Protocol of the Session on May 23, 2002

Meine Damen und Herren, ich halte es für wichtig, dass wir in der Familiendebatte den so oft gebrauchten nostalgischen Unterton vermeiden. Erstens stimmt dies generell nicht - "früher war alles besser" -, zweitens ist das Umfeld einer Familie ein anderes geworden und so bringen solche Antworten wie: "Früher musste ich auch um 20.00 Uhr ins Bett", keine Hilfe. Wir sind direkt dafür verantwortlich, dass die Familien wieder Vertrauen auch in die Politik bekommen. Ich halte das in der jetzigen Situation für beinahe unerträglich, was teilweise für unverantwortliche Versprechen im Bundestagswahlkampf an die Familien gemacht werden. In ihrer Zielstellung sicherlich wünschenswert, zur finanziellen Umsetzung wird wohlweislich nichts gesagt. Es wäre richtiger an dieser Stelle eher zu schweigen, als vollmundige Versprechen in die Welt zu setzen, von denen man heute noch nicht weiß, wie man sie morgen einlösen kann.

Meine Damen und Herren, der Traum vom bildungspolitischen Musterland Thüringen ist ausgeträumt. Das Thema "Bildung" hat durch PISA und die schmerzlichen Ereignisse am Gutenberg-Gymnasium an dringender und uns drängender Aktualität gewonnen. Die Bildungsdebatte in Thüringen hat längst begonnen. Der Empfänger der bildungspolitischen Forderungen sind wir, ist der Thüringer Landtag, denn, hier müssen wir handeln, entschlossen und zeitnah handeln, wo der Auftrag klar und unumstritten ist, nach offener Diskussion handeln, wenn bestehende Fragen und Zweifel noch nicht ausgeräumt sind.

(Klingeln eines Handys)

(Unruhe im Hause)

Ich bitte doch alle Vertreter der Medien, auch ihre Handys abzustellen - es ist hier im Raum nicht üblich - oder zumindest den Saal zu verlassen. Bitte.

Sofort sollten wir zwei Dinge angehen, die im Übrigen auch nichts kosten: Erstens, eine Zwischenprüfung am Ende der 10. Klasse am Gymnasium mit dem Ziel eines Realschulabschlusses und zweitens, den Informationsfluss zwischen Schülern, Eltern und Schule zu verbessern. Wir halten die kurze Prüfung im Justizministerium und die Ablehnung mit dem Verweis auf das Grundgesetz in dieser Angelegenheit für zu halbherzig und wenig konstruktiv. Weshalb kann nicht in Thüringen ebenso, wie in Bremen vorgesehen, jedem volljährigen Schüler und dessen Eltern durch die Schule ein freiwilliger Kontrakt über wechselseitige Informationen angeboten werden? Gewiss muss man über den Inhalt einer solchen Vereinbarung noch nachdenken, doch hier muss schnell etwas geschehen. Ich habe formuliert: Die Bildungsdebatte in Thüringen hat

längst begonnen. Denen, die dieses anzweifeln wollen, und denen, die der Meinung sind, nur PISA kann uns zum Handeln zwingen, sei aus einigen Briefen zitiert. Von einer Erfurter Schule in einem Brief an alle Landtagsfraktionen: "Das Alte funktioniert so nicht mehr. Wir kennen die Realität und fragen daher, warum gilt auch in der Bildung das Gesetz 'Was sich nicht rentiert, wird nicht gemacht.' oder 'Warum legen nicht alle Schüler am Gymnasium die Prüfung für den Realschulabschluss ab?' oder 'Warum gibt es keine Klassenleiterstunden mehr?' oder 'Warum arbeitet man nicht mit den Lehrerinnen und Lehrern sowie mit den Eltern und uns Schülern gemeinsam?'" Auszüge aus einem Brief eines Geraer Gymnasiums an die Landtagsfraktionen: "Im Verlauf von Gesprächen über Ursachen und Folgen kamen Lehrer und Schüler und Eltern zu der Erkenntnis, dass es höchste Zeit ist, einiges am Thüringer Bildungssystem und auch darüber hinaus zu ändern. Ein Sparkurs darf nicht zum Bildungsnotstand führen. Wir halten es für notwendig, die Klassenstärken zu reduzieren. Es fehlen Stunden für Arbeitsgemeinschaften und für die Klassenleiter. Wir halten es für dringend erforderlich, den Schülern des Gymnasiums am Ende der 10. KIasse ein abschlussgültiges Zeugnis durch Prüfung am Gymnasium in die Hand zu geben." Das Kollegium einer Grundschule in Gera: "Das Finanzministerium spart, gespart wird vor allem im Sozial- und Bildungsbereich. Lehrer sind im Überhang - laut Statistik des Kultusministeriums also raus. Warum setzt man gut ausgebildete Fachkräfte nicht anderweitig im Schulbereich ein, beispielsweise für Arbeiten am Nachmittag?" Und weiter heißt es in diesem Brief: "Ein sinnvolles Personalkonzept und leistungsorientierte Bezahlung fehlen. Bei uns macht sich der Gedanke breit, es ist gar nicht gewollt, Kontinuität, die so wichtig ist, soll es nicht geben. Hieran muss man arbeiten, hier ist die Politik gefragt." Eine Grundschule aus Bad Berka: "Die Politik kann nicht alles richten, sollte aber unbedingt schnelle Konsequenzen aus dieser Tat ziehen. Das Kultusministerium muss umgehend für eine dem Realschulabschluss gleichende Prüfung in der 10. Klasse am Gymnasium sorgen. Die Klassenlehrertätigkeit an Schulen muss mehr unterstützt werden." und "Es kann nicht sein, dass sich Schulleitung und betreffende Eltern als Gesetzesbrecher fühlen müssen, weil die Schule unerlaubte Informationen auf Wunsch der Eltern über den volljährigen Schüler erteilt." Abschließend Zitate aus einem Brief eines Eisenacher Gymnasiums: "Nicht Gleichgültigkeit gegenüber bestehenden Problemen, vielmehr aktives Handeln sollte unser Leben bestimmen. Da wir diejenigen sind, die es betrifft, fordern wir Zwischenprüfungen am Ende der 10. Klasse, Änderung der Notengebung im Kurssystem." An einem konkreten Beispiel wird dann erläutert, wie die Thüringer Stundentafel mit dem Ziel manipuliert wird, Lehrerstellen einzusparen. Zu Denken geben sollte Ihnen, Herr Krapp, was die Lehrer, die Eltern und die Schüler über Ihr Auftreten formuliert haben - ich zitiere: "Das Bild, das unser Kultusminister Herr Krapp im Erfurter Gespräch vermittelte und seine Erklärungen erzeugen Wut und Scham."

Meine sehr verehrten Damen und Herren, genug der Auszüge aus den Briefen. Sie wissen genauso gut wie ich, ich könnte noch ein Dutzend anderer Auszüge danebenstellen. Halten wir fest: Die bildungspolitische Debatte in Thüringen läuft und wir sollten jetzt handeln, wo Handlungsbedarf besteht. Der Brief des Eisenacher Gymnasiums endet mit dem Satz: "Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun." Dem ist an Deutlichkeit nichts hinzuzufügen. Es gibt den Auftrag der Jugendlichen, der Eltern und der Lehrer an uns zu handeln, genau jetzt und nicht irgendwann. Beim Aufbau einer so verstandenen Bildungskultur wünsche und erwarte ich ausdrücklich, dass über den Tellerrand hinausgeschaut wird. Das permanente Verteidigen der jeweils eigenen Position, das wir hier alltäglich erleben, diese Verteidigung, die ein Infragestellen gerade in der Politik und der Pädagogik kaum noch zulässt, ist doch im wahrsten Sinne zerstörerisch. Deshalb sind wir bereit, in einer offenen Diskussion und ohne dogmatische Position eine derartige Bildungskultur gemeinsam mit allen Interessierten, vor allem aber mit den Schülern und den Eltern neu zu entwickeln.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war richtig, dass, was die Novellierung des Waffengesetzes betrifft, Thüringen den Vermittlungsausschuss im Bundesrat anruft bzw. anrufen wird. Wir müssen klar formulieren: Wir haben in Deutschland nicht nur ein Problem mit illegalen Waffen, wir haben auch ein Problem mit legalen Waffen. Was die illegalen Waffen betrifft, begrüße ich den Vorschlag aus Niedersachsen: Man sollte eine Monatsfrist einräumen, in der ohne Strafe die Möglichkeit besteht, die Waffen abzugeben. Danach muss der Besitz einer illegalen Waffe als Verbrechen gelten und unweigerlich zu einer Anklage führen. Ich sage an dieser Stelle auch: Es war richtig, die verdachtsunabhängigen Kontrollen in Thüringen einzuführen. Jede einzelne illegale Waffe, die dort eingezogen worden ist, ist richtigerweise aus privater Hand verschwunden. Was den Besitz von legalen Waffen betrifft, eine klare und deutliche Aussage: Waffen wie eine Pumpgun gehören prinzipiell nicht in den privaten Besitz, so wie grundsätzlich der private Besitz von Waffen nicht zur Regel, sondern zur Ausnahme gehören sollte. Ich verstehe an dieser Stelle den Widerspruch der Schützenund Schießsportvereine, weil man sie nicht für das verantwortlich machen kann, was in Erfurt geschehen ist. Aber ich bin davon überzeugt, Erfurt muss Folgen haben und diese Folgen werden auch die Schützen- und Schießsportvereine treffen. Es muss zukünftig schwerer sein, privat zum Waffenbesitz zu kommen - und das Gleiche gilt zumindest für großkalibrige Munition - und wir dürfen den Menschen erst später als mit dem 18. Lebensjahr die Möglichkeit einräumen, Waffen zu erwerben. Das ist weder das Ende für die Thüringer Schützenvereine noch das Ende für den Thüringer Schießsport. Es wird, das ist richtig, komplizierter, den Schießsport auszuüben, aber dazu stehen wir ausdrücklich. Die öffentliche Sicherheit ist das eindeutig höhere Gut.

Meine Damen und Herren, Nachdenkliches und viel Kluges ist nach dem schrecklichen Ereignis am Erfurter Gutenberg-Gymnasium gesagt worden. Wir Politiker haben die Möglichkeit, in vielen Veranstaltungen auch außerhalb des Thüringer Landtags für die Einhaltung von Werten und Normen zu werben. Wir können denjenigen Hilfsangebote machen, die sie brauchen. Insbesondere im Bildungsbereich sollten wir klare und deutliche Zeichen setzen, auch in die Richtung der Jugendlichen, die sich zu Tausenden zu einer Demonstration unter der Überschrift "Schrei nach Veränderung" zusammengefunden haben. Viele von ihnen sind das erste Mal auf die Straße gegangen, um für politische Ziele zu werben. Haben wir das nicht immer hier im Landtag gewollt? Natürlich friedlich und gewaltfrei. Und genau das haben die Jugendlichen getan. Es wäre ein nicht wieder gut zu machender Fehler, den Jugendlichen jetzt nicht klar und deutlich zu signalisieren: Ja, es gibt Dinge, da habt ihr Recht; ja und da handeln wir, und zwar unverzüglich.

Meine Damen und Herren, Pestalozzi hat einmal gesagt, wenn man einem Menschen den Weg verbaut, auf dem er gut sein wollte, dann wird er böse. Die Pestalozzistraße, meine Damen und Herren, führt unmittelbar am Gutenberg-Gymnasium vorbei. Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der CDU-Fraktion, Herr Abgeordneter Althaus.

Sehr verehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, das entsetzliche Verbrechen vor einem Monat am Erfurter Gutenberg-Gymnasium hat ganz Deutschland und weit darüber hinaus die Welt erschüttert. Ich möchte heute an diesem Tag erneut unsere tiefe Betroffenheit, die Betroffenheit der CDU-Fraktion, zum Ausdruck bringen. Wir trauern auch heute um die Toten und unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer. Unser Mitgefühl gilt auch den Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrerinnen und Lehrern des Gutenberg-Gymnasiums, den Polizisten und allen, die die entsetzliche Tat erlebt, die Freund und Freundin, Ehepartner, Ehepartnerin, Kinder, Lehrer und Kollegen verloren haben. Der Schmerz über diese entsetzliche Tat ist unermesslich und umso wertvoller ist der große Zusammenhalt zwischen Schülern, Lehrern und Eltern des Gutenberg-Gymnasiums, die Anteilnahme und die Unterstützung, die sie so zahlreich erfahren.

Die Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums kümmern sich trotz eigener Betroffenheit und auch eigener Verunsicherung mit aller Kraft um die Schülerinnen und Schüler. Ich denke, dafür gilt ihnen unser besonderer Dank. Dank gilt auch den zahlreichen Helfern, den Sicherheitskräften von Polizei und Feuerwehr und Krankensicherungsdienst, den

Seelsorgern, den Psychologen und den Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung, die seither auf vielfältige Art den Betroffenen in ihrer schwierigen Situation helfen.

Die Stadt Erfurt, allen voran Oberbürgermeister Manfred Ruge, hat mit Engagement und großer Sensibilität gehandelt. Das Rathaus als Ort der Begegnung für Schüler, Lehrer, Psychologen und Seelsorger ist zum Symbol für den besonderen Zusammenhalt in dieser Stadt geworden. Der Thüringer Landesregierung, im Besonderen Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel, danken wir ebenfalls für die große Umsicht, mit der gehandelt wurde. Es ist gut, dass den Angehörigen der Opfer unmittelbar und unbürokratisch Hilfen, auch finanzieller Art, zuteil wurden und werden.

Nach der Fassungslosigkeit, nach dem Entsetzen, nach der Trauer kommt verständlicherweise der Versuch, das Unerklärbare zu erklären, der Versuch, Irrationales rational nachzuvollziehen. Und zuweilen erleben wir auch den Versuch, die Schuldfrage zu klären. Die zum Teil kleinkarierte Debatte um Schulrecht und schulorganisatorische Fragen ist nach meiner Auffassung ein solcher Versuch. Diesen Weg werden wir, das will ich auch am heutigen Tag deutlich sagen, so nicht gehen, weil nach dieser Tat unangemessen wäre, den Eindruck zu vermitteln, als wären Schulrecht und Schulorganisationsfragen Ursache für eine solche Tat.

Warum bleiben wir nicht, so wie in den Reden der letzten Tage und Wochen, auch am heutigen Tag dabei, dass wir einmal eine grundsätzliche Debatte zu der Wertorientierung in dieser Gesellschaft führen und nicht gleich kleinlich ablenken auf die eine oder andere vielleicht auch bedeutendere rechtliche Konstruktion? Warum hören wir nicht zu, was die sagen, die als geistige Unterstützer in dieser Gesellschaft tätig sind? Und doch, so formulierte Bischof Wanke vor wenigen Tagen am Himmelfahrtstag: "Das Herz des Menschen ist ein Abgrund." Der Mensch definiert sich durch seine Freiheit als Mensch, diese Freiheit aber ist immer eine "Freiheit zum Guten", aber auch eine "Freiheit zum Bösen". Der Täter hat sich für Mord entschieden. Dies war keine Tat im Affekt, sondern die Folge einer bewussten Entscheidung und die Frage muss stehen, warum diese Entscheidung? Bischof Kähler hat beim Trauergottesdienst auf dem Domplatz ausgesprochen, was allzu wahr ist und uns Angst macht: "Mord beginnt im Herzen, unsichtbar, dann setzt er sich im Kopf fest. Der Mord beginnt in meinem und in deinem Herzen. Er beginnt mit der Wut, der Enttäuschung." Aber, müssen wir fragen, Wut und Enttäuschung verspüren doch tagtäglich Millionen von Menschen in Deutschland und weit darüber hinaus. Also bleibt die quälende Frage nach dem Warum. Sicher, diese Frage ist berechtigt und notwendig, aber sie darf uns weder lähmen noch zu allzu einfachen, scheinbar schlüssigen Antworten verleiten. Denn die Folge wäre uns vorzugaukeln, wir könnten nach Klärung der Verantwortungsfrage solche Taten gänzlich verhindern. Wir werden nie verhindern, dass jemand versagt, egal welche gesetzlichen Regelungen, wofür auch immer, wir haben.

Versagen und Enttäuschung sind zudem ein zutiefst subjektives Empfinden, das bei objektiv gleicher Lage von zwei Menschen unterschiedlich empfunden werden kann. Die entscheidende Frage, die sich uns stellt, lautet doch: Wie schaffen wir es, dass bei aller Enttäuschung, bei allem Frust, bei allem Schmerz, die ein Mensch empfindet, das Leben an sich unantastbar zu belassen? "Die Würde des Menschen ist unantastbar.", diese Formulierung wurde sehr bewusst als erster Satz in Artikel 1 des Grundgesetzes aufgenommen und hat Konsequenzen für die Handlungsfreiheit des Staates, aber, ich denke, auch für die Handlungsfreiheit jedes einzelnen Bürgers. Es ist eine Frage der Ehrfurcht vor dem Leben und damit auch der Ehrfurcht vor dem anderen Leben und dem eigenen Leben, wie wir mit dieser Würde im Einzelnen umgehen. Ich meine, dies ist die Dimension der Fragestellung, mit der wir uns befassen müssen. Dies sind wir auch den Opfern und ihren Angehörigen schuldig.

Noch einmal Bischof Kähler: "Prüfe sich jeder selbst und erspare sich nichts. Nur wer die Augen nicht vor sich selbst verschließt, kann anders handeln und mit anderen zusammen Leben gewinnen." Nicht von Rechtsfragen, sondern von einer sehr personalen Frage ist hier die Rede. Wie weit führt Freiheit und Individualität, die wir alle wertschätzen, zur Isolation? Es geht nach meiner Überzeugung deshalb um wirkliche Impulse für eine Kultur der Gemeinsamkeit und eine Bildungskultur. Dafür müssen wir die Wurzeln stärken und die Verantwortlichkeit dafür fordern und fördern.

In den letzten Tagen habe ich angeregt, die Kirchen könnten ein Forum für diese Reflexion und den notwendigen Dialog bieten. Mir ist bewusst, dass diese Diskussion grundsätzlich in der Demokratie und auch in ihren vielfältigen Institutionen geführt werden muss. Aber helfen nicht Räume und Gesprächspartner, die für einen Geist der Mitmenschlichkeit auch symbolhaft stehen? Ganz offensichtlich brauchen wir eine ernsthaftere gesellschaftliche Diskussion darüber, wie wir miteinander leben, welche Werte unsere Gesellschaft tragen und deshalb für uns persönlich wesentlich sein müssen. Der Verweis auf die allgemeine Diskussion bedeutet nicht, dass sich Politik aus der Verantwortung zieht, im Gegenteil, jeder muss in seinem Verantwortungsbereich Konsequenzen ziehen, auch die Politik, aber sie nicht allein. Wo entstehen Gewalt und Aggressivität, wo und wie entfalten sie sich scheinbar oder auch angeblich unerkannt? Wie werden wir aufmerksam, was tun wir? Fragen über Fragen; wir sollten uns vor schnellen bzw. allzu einfachen Antworten hüten. Für mich ist das Gespräch in den Familien, in den Schulen, am Arbeitsplatz, in den Vereinen und Verbänden, in der Politik das Entscheidende. Denn überall geht es darum, eine Kultur der Werteorientierung, der Achtung der Menschenwürde, der Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft, der Toleranz und des Respekts sowie der Aufmerksamkeit zu stärken. Übrigens, Bildungs- und Erziehungsziele, die als Herausforderung für die ganze Gesellschaft und nicht nur für die Schule stehen.

Wir brauchen ein Bündnis gegen Gewalt, das ist deutlich zu hören. Was meinen wir damit? Ein zu unterschreibendes Programm oder eine Aktion? Von mir aus, aber wichtiger ist für mich die Frage, dass jeder seine Verantwortung wahrnimmt. Wir müssen uns insbesondere mit den Ursachen von Gewaltentwicklung befassen und dort ansetzen. Noch einmal: Minderwertigkeitsgefühl, Frust und Aggression werden auch durch Gewalt kompensiert und sie lassen sich nie ganz vermeiden, aber wir müssen aufmerksamer werden und besser damit umgehen. Wir müssen uns auch fragen, warum davon vorrangig Jungen bzw. Männer in unserer Gesellschaft betroffen sind. Wichtig ist, dass wir Kindern und Jugendlichen mehr Aufmerksamkeit widmen, sie annehmen mit ihren Stärken und Schwächen, mit ihrer ganzen Persönlichkeit und ihren persönlichen Problemen. Jeder Mensch will im Grunde geliebt werden, will Wertschätzung erfahren und Achtung genießen. Das heißt, wir müssen die Chancen für erfolgreiche Entwicklung bei jedem erkennen und fördern, statt durch eine ständige Zeigefingererziehung positive Entwicklungschancen zu beeinträchtigen und Probleme ständig zu verstärken.

Gerade junge Menschen brauchen einerseits Verständnis und Rücksicht, aber auch klare Grenzen. Sie müssen lernen, ihre Stärken und Schwächen zu akzeptieren und Verantwortung für sich selbst und für andere, für Jüngere, für Gleichaltrige und Ältere zu übernehmen. Dazu muss ein familiäres, schulisches und gesellschaftliches Umfeld vorhanden sein, das dem Einzelnen hilft, wenn sich Probleme abzeichnen, das Warnsignale, die oft genug zugleich der Schrei nach Hilfe sind, wahrnimmt und sensibel darauf reagiert. Dies sind nach meiner Überzeugung wesentliche Voraussetzungen für eine Kultur der Gemeinsamkeit.

Zu unserer Kultur gehört auch ein gesundes Leistungsverständnis, nachdem jeder seine Fähigkeiten und Begabungen entfaltet und diese für sich und die Gemeinschaft einsetzen kann. Leistung hat in unserer Gesellschaft zu Recht einen hohen Wert und ich verstehe die Tendenz, Leistung und die Forderung nach ihr zu diskreditieren, nicht. Die Ergebnisse der PISA-Studie mahnen uns doch gerade zu mehr Konsequenz im Blick auf Leistung. Ein positives Leistungsverständnis und eine positive Leistungserfahrung stärken doch das Selbstwertgefühl junger Menschen. Zum Zweiten: Nur wenn wir Begabungen und Talente auch erkennen und gesondert fördern, sichern wir doch die Zukunftsfähigkeit unserer freiheitlichen, auf Wohlstand und Solidarität ausgerichteten Gesellschaft. Kinder und Jugendliche müssen aber auch lernen, mit Misserfolgen human umzugehen. Es ist wesentlich, dass Jugendliche für sich eine Zukunftsperspektive finden und eine positive Einstellung zu sich, zu ihrem unmittelbaren Umfeld und zu unserer Gesellschaft insgesamt entwickeln.

Vielfältige gesellschaftliche Sphären sind in diesem Zusammenhang zu besprechen. Aber es wäre fatal, wenn wir allzu schnell versuchen, das Prinzip des Schwarzen-PeterSpiels anzuwenden. Das Klima im Elternhaus ist, das ist schon deutlich angesprochen worden, entscheidend für

die kindliche Entwicklung. Eltern haben das Erziehungsrecht, sie haben aber auch die Erziehungspflicht. Sie tragen Verantwortung für das Kind und haben gerade in den prägendsten Jahren die entscheidende Vorbildfunktion, die sie selbst nicht unterschätzen dürfen. Wir müssen sie ermutigen und unterstützen, ihren Erziehungsauftrag umfassend wahrzunehmen. Bei der Kooperation mit Kindergärten bzw. Schulen muss es deshalb immer auch darum gehen, das Bewusstsein der Eltern für ihre Erziehungsaufgabe zu fördern und ihre Erziehungskompetenz zu stärken helfen. Eltern, die sich überfordert fühlen, müssen ausreichend Hilfe finden, wie sie schon im heutigen Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert ist. Wir sollten ihnen aber den Weg zu entsprechenden Beratungseinrichtungen erleichtern. Kinder, die Gewalt in der Familie erleben - Gewalt gegen Ehepartner, Gewalt gegen Kinder -, greifen später häufig auf Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung zurück. Das heißt, Gewalt darf in Familien und auch in übertrieben medialem Sinn keinen Platz haben.

Die Schule ist sich ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags bewusst. Bildung und Erziehung fallen im Übrigen bei einem Lehrer, der seine Profession versteht, nicht auseinander. Personale und soziale Fähigkeiten bedingen fachlicher und methodischer Fähigkeiten und Kenntnisse und umgekehrt. Diese unsägliche Diskussion der letzten Jahrzehnte - einmal Bildung, einmal Werteerziehung - hat auch dazu beigetragen, Missverständnisse entwickeln zu helfen. Bildung und Erziehung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Jeder, der bildet erzieht auch, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Jeder, der erzieht, muss bilden, weil sonst Erziehung keine Substanz hat.

Lehrkräfte müssen Schülerinnen und Schüler insbesondere gegen Gewalt und Mobbing sensibilisieren, sie aufmerksam machen und Konfliktlösungsstrategien aufzeigen und diese gemeinsam an den Schulen umsetzen. Dazu brauchen sie die Unterstützung der Gesellschaft, und zwar mehr als bisher, denn auch die Verunsicherung der Lehrerschaft hat zugenommen. Viele Lehrer fragen sich nach außen gerichtet doch sehr ernsthaft, was bin ich persönlich dieser Gesellschaft wert? Da geht es nicht um finanzielle Fragen, sondern um die vielfältigen Biertisch- und anderen Gespräche, die den Wert der Schule und den Wert der Pädagogen negativ beeinflussen. Wird mir vertraut? Wird meine Arbeit unterstützt? Wird mir etwas zugetraut oder Woche für Woche immer mehr zugemutet? Nach innen: Kann ich meinen Schülern noch vertrauen? Das hängt sehr eng mit der Frage Eltern und Schüler zusammen. Welche Risiken gehe ich in der Auseinandersetzung mit Schülern ein oder sollte ich diese lieber meiden? Schule lebt nach innen und nach außen, deshalb von einem Vertrauensverhältnis für das wir alle Verantwortung tragen.

Wir müssen die Arbeit der Lehrer wertschätzen und das heißt ausdrücklich nicht Kritiklosigkeit. Aber wenn wir - wir alle, Eltern und Lehrkräfte - die Erziehung als gemeinsamen Auftrag verstehen, dann müssen wir uns über pädagogische Leitlinien und konkrete Lösungen für Probleme

verständigen und wir müssen - was genauso wichtig ist uns achten und dies auch den Schülern gegenüber vermitteln.

Die Kooperation mit Schulpsychologen, Sozialpädagogen, Mitarbeitern der Jugendhilfe kann in Problemsituationen sicher hilfreich sein. Schüler, Lehrer und Eltern müssen sich kennen und sich auch besser erkennen. Sie müssen sich gegenseitig informieren, wenn sich ein Mitschüler isoliert. Sackgassenentwicklungen müssen rechtzeitig erkannt werden, sonst können innere Verzweiflung in Aggressionen umschlagen oder es können - was allzu häufig festzustellen ist - Miterzieher mit erheblich negativer Ausstrahlung an Einfluss gewinnen.

In diesen Tagen ist eine Diskussion auch über die Thüringer Schulabschlüsse entbrannt. Sie hat mit dem Verbrechen am Gutenberg-Gymnasium originär nichts zu tun. Die Frage nach Schulabschlüssen und Qualitätssicherung bzw. -verbesserung, auch der Bezug beider zueinander, erfordern eine grundlegende und vorurteilsfreie Diskussion. Das ist kein aktueller Auftrag, das gilt in einer sich dynamisch entwickelnden Gesellschaft immer. Dabei müssen wir die Stärken und Schwächen unseres Bildungssystems analysieren und die notwendigen Konsequenzen ziehen. Dazu sind wir bereit, aber nicht in der Kurzschlüssigkeit schnell gefundener Antworten. Das Stichwort Medien ist vielfach in den letzten Tagen und Wochen diskutiert worden. Natürlich, ein besonderes Problem ist die Darstellung von Gewalt in den Medien, im Fernsehen, in Videos, im Internet und in vielen Musiktexten. Gewaltdarstellungen sind leider viel zu selbstverständlich geworden, wobei für mich das eigentliche Problem nicht die Darstellungen sind, sondern die Verfügbarkeitspluralisierung und die Dynamik, die wir erschreckend feststellen. Gewalt wird häufig verherrlicht, als faszinierend dargestellt. Kinder und Jugendliche können aber zwischen Fiktion und Realität oft nur schwer unterscheiden. Die Hemmschwelle gegenüber Gewalt sinkt. Genau dies ist eine Gefahr vor allem für labile Kinder. Ich kenne die vielfältigen psychologischen Kompensationstheorien im Blick auf die Wirkung solcher Filme und Spiele. Verkennen wir aber nicht, die psychologische Forschung ist an dieser Stelle Jahrzehnte alt. Die Realität hat sich aber in den letzten acht Jahren erheblich verändert. Das World Wide Web mit all den Folgeentwicklungen ist eben erst seit wenigen Jahren so umfassend nutzbar. Die Eltern, ich würde sagen, alle Erwachsenen wissen häufig gar nicht, mit was sich die Kinder beschäftigen, und uns ist diese Welt weitgehend, auch sehr bewusst, verschlossen. Damit gehen die Kinder als Kommunikationspartner verloren. Sie leben zum Teil in einer anderen, einer virtuellen Welt. Mit Killerspielen reagieren sie sich nicht nur ab, sondern erlangen in so einer virtuellen Welt natürlich auch Fähigkeiten. Solche Fähigkeiten können auch gefährlich werden. Frank Schirrmacher, ein Mitherausgeber der FAZ, hat vor wenigen Tagen in Erfurt beim Dialog von der "Hass-Industrie" gesprochen, die sich bereits etabliert habe und erheblich profitiere.

"Hass-Industrie" und "Spaßgesellschaft", beides - nach meiner Überzeugung - pervertiert im Grunde unseren Anspruch auf Kultur. Die Bildungskultur und die Kultur der Gemeinsamkeit legt die Fundamente für eine verantwortliche Individualität, die nicht nur etwas mit Spaß zu tun hat, und eine verantwortliche Gemeinschaft. Deshalb fordern wir auch ein Verbot der Verbreitung Gewalt verherrlichender Videofilme, Killerspiele und Texte, auch wenn ich sofort die kritischen Stimmen - sehr zu Recht höre, dass doch Internationalität und Verfügbarkeit ein solches Verbot von vornherein ad absurdum führen.

Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, rechtliche Normen haben, und das ist guter Brauch, immer auch eine wesentliche erzieherische Aufgabe. Genau deshalb müssen wir gerade wegen der Globalisierung und der Internationalität dafür sorgen, dass auch zukünftig rechtliche Normen neben der konkreten juristischen Wirkung erzieherische Aufträge bewirken. Im Grundsatz geht es darum, den Begriff der Kultur, der auch Lesen und Reden umfasst, nicht auszuhöhlen, indem wir einer individuell ausgerichteten Spaßkultur das Wort reden und das Bild geben. Diese Tendenz, das Bild geben, dann noch Tag für Tag, tausendfach medialisiert, orientiert nach meiner Auffassung auf ein falsches Menschen- und Weltbild, ein Bild der Beliebigkeit, der Bindungslosigkeit und der individuellen Grenzenlosigkeit.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein kurzes Wort zum Waffenrecht: Mehrfach angesprochen, das Waffenrecht muss mit Blick auf den Waffen- und Munitionserwerb sowie deren Lagerung verschärft werden. Auch hier neben der konkreten rechtlichen Frage eine erzieherische Frage, es darf nicht sein, dass sich junge Menschen mit gefährlichen Waffen ausstatten und die dafür notwendige Munition horten können. Auch ist sicherzustellen, dass Schützen nicht im kampfmäßigen Schießen ausgebildet werden. Die Schützen- und Jagdvereine, da bin ich sicher, auch für Thüringen, handeln sehr verantwortlich, gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, und sie müssen in ihrer besonderen Verantwortung für ihre jungen Mitglieder auch weiter gestärkt und gefordert werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gut, dass wir als Fraktionen im Thüringer Landtag heute diese grundsätzliche Debatte führen und dadurch deutlich machen, dass wir bei allen Differenzen in der Tagespolitik in existenziellen Fragen unserer freiheitlichen Gesellschaft zusammenstehen und in der Lage sind, gemeinsame Positionen zu vertreten. Aber Politik muss auch kontrovers diskutieren. Man darf sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Wir dürfen aber auch, und das sind die Tage und Wochen, die hinter uns liegen, betroffen sein, Entsetzen zeigen und auch einmal in solchen Situationen sprachlos sein. Wir werden unseren politischen Auftrag zum Handeln erfüllen, aber - ich hoffe sehr - uns dabei nicht überfordern und nicht aktionistisch handeln. Die Schülersprecherin hat am Sonntag nach der Bluttat sehr deutlich gesagt, sie hofft, dass jetzt nicht Profilierung und Aktionismus folgen.

Die Art und Weise der politischen Auseinandersetzung, die sollte aber nach diesen Tagen eine andere Prägung haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, einige Äußerungen am heutigen Tag veranlassen mich auch, noch eines sehr deutlich zu sagen, von dem ich persönlich zutiefst überzeugt bin. Zerreden wir doch die Gott sei Dank erreichten Fortschritte der Freiheit nicht. Nach meiner festen Überzeugung war zu keiner Zeit der europäischen und deutschen Geschichte im Blick auf Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde ein so positiver Stand erreicht. Die Aufklärung, die Entwicklung der Gleichberechtigung, die Bildungsoffensiven über die letzten Jahrhunderte, insbesondere die letzten Jahrzehnte, und nicht zuletzt die Überwindung ideologisch orientierter und damit menschenverachtender Gesellschaftssysteme haben doch hervorragende personale und gesellschaftliche Ergebnisse gebracht. Eine ganz andere Frage drängt sich doch auf: Sind wir in der Lage, mit der Freiheit und dem Wohlstand so umzugehen, dass er für die Zukunft gesichert bleibt? Hier stellt sich die Frage für uns als in der Freiheit geborene und in der Freiheit lebende Gesellschaft. Das heißt, letztlich geht es um die Werte, die diese Gesellschaft tragen. Sie müssen gelebt werden und sie müssen erlebbar sein. Die Chancen der neuen Medien, der Internationalität, der Globalisierung müssen genutzt werden, um solche Werte auch stärker erlebbar zu machen. Gerade hier ist auch Politik gefragt, aber die vielen Miterzieher, die sich auch pluralisieren, ebenfalls. Die Kultur des fürsorglichen Miteinanders, die Kultur der Gemeinsamkeit und die Bildungskultur müssen gestärkt werden. Das ist das Entscheidende für die Weiterentwicklung unserer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft und ich meine, auch dafür steht Erfurt. Denn das Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft untereinander, das Zusammenrücken der Bevölkerung hat dafür beeindruckende Zeichen gesetzt. Diesen Weg müssen wir weitergehen.

(Beifall bei der CDU, SPD)

Ich schließe die Aussprache zur Regierungserklärung des Ministerpräsidenten "Der 26. April 2002 und die Konsequenzen". Inzwischen ist der Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU, PDS und SPD in der Drucksache 3/2451 verteilt worden. Wir kommen zur Abstimmung über diesen Entschließungsantrag. Wer diesem zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. Danke schön. Die Gegenstimmen bitte. Stimmenthaltungen? Es ist beides nicht der Fall und der Entschließungsantrag ist damit einstimmig angenommen.

(Beifall im Hause)

Ich schließe den Tagesordnungspunkt 1.

Ich komme zum Aufruf des Tagesordnungspunkts 2

a) Erstes Gesetz zur Änderung des Thüringer Sparkassengesetzes Gesetzentwurf der Landesregierung - Drucksache 3/2423 ERSTE BERATUNG

b) Thüringer Gesetz zu dem Staatsvertrag zur Änderung des Staatsvertrages über die Bildung einer gemeinsamen Sparkassenorganisation Hessen-Thüringen Gesetzentwurf der Landesregierung - Drucksache 3/2425 ERSTE BERATUNG

Frau Staatssekretärin Diezel nimmt die Begründung vor.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten, Ihnen liegen die Gesetzentwürfe zum Staatsvertrag Hessen-Thüringen und zum Thüringer Sparkassengesetz vor. Sie sind das Ergebnis schwieriger Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland mit der Europäischen Wettbewerbskommission.

Folgendes möchte ich Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen: Die privaten europäischen Bankenvereinigungen hatten Ende 1999 bei der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland Beschwerde erhoben. Inhalt der Beschwerde waren Anstaltslast und Gewährträgerhaftung. Die privaten Banken waren der Auffassung, dass dadurch den öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten, den Landesbanken und Sparkassen gegenüber den privaten Mitwettbewerbern unberechtigte Wettbewerbsvorteile entstehen. Anstaltslast und Gewährträgerhaftung sind bekanntlich seit Jahrzehnten tragende Wesensmerkmale der Sparkassen und Landesbanken. Gegenstand dieser beiden Regelungen sind Verpflichtungen für die Aufgabenerfüllung bzw. für die eventuelle Haftung der Träger der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute. Die Europäische Kommission hat sich bei der beihilferechtlichen Bewertung des Vorgangs den Argumenten der Europäischen Bankenvereinigung angeschlossen. Die Bundesregierung, die Ministerpräsidentenkonferenz, die Verbände der öffentlichen Kreditwirtschaft, insbesondere die Sparkassenorganisation und die kommunalen Spitzenverbände sind jedoch weiterhin der Auffassung, dass diese Sichtweise, die der Beschwerde zugrunde liegt, nicht zutrifft.

Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten, die Wettbewerbshüter sehen das deutsche Haftungssystem der öffentlich-rechtlichen Kreditwirtschaft als eine Beihilfe, die nicht mit dem EG-Vertrag vereinbar ist, denn, so die Kommission, die Haftung der Träger erhöhe die Kreditwürdigkeit der öffentlich-rechtlichen Institute. Damit verbessern sich auch ihre Finanzierungsbedingungen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten, es ist uns gelungen, eine langjährige Auseinandersetzung mit der EU, die letztlich vor dem Europäischen Gerichtshof gelandet wäre, zu vermeiden. Auch und gerade durch den persönlichen Einsatz des Ministerpräsidenten Vogel in den Gesprächen mit dem Wettbewerbskommissar Monti, durch das Mitwirken von Minister Trautvetter in der so genannten Koch-Weser-Kommission und der Arbeitsgruppe ist es gelungen, einen Kompromiss herbeizuführen. Am 17. Juli 2001 wurde die Verständigung über Anstaltslasten und Gewährträgerhaftung zwischen der EU-Kommission und der Bundesregierung erzielt, selbstverständlich unter Beteiligung der Länderregierung sowie von Vertretern und Verbänden.