gothaer Herzog Ernst I. sie gegründet, weil er Druckerzeugnisse brauchte, also Urkunden, Staatspapiere usw. Und ich musste mit ansehen oder – besser – ich war mittendrin, wie wir vom damaligen Trägerbetrieb in Erfurt nach der Wende wie heiße Kartoffeln fallengelassen wurden und die Treuhand uns abgewickelt hat. Das war dieser Begriff damals. Nicht etwa weil wir unrentabel waren, nein, weil die vormalige Engelhard-Reyhersche Hofbuchdruckerei oder die spätere Druckerei August Bebel, also mein Arbeitsplatz, mitten in der Innenstadt lag und das Grundstück einfach viel lukrativer war als die Weiterführung des Betriebs. Ich habe neben Kolleginnen und Kollegen gestanden, die teilweise 30, 40 Jahre lang dort gearbeitet haben und die nicht fassen konnten, wie wir trotz voller Auftragsbücher die Kündigung in die Hand gedrückt bekamen. Das habe ich bis heute nicht vergessen. Ein Gutteil der sogenannten Ostdeprivation ist auch auf das Agieren dieser Treuhandgesellschaft zurückzuführen. In den letzten Monaten gibt es sogar wieder eine Debatte darüber, ob man das Wirken dieser Treuhandanstalt nicht noch mal näher beleuchten müsse. Ich sage: Nur zu! Das wird spannend. Ich will Ihnen mal ein paar Zahlen nennen, damit Sie verstehen, was ich meine. 1990, bei Vereinigung beider Staaten, ging es auch um die Frage und eigentlich grundsätzlich um die Frage, was das Ganze denn kosten soll und darf und muss, diese Vereinigung. Dabei ging es auch um Vergleichswerte beider Volkswirtschaften. Hans Modrow, vorletzter Ministerpräsident der DDR, hat den Wert des Volkseigentums auf rund 950 Milliarden D-Mark beziffert. Das wird er nicht selber gemacht haben, es gab damals ja Experten – solche Erhebungen gibt es in fast allen Ländern –, die eben diese Zuarbeiten machten. Kurz darauf hat Christa Luft, das war die letzte Wirtschaftsministerin der DDR, die Zahl 900 Milliarden D-Mark genannt. Die Beamten im Bonner Regierungsapparat sind im Frühjahr 1990 auch noch davon ausgegangen, dass die Erlöse, die man bei der Privatisierung der volkseigenen Betriebe und Kombinate erzielt, in großen Teilen die Kosten der Wiedervereinigung decken. Detlev Rohwedder, damals Chef der Treuhandanstalt, hat noch mit 600 Milliarden D-Mark gerechnet, das ist auch noch eine Stange Geld. Und jetzt kommt es: Die Abschlussbilanz der Treuhand unter Birgit Breuel 1994, was glauben Sie wie die lautete? Minus 270 Milliarden D-Mark. Da fragt man sich: Wie

konnte es zu so einem extremen Werteverfall kommen, innerhalb von vier Jahren, also in kürzester Zeit, von – nehmen wir mal die minder geschätzte Zahl von Detlev Rohwedder – von 600 Milliarden auf minus 270 Milliarden, wie geht so was? Was ist da schiefgelaufen? Jetzt kann man sagen, das war ja größtenteils alles so kaputt und marode in der DDR, diese riesigen Betriebe, alles unrentabel, alles in Schutt und Asche. Aber zum einen, meine Damen und Herren, fängt das Problem genau an dieser Stelle schon mal an. Wenn ich den Ostdeutschen immerzu einrede, dass das Wo und das, was sie gearbeitet haben, nichts mehr wert war, bin ich ganz schnell bei dem Eindruck, den viele Ostdeutsche heute noch haben: dass auch ihre Arbeit, ihre Lebensleistung keinen Wert hatte. Wenn man jahrelang in der Politik vom Milliardengrab Ost gesprochen hat, empfanden das viele Menschen hier als Demütigung und das tun sie auch heute noch, wenn man hört, dass auf einer Ministerpräsidentenkonferenz ein westdeutscher Kollege zu unserem Ministerpräsidenten sagt: Ihr habt jetzt jahrzehntelang die Gelder aus dem Westen erhalten, jetzt sind auch mal andere dran. Das hat sich tatsächlich so ereignet.

Welcher normal denkende Mensch soll zum anderen denn bitte schön nachvollziehen können, wenn innerhalb von vier Jahren in einer staatlichen Gesellschaft – die Treuhandgesellschaft war ja staatlich – hunderte Millionen einfach so verbrannt werden? Wir sind heute dank des Berliner Großflughafens schon viel gewohnt, aber das war ja zur damaligen Zeit noch nicht gang und gäbe. Das Agieren der Treuhand hat übrigens zu mehreren Untersuchungsausschüssen im Bundestag geführt, einer davon hat übrigens gerade mal 15 Parlamentswochen Zeit gehabt zu untersuchen, weil er erst im Oktober 1993 zum ersten Mal tagte und im Jahr darauf gleich wieder ein neuer Bundestag gewählt wurde. Der eine oder andere, der bereits länger im Parlamentsverfahren ist, weiß, was das bedeutet, wenn ein Untersuchungsausschuss gerade mal für 15 Parlamentswochen eingesetzt wird. Aber immerhin, es kamen mehr als 500 Seiten Papier zustande. Ich habe an alle hier im Hohen Hause die Empfehlung, wenn mal gar nichts abends im Fernsehen läuft: Dieser Bericht bietet Unterhaltung der Extraklasse, einfach downloaden, es ist erstaunlich, es ist frappierend, was sich dort eröffnet. 1998 gab es den Untersuchungsausschuss DDR-Vermögen, der festgestellt hat, dass unter Mitwirkung der Treuhand das Kunststück gelungen ist, unter anderem durch Betrug, Veruntreuung, kriminelle Machenschaften, einen Schaden zwischen 3 und 10 Milliarden D-Mark zu verursachen.

Ich bleibe dabei: Was damals alleine in den Jahren der Nachwendezeit geschehen ist, hat Auswirkungen bis heute und findet sich auch an vielen Stellen im Thüringen-Monitor wieder. Dass die Menschen

damals millionenfach ihre Arbeit verloren haben, dass sie ohnmächtig – im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich ohne Macht – zusehen mussten, wie diese Treuhand agierte, wie jahrelang bis heute noch immerzu darüber geredet wird, wie kaputt doch das alte System war, ohne dabei mal einzublenden, welche Machenschaften bei Privatisierung der Betriebe abgelaufen sind, das hat doch Auswirkungen, das hat doch Spuren hinterlassen bei den Menschen. 80 Prozent der Käufer von DDR-Betrieben, meine Damen und Herren, von der Treuhand vermittelt, stammen aus Westdeutschland, 15 Prozent aus dem Ausland. Also 95 Prozent derer, die damals das DDR- Volksvermögen übernommen hatten, kamen nicht aus dem Osten, nur 5 Prozent kamen aus Ostdeutschland. 5 Prozent. Das hat doch etwas gemacht in diesem Land mit diesen Leuten. Der Manager, der Chef der Firma aus dem Westen, die Sekretärin aus dem Osten. Dieses Bild ist doch bis heute zum Teil nicht verschwunden, das ist doch gelebte Wirklichkeit.

In einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung wird festgehalten, dass das krasse Verhältnis 95 zu 5 auch bei der Verteilung materieller und finanzieller Güter zwischen Ost und West besteht. 95 Prozent der Menschen, die man als reich bezeichnen kann – dafür gibt es übrigens eine statistische Regel: wer mehr als 250 Prozent des sogenannten Medianeinkommens verdient, also mehr als das Zweieinhalbfache des mittleren Einkommens, gilt als reich oder dem geht es sehr gut. Also: 95 Prozent der sogenannten Reichen wohnen in Westdeutschland, 5 Prozent im Osten. Ich könnte das beliebig fortführen.

Das erklärt unter anderem auch Ostdeprivation, das Gefühl benachteiligt zu sein hier im Ostteil der Republik. Dann wundern wir uns alljährlich über die Ergebnisse, die der Thüringen-Monitor liefert. Dieses statistische Werk bestätigt, dass das Gefühl oder die objektive Wahrnehmung, als Ostdeutscher diskriminiert oder auch Mensch zweiter Klasse zu sein, ethnozentrische Einstellungen verstärkt. Das ist bereits aus den letzten Monitoren bekannt. Es gibt da eine sehr interessante These im ThüringenMonitor und die lautet: Wird der Politik und den etablierten politischen Akteuren nicht zugetraut, die kulturelle Identität zu schützen oder Benachteiligung und ökonomische Missverhältnisse abzubauen, ist die Ausgrenzung und Abwertung von Fremdgruppen ein mögliches Mittel zur Aufrechterhaltung des eigenen Selbstwertgefühls und zur vermeintlichen Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit. Das steht so in diesem Thüringen-Monitor. Und dann wundern wir uns über die Zahlen und die Wahlergebnisse im Osten.

Ich bleibe deshalb dabei: Wenn es gelingen soll, aus den Umfragewerten die richtigen Schlüsse zu ziehen, muss man nach den Gründen dieser Umfragewerte suchen. Die liegen bei vielen Befragten

fast drei Jahrzehnte zurück. Und sie liegen im sogenannten großen Beschweigen, wie es Petra Köpping treffend nannte, über jene Umbrüche, die in der Wendezeit 16 Millionen Menschen betroffen haben. Diese Umbrüche haben direkt etwas damit zu tun, dass Menschen heute so argumentieren, wie sie es tun, und dass sie zum Teil auch so gewählt haben, wie sie gewählt haben. Wenn das so weitergeht, wenn kein Zusammenhang hergestellt wird bei der Frage der immer größeren Unzufriedenheit, beim Gefühl des Zu-kurz-gekommen-Seins, mit der Stimmung draußen im Land, werden wir in den kommenden Jahren noch Thüringen-Monitore erleben mit ganz anderen Zahlen, das prophezeie ich hier schon mal. Oder – um es zum Schluss noch einmal mit Petra Köpping zu sagen –: Ich will nicht, dass wir Ostdeutsche jammern, ich will Gerechtigkeit. Wir sind keine Bürger zweiter Klasse. Allerdings müssen wir dann selbst auch so auftreten, selbstbewusst und auf Augenhöhe. Natürlich können wir heute, bald 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, auch stolz sein auf das Erreichte, aber wir müssen eben auch benennen, was nicht in Ordnung war und bis heute nicht in Ordnung ist – nicht, um irgendwem eine Schuld zuzuweisen, sondern um unsere Schlüsse zu ziehen, produktiv daraus zu lernen und dort, wo es noch möglich ist, Abhilfe zu schaffen. Sonst befürchte ich – schreibt Petra Köpping –, dass sich viele von uns Ostdeutschen immer weiter von der Demokratie verabschieden und uns dann die nächsten Wahlen die Quittung für das große Beschweigen der letzten 30 Jahre bescheren werden. – Bei vielen Dingen gebe ich Petra Köpping recht. Bei ihrem letzten Satz hoffe ich, dass sie nicht recht behalten wird. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als nächster Redner erhält Abgeordneter Höcke von der AfD-Fraktion das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Besucher auf der Tribüne, sehr geehrte Kollegen Abgeordnete, wir haben es in den Redebeiträgen schon erfahren dürfen, der Thüringen-Monitor bietet sich als Anlass an, über alles reden zu können. Deswegen wird er wahrscheinlich auch jedes Jahr konzipiert und vorgestellt. Eine kleine Regierungserklärung bzw. eine große Regierungserklärung, das macht man als Ministerpräsident gerade, wenn man in Bedrängnis gerät, sehr gern.

(Zwischenruf Abg. Rothe-Beinlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So eine Diskreditierung gleich am Anfang! Es geht wohl nicht ohne!)

(Beifall AfD)

Sie haben, sehr geehrter Herr Kollege Hey – Wo ist er denn jetzt? Ist er rausgegangen? – über die Ostdeprivation gesprochen. Ja, das kann man so sehen. Ob es tatsächlich diese Zusammenhänge gibt, die Sie aufzeigen, mag ich trotzdem zu bezweifeln, weil – wie wir ja heute auch schon öfter gehört haben – die Zufriedenheit der Thüringer mit über 60 Prozent doch signifikant hoch ist. Also das würde so ein bisschen Ihrer These, glaube ich, zumindest in meinen Augen widersprechen. Aber sicherlich ist das auch eine Erklärungsmöglichkeit, die Sie von hier vorne gegeben haben.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ramelow, ich danke Ihnen für Ihre Regierungserklärung zum Thüringen-Monitor, wie wohl ich natürlich, was ihre Bewertung angeht, in großen Teilen nicht zustimmen kann. Das versteht sich ja fast von selbst, muss ich sagen. Ich kann nicht auf alles eingehen, was Sie von hier vorn artikuliert haben. Sie haben fast eineinhalb Stunden geredet. Das war fast die Zeitspanne, die Fidel Castro – hieß er, glaube ich – minimal – jetzt bleiben Sie doch hier, das ist doch jetzt wirklich harmlos gewesen, Herr Ministerpräsident – mal gewählt hat.

(Heiterkeit DIE LINKE)

(Zwischenruf Abg. Rothe-Beinlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das entscheiden Sie nicht! Sie nicht!)

Was die Phrasen angeht, war Fidel Castro ähnlich veranlagt. Ich will auf wenige Dinge eingehen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident. Sie hören mich bestimmt draußen trotzdem.

Sie haben wiederholt vom Fachkräftemangel geredet. Ja, über den Fachkräftemangel in diesem Land wird viel geredet. Ob er wirklich so existiert, wie das von vielen Politikern immer wieder betont und bedauert wird, wage ich, wagt meine Fraktion zu bezweifeln. Wir brauchen wirklich, was den Fachkräftemangel angeht, keine Hysterie, sondern belastbare Zahlen. Dann sind wir auch willens und in der Lage, zu handeln. Sie haben vom Fachkräftemangel geredet, ohne allerdings auch auf die Auswirkungen einer systematischen Fachkräftewerbung im Ausland hinzuweisen. Wir reden nicht vom europäischen Ausland, wir reden – und Beispiele dafür haben Sie genannt – vor allen Dingen auch vom außereuropäischen Ausland, also vor allen Dingen auch aus Ländern herkommend, die noch nicht das Entwicklungsstadium von uns erreicht haben. Fachkräfteabwerbung bedeutet für diese Menschen, für diese Länder auch ein Abfluss an Innovationsfähigkeit, ein Abfluss an Leistungsträgern. Ob das nicht unethisch ist, das möchte ich zumindest mal als Frage in den Raum hineinformulieren.

(Zwischenruf Abg. Rothe-Beinlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unethisch! Geht es noch?)

(Abg. Hey)

Ich möchte auch darauf hinweisen, dass wir in der Alterskohorte 20 bis 35 in der Bundesrepublik Deutschland 2 Millionen junge Menschen haben ohne Berufsausbildung, sehr geehrte Kollegen Abgeordnete.

(Beifall AfD)

Wir haben die bittere Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass in der Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr 50.000 junge Menschen unsere Schulen ohne Schulabschluss verlassen. Deswegen ergeht hier von dieser Stelle die Forderung meiner Fraktion: Machen wir unsere Schulen so gut, dass wir unsere jungen Leute zu Fachkräften machen können!

(Beifall AfD)

100.000, sehr geehrte Kollegen, 100.000 Hochqualifizierte kehren jedes Jahr der Bundesrepublik Deutschland den Rücken. Das sind oft Leistungsträger, die uns verlassen – was auch immer sie motiviert, das kann an dieser Stelle jetzt nicht ausgeführt werden. Es ist ein Verlust, den man nicht so ohne Weiteres verkraftet. Gleichzeitig ermöglicht man Millionen junger Männer aus außereuropäischen Kontexten, vor allem aus dem arabischen und afrikanischen Raum, die illegale Zuwanderung, bietet ihnen dann sogar noch einen Spurwechsel an; wir wissen – und da haben wir zumindest jetzt schon belastbare Ergebnisse aus entsprechenden Untersuchungen –, dass die wenigsten von diesen Menschen, die man unkontrolliert ins Land gelassen hat, die eben nicht das Resultat einer bedarfsorientierten Einwanderungspolitik sind, keine Herzchirurgen sind, dass sie keine Computerspezialisten sind und dass sie, sehr geehrter Ministerpräsident, der mich vielleicht jetzt doch hört, eben nicht das sind, was Sie in für mich schon fast bedrückender Art und Weise gleichgesetzt haben, als sie Goethe als Migrant bezeichneten, und eben keine neuen Dichtergenies und Dichterfürsten sind.

(Beifall AfD)

Es ist auch bedauerlich – weil Sie auf den Zustand der Thüringer Krankenhäuser hingewiesen haben bzw. auf die Tatsache, dass mittlerweile ein Viertel der Ärzte in Thüringen einen Migrationshintergrund hat, und wir wissen von schweren und schlimmen Problemen in den Krankenhäusern, weil diese Ärzte oftmals nicht in der notwendigen Art und Weise der deutschen Sprache mächtig sind. Ja, es gab auch schon Fehldiagnosen. Ja, es gab auch schon Eingriffe, die vielleicht nicht notwendig gewesen wären. Und ob das der Weisheit letzter Schluss ist, das wage ich zu bezweifeln, gerade vor dem Hintergrund dessen, dass Zehntausende Mediziner, die an deutschen Universitäten auf Steuerzahlerkosten ausgebildet worden sind, in Schweden, in Norwegen und Großbritannien arbeiten. Warum gelingt es uns als Thüringer Freistaat, warum gelingt

es uns als Bundesrepublik Deutschland nicht, diese Mediziner, die, wie gesagt, pro Ausbildungsplatz etwa 100.000 oder 200.000 Euro Steuergeld gekostet haben, an unser Land zu binden und zurückzuholen? Das wäre doch mal eine Maßnahme.

(Beifall AfD)

(Zwischenruf Abg. Kuschel, DIE LINKE: Das wird an der AfD liegen, deshalb reisen die aus und verlassen das Land!)

Sie haben, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ramelow in Abwesenheit, auch – und das ist der letzte Aspekt, den ich jetzt einfach mal eingangs meiner Rede noch erwähnt wissen möchte – von einer Kabinettssitzung gesprochen, die Sie in Bälde einberufen wollen, eine Kabinettssitzung, die einzig und allein dem Thema „Antisemitismus“ gewidmet ist. Das finde ich grundsätzlich gut. Man werde dort – so führten Sie aus – diskutieren, was getan werden muss bzw. was getan werden kann, um dem Phänomen „Antisemitismus“ zu begegnen. Was getan werden muss, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ramelow, hat Ihnen Prof. Schramm heute Morgen in der Gedenkstunde in seiner feinen diplomatischen Art ins Stammbuch geschrieben.