Protocol of the Session on October 12, 2001

Vielen Dank. Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa ist gefordert! Die Diskussion am heutigen Tage hat es bereits deutlich gemacht. Die unfassbaren Terroranschläge in New York und Washington vom 11. September haben uns allen deutlich vor Augen geführt, wie fundamental die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind. Angesichts der schrecklichen Ereignisse vor einem Monat wird uns um so stärker bewusst: Europa ist gefordert als Wertegemeinschaft und als Integrationsgemeinschaft, als politische und wirtschaftliche Einheit.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben in ihrer gemeinsamen Erklärung zu den Attentaten betont: "Dieser schreckliche Terroranschlag ist auch ein Anschlag auf uns alle und damit auf unsere weltoffenen, demokratischen, multikulturellen und toleranten Gesellschaften." Europa ist mehr als eine geografische Bezeichnung. Europa ist Synonym für eine demokratische, pluralistische und rechtsstaatliche Gesellschaftsordnung, für die Achtung und Einhaltung von Grund- und Menschenrechten, den Schutz von Minderheiten und für ein Modell einer sozialen, offenen und toleranten Gesellschaftsordnung. Die Anschläge haben uns deutlich vor Augen geführt, wir müssen täglich für diese Werte einstehen und sie verteidigen. Die Landesregierung stellt sich dieser Aufgabe.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war und es ist die Grundidee der europäischen Integrationspolitik, auf der Grundlage gemeinsamer Werte die Einigung des europäischen Kontinents zu erreichen, um Frieden und Wohlstand für alle Völker in Europa zu sichern. Das Projekt Europa bleibt eine stetige Herausforderung! Europa, das ist kein statisches Eliteprojekt. Europa ist ein dynamischer Prozess, Europa ist vor allem gelebter europäischer Alltag. Stillstand würde auch hier, wie in fast allen Lebensbereichen, Rückschritt bedeuten. Anstehenden Herausforderungen muss aktiv und auf allen Ebenen begegnet werden. Nur so kann die europäische Gesellschaft ihre am Grundsatz der Subsidiarität orientierte lenkende Rolle einnehmen. Die Weiterentwicklung der Europäischen Union ist deshalb von besonderer Bedeutung und bleibt Aufgabe aller Akteure auf allen Ebenen, angefangen bei der Bundesregierung, dem Bundestag, dem Bundesrat, den Landesregierungen und den Landtagen. Dabei sind verschiedene Aspekte zu beachten und miteinander zu vereinen. Die Erweiterung der Europäischen Union um ostmittel- und südosteuropäische Mitglieder; die Sicherung der Handlungsfähigkeit, der Entwicklungsfähigkeit und der Effizienz dieser erweiterten EU; die Finanzierbarkeit der EU mit einer gerechten Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten; die Transparenz und die demokratische Legitimation der Entscheidungen und der Institutionen; die Rücksichtnahme auf nationale und regionale Besonderheiten; die Subsidiarität und die klare Zuordnung der Verantwortlichkeit für politische Entscheidungen und schließlich die Ver

mittlung europäischer Entscheidungen an den Bürger und die Zustimmung der Bürger für den Integrationsprozess.

Die Erweiterung der Europäischen Union um Staaten Ostmittel- und Südosteuropas ist wohl die größte Herausforderung, die sich die EU selbst gestellt hat. Die Aufnahme von 12 Kandidaten, die ein immenses Wohlstandsgefälle zu den heutigen EU-Mitgliedstaaten aufweisen, die an eine durch politische Instabilität gekennzeichnete Region angrenzen, deren politische Systeme nicht immer die gleiche Stabilität und Kontinuität aufweisen, wie dies innerhalb der EU bislang der Fall war, die Integration dieser Kandidaten ist eine enorme Aufgabe. Aber sie ist ohne Alternative und eine politische, wirtschaftliche, historische und kulturelle Notwendigkeit. Sie bietet die Chance zur langfristigen Garantie von Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand in ganz Europa und ist damit eine Investition in die Stabilität unseres Kontinents. Die Beitrittsverhandlungen machen gute Fortschritte. In diesem Jahr konnten in einigen schwierigen Verhandlungsfeldern wichtige Durchbrüche erreicht werden, z.B. im Bereich der Umweltpolitik, der Personenfreizügigkeit und des freien Kapitalverkehrs. Die insbesondere von der schwedischen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2001 vorgelegte Dynamik ist die richtige Strategie, um den schwierigen Verhandlungsprozess abzuschließen. Die Landesregierung tritt für die zügige Erweiterung der Europäischen Union ein, sie ist fraglos eine politische Notwendigkeit. Aber die Landesregierung steht auch dafür ein, Sorgfalt und Qualität vor übereiltem Handeln walten zu lassen. Die Beitrittsverhandlungen müssen der Prämisse folgen: Dynamik und Qualität. In den Verhandlungen steht der gemeinschaftliche Besitzstand, der so genannte acquis, nicht zur Disposition, das heißt, der beitretende Staat muss das gesamte Gemeinschaftsrecht, das zum Zeitpunkt des jeweiligen Beitritts gültig ist, übernehmen und beachten. Es darf keine Ausnahmen vom europäischen Recht innerhalb der Europäischen Union geben. Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft; in ihr darf es keine dauerhaft unterschiedlichen Rechtsräume geben. Dass die Übernahme und die Ausführung des europäischen Gemeinschaftsrechts nicht von einem Tag auf den anderen zu bewerkstelligen ist und zum Teil mit hohen Kosten verbunden ist, dessen sind wir uns angesichts unserer eigenen Erfahrungen sehr wohl bewusst. Dennoch darf es in den Beitrittsverhandlungen nicht um dauerhafte Ausnahmeregelungen gehen. Es kann nur um Übergangsregelungen gehen. Solche Übergangsregelungen hat es im Übrigen bisher bei allen Erweiterungen der Europäischen Union gegeben. Sie stellen also kein Novum oder gar eine Ausnahme dar. Maßvolle Übergangsregelungen im Interesse der Beitrittsländer, aber auch im Interesse der gegenwärtigen Mitgliedstaaten werden notwendig sein. Sie liegen im berechtigten beiderseitigen Interesse. Sie müssen sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht differenziert und auf das notwendige Maß beschränkt bleiben. Die Erweiterung darf eben nicht dazu führen, dass der erreichte Integrationsstand nicht innerhalb der EU überall und gleichermaßen angewandt wird; dies könnte zum Beispiel mit Blick auf

den europäischen Binnenmarkt zu dauerhaften Verwerfungen und nachhaltigen Wettbewerbsverzerrungen führen. Auch die Auswirkungen, insbesondere auf Gesundheit, Sicherheit, Umwelt, Verbraucher- und Arbeitsschutz sowie auf die Rechte der Bürgerinnen und Bürger müssen bei den Verhandlungen über Übergangsregelungen berücksichtigt werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Landesregierung erkennt ausdrücklich die großen Anstrengungen der Beitrittsländer an, so schnell und so umfassend wie möglich die geforderten Beitrittskriterien zu erfüllen. Sie bietet den Ländern im Rahmen ihrer Möglichkeit ihre Unterstützung an. Ministerpräsident Dr. Vogel hat in seiner Rede am 18. Mai 2001 vor diesem hohen Haus zu den Thüringer Regionalpartnerschaften die Prämisse der Politik der Thüringer Landesregierung formuliert. Ich zitiere: "Unseren östlichen Nachbarn auf dem Fundament eigener Erfahrungen praktische Hilfe auf dem Weg in die Europäische Union geben." Die Landesregierung engagiert sich im Rahmen der vorhandenen Programme der EU, z.B. des Phare-Twinning-Programms, bei dem nationale Experten in den Verwaltungen der Beitrittsländer ihre Erfahrungen bei der Umsetzung von europäischem Recht weitergeben. Diese Beratungs- und Trainingsmaßnahmen sollen den Beitrittsländern helfen, die Voraussetzungen für die Erfüllung der EU-Standards und damit die Beitrittsfähigkeit zu schaffen. Daneben haben wir auch unsere eigenständigen Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen der bilateralen Kontakte zu den Beitrittsländern weiter ausgebaut. Mit der Republik Ungarn verbindet uns seit 1995 eine sehr enge und intensive Partnerschaft, die den Rahmen bildet für vielfältige Kontakte und Projekte auf allen Ebenen. Besonders wichtig ist uns, die Woiwodschaft Kleinpolen bei ihrer Vorbereitung zum Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union zu unterstützen.

(Beifall bei der CDU)

Ich selbst habe bei meinem letzten Besuch in Krakau im April dieses Jahres unseren polnischen Freunden versichert, dass wir ihnen mit Rat und Tat zur Verfügung stehen. Dazu zählt neben der Förderung der politischen und wirtschaftlichen Kontakte auch die Förderung der gesellschaftlichen Kontakte: Die beiden Flutwasserkatastrophen in Polen 1997 und in diesem Jahr haben eine Welle der Hilfsbereitschaft in Thüringen für die Partnerregion Malopolska ausgelöst. Dafür möchte ich an dieser Stelle nochmals ausdrücklich meinen Dank an die Thüringer Bevölkerung richten.

(Beifall bei der CDU)

Die Partnerschaft ist tief bei allen Thüringerinnen und Thüringern verwurzelt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erweiterung bietet konkrete ökonomische Chancen. Die Auswei

tung und Intensivierung der europäischen Arbeitsteilung nach Osten bringt beiden Seiten, das heißt sowohl der jetzigen Europäischen Union als auch den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas, nach aller Erfahrung per Saldo beträchtliche ökonomische Wohlstandsgewinne. Davon werden auch die Unternehmen in Thüringen profitieren. Thüringen verfügt traditionell über intensive Handelsbeziehungen zu verschiedenen Kandidatenländern, die sich im Zuge der Erweiterung noch weiter verbessern dürften. Die wichtigsten Handelspartner Thüringens in Ostmitteleuropa sind Polen, Tschechien und Ungarn. Die Handelsbeziehungen zu diesen Staaten bewegen sich bereits auf einem hohen Niveau und erreichen teilweise beträchtliche Zuwachsraten. Im I. Quartal 2001 stiegen die Warenlieferungen aus Thüringen jeweils um über 50 Prozent in die Tschechische Republik, nach Polen und nach Ungarn. Damit werden auch Arbeitsplätze in Thüringen gesichert. Wir erwarten, dass sich die Handelsbeziehungen Thüringens zu den Beitrittsstaaten nach deren EU-Beitritt mittelfristig noch weiter verbessern und erweitern werden. Dabei wird sich insbesondere die zentrale geographische Lage Thüringens im neu entstehenden Binnenmarkt positiv auswirken. Die Landesregierung fördert mit flankierenden Maßnahmen die intensiven Beziehungen der Thüringer Unternehmen, insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, mit Unternehmen in den Nachbarregionen Ostmittel- und Südosteuropas. Wir wollen die Chancen der Erweiterung des europäischen Binnenmarktes zum Vorteil für unsere Unternehmen nutzen. Als ein Beispiel für ein bewährtes Instrument zur Unterstützung der Unternehmenszusammenarbeit greife ich die erfolgreichen Thüringisch-Polnischen Wirtschaftstage heraus. Bei den regelmäßigen Treffen mit den Repräsentanten aus unseren Partnerregionen aus den Beitrittsländern - der Woiwodschaft Kleinpolen und der Republik Ungarn - sind Maßnahmen zur Anbahnung von Unternehmenskontakten stets ein vorrangiges Thema. Aufzuzählen sind die Unterstützung für Messeteilnahmen, Kooperationsprojekte und Kooperationsbörsen, branchenbezogene Firmenpools und Bietergemeinschaften. Der Freistaat Thüringen, die Thüringer Unternehmen und die Thüringer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden von diesen großen Chancen des Erweiterungsprozesses der Europäischen Union profitieren. Thüringen rückt von der Mitte Deutschlands ins Zentrum der erweiterten Union. Diese Lage ist ein natürlicher Standortvorteil, den es zu nutzen gilt. Gerade die zentrale Lage Thüringens bedeutet zugleich, dass wir uns auf die Herausforderungen, die zweifellos mit der Erweiterung verbunden sind, vorbereiten müssen. In Teilen der Bevölkerung besteht die Sorge vor einem Anstieg der Kriminalität infolge der EU-Osterweiterung. Im letzten Jahr hat die Landesregierung erstmals ein umfassendes Lagebild für den Bereich der organisierten Kriminalität in Thüringen erstellt. Die ausgewerteten Daten ließen keine überdurchschnittliche Zunahme von Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität von Angehörigen aus den Beitrittsländern erkennen. Dennoch wird die Landesregierung die Entwicklung in diesem sensiblen Bereich der inneren Sicherheit weiterhin intensiv beobachten. Nicht die Aufnahme der

mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union ist Anlass zu gesteigerter Aufmerksamkeit. Vielmehr sind gerade die Verpflichtung der Beitrittsländer im Rahmen der Beitrittsverhandlungen auf hohe Standards für die Strafverfolgungsbehörden, die Sicherung ihrer Grenzen nach Osteuropa und die Ausstattung der Justiz Garanten für mehr Sicherheit in Europa. Die Erfüllung der Beitrittskriterien stellt hohe Ansprüche an die Strafverfolgungsbehörden in den künftigen Mitgliedstaaten, um allen herkömmlichen sowie den sich neu herausbildenden Formen der organisierten Kriminalität wirksam begegnen zu können. Die Landesregierung wird wie bisher der Bekämpfung der organisierten Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen größtes Gewicht beimessen. Ich erinnere daran, bereits 1993 wurden in Thüringen bei allen Staatsanwaltschaften Sonderdezernate eingerichtet; seit 1998 werden alle so genannten OK-Verfahren durch eine bei der Staatsanwaltschaft Gera eingerichtete Schwerpunktabteilung bearbeitet. Die Landesregierung wird gemeinsam mit der Niedersächsischen Landesregierung und der Europäischen Kommission bereits im Frühjahr des kommenden Jahres in Teistungen eine europäische Sicherheitskonferenz zum Thema "Die Osterweiterung und die Sicherheit für Bürger und Wirtschaft durch die Europäische Union" durchführen. Hierbei steht im Mittelpunkt der Erörterung mit den Beitrittskandidaten Polen, Tschechien und Ungarn das Thema "Europa als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes".

Zu den Strukturfonds, meine sehr verehrten Damen und Herren: Bei aller Dynamik, die die Beitrittsverhandlungen in diesem Jahr unter schwedischer und belgischer Ratspräsidentschaft erfahren haben, bei allen Fortschritten, die wir in wichtigen sensiblen Bereichen erzielen konnten, schwierige Kapitel liegen noch vor uns. Im Jahre 2002 wird über die Landwirtschaft und die Regionalpolitik zu verhandeln sein. Von der Erweiterung geht ein starker Druck aus, die finanziellen Grundlagen der Europäischen Union zu überdenken und anzupassen, insbesondere im Bereich der europäischen Strukturpolitik. Gerade die Aufnahme von Staaten, die zum Teil nur über 30 Prozent des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts im Vergleich zum EUDurchschnitt verfügen, wirft die Frage nach der Zukunft der Strukturfonds auf, denn ein Kennzeichen und ein Grundprinzip des europäischen Integrationsprozesses ist auch die Solidarität und die Kohäsion. Wir in Thüringen haben diese Solidarität erfahren. Für die laufende Förderperiode von 2000 bis 2006 wurden rund 5,6 Mrd. DM als so genannte Ziel-1-Hilfen in den EU-Haushalt für Thüringen eingestellt. Doch nun muss für den Zeitraum 2007 bis 2013 ein gerechter Ausgleich für die derzeitigen Ziel-1-Fördergebiete, also die "Regionen mit Entwicklungsrückstand" in den derzeitigen EU-Mitgliedstaaten, und den neu hinzukommenden Regionen gefunden werden. Die allseits anerkannte Notwendigkeit des großen wirtschaftlichen und strukturellen Nachholbedarfs der MOE-Staaten darf nicht zu einem abrupten Abbrechen der Förderung in den gegenwärtigen Ziel-1-Regionen führen. Hier müssen Kompensationen, Übergangs

regelungen und Auslaufmodelle entwickelt werden. Die ostdeutschen Länder werden mit dem Beitritt der noch ärmeren Nachbarn aus Ostmittel- und Südosteuropa nicht automatisch reicher. Sie fallen nur statistisch gesehen aus der europäischen Förderkulisse. Also: wir werden nur statistisch reicher. Die Europäische Kommission hat die Diskussion um die künftige Ausgestaltung der europäischen Kohäsionspolitik, deren wichtigster Bestandteil die Strukturpolitik ist, eingeleitet. Mit der Vorlage ihres zweiten Berichts über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der Europäischen Union Ende Januar 2001 hat sie eine Reihe von Schlussfolgerungen und Empfehlungen vorgelegt. Auch nach 2006 und nach der Aufnahme der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten in die EU wird es in den neuen Ländern noch erhebliche Strukturprobleme und einen großen Nachholbedarf geben. Die Thüringer Landesregierung geht davon aus, dass Thüringen auch noch im Jahr 2007 zu den Regionen in der Europäischen Union mit Entwicklungsproblemen gehören wird. Deshalb muss auch über das Jahr 2006 hinaus die spezifische Situation, müssen die noch bestehenden Entwicklungsdefizite Thüringens angemessen berücksichtigt werden. Dabei hat die Landesregierung selbstverständlich auch die notwendigen Querverbindungen zum Solidarpakt II hergestellt. Neben der EU wird dabei auch der Bund gefordert sein. Hierüber gibt es einen großen Konsens im Kreise aller ostdeutschen Länder. Die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder haben bereits bei ihrer Konferenz am 28. März dieses Jahres in Berlin die Bundesregierung aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass in der zukünftigen EU-Strukturpolitik über das Jahr 2006 hinaus die Situation Ostdeutschlands berücksichtigt wird.

Zur Vertiefung, meine Damen und Herren: Die größte Erweiterung, die sich die EU je vorgenommen hat, muss im Einklang mit dem erreichten Integrationsstand stehen. Gerade der einzigartige Erfolg macht die EU so attraktiv für die europäischen Nationen, die noch nicht Mitglied im "Stabilitäts- und Wohlstandsclub" sind. Dieser Erfolg besteht in der Integration und Kooperation auf nunmehr fast allen Politikfeldern. Immer mehr Bereiche haben heute eine europäische Dimension erhalten. Nur so können die EU-Mitgliedstaaten den Anforderungen der Globalisierung begegnen.

Andererseits hat die Globalisierung ebenso wie die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes und die europäische Währungsunion die Bedeutung regionaler Wirtschafts- und Strukturpolitik erhöht. Gerade die Länder und Regionen stehen heute in einem scharfen europäischen Wettbewerb um Wachstum und Beschäftigung. Beides gehört zusammen - europäische Regelungen und regionaler Gestaltungsspielraum! Auch von der bevorstehenden Erweiterung wird ein starker Druck in Richtung auf eine weitere Vertiefung der Europäischen Union ausgehen. Der Status quo und das institutionelle Gefüge, das zunächst für eine Gemeinschaft mit sechs Mitgliedern konzipiert war, wird sich verändern und für eine Union mit

mehr als 25 Mitgliedern angepasst werden. Der Status quo wird sich verändern müssen, um die Handlungsfähigkeit der EU und damit das "Projekt Europa" zu sichern. Überragendes Ziel der letzten Regierungskonferenz war es deshalb, die Europäische Union bis Ende 2002 erweiterungsfähig zu machen. Der Vertrag von Nizza sollte die hierfür notwendigen Reformen vornehmen. Allerdings kann ich für die Landesregierung feststellen: Eine umfassende Reform für eine erweiterte Europäische Union ist mit dem Vertrag von Nizza noch nicht gelungen. Deshalb ist die im Vertrag von Nizza verankerte Fortsetzung des EU-Reformprozesses von überragender Bedeutung. Für die deutschen Länder war diese Mandatierung einer Folgekonferenz, der so genannte Post-Nizza-Prozess, zur Kompetenzabgrenzung von herausragender Bedeutung. Kompetenzabgrenzung wurde bisher mit dem Begriff der Renationalisierung gleichgesetzt und damit tabuisiert. Erst als auch der Bundesaußenminister mit seiner Rede an der Humboldt-Universität die Forderung der Länder aufgenommen hat, konnte dieses Tabu aufgebrochen werden. Eine verbindliche Kompetenzabgrenzung steht seitdem auf der Agenda der deutschen Europapolitik. Aufgabe der Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses muss die Formulierung eines europäischen Verfassungsvertrages sein. Dies kann nur durch eine Konzentration der Europäischen Union auf die Aufgaben gelingen, die wirkliche europäische Aufgaben sind. Dazu gehören die europäischen Erfolgsprojekte wie der europäische Binnenmarkt und die Garantie der Marktfreiheiten, die Wirtschafts- und Währungsunion und die Stabilität des Euro. Dazu gehört auch eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Mitgliedstaaten, eine abgestimmte Asyl- und Flüchtlingspolitik und die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. Nach der Einführung des Euro muss die EU die Aufgabe übernehmen, zu Fragen der Weltwirtschaft für alle Europäer zu sprechen. Der Weg der Europäisierung und Vergemeinschaftung ganzer Politikbereiche ist an seine Grenzen gestoßen. Nun muss verbindlich geklärt werden, welche Ebene für welche Frage und für die Lösung welcher Probleme zuständig ist. Nur diese Klarstellung bewirkt, dass für den Bürger transparent wird, welches Anliegen er auf welcher Ebene vorbringen und von welcher Ebene er eine Lösung erwarten kann und darf. Die Prinzipien, die nach unseren Vorstellungen die Reformüberlegungen für eine bessere Kompetenzordnung bestimmen sollten, sind: Transparenz und Subsidiarität. Das europäische Vertragswerk ist zu kompliziert und selbst von Fachleuten nur schwer zu überblicken und zu verstehen. Das Vertragswerk muss deshalb klar, möglichst kurz und verständlich werden. Vorrangiges Ordnungsprinzip muss das der Subsidiarität sein. Im europäischen Vertragswerk muss das Verhältnis zwischen Europäischer Union und den Mitgliedstaaten klar und verbindlich geregelt werden. Dabei werden wir darauf zu achten haben, dass die Abgrenzung der Kompetenzen so flexibel zu gestalten ist, dass die EU zukunftsfähig bleibt. Die Kompetenzordnung der EU muss systematischer und transparenter werden. Die Europäische Union darf nur auf der Grund

lage eindeutig definierter Kompetenzen tätig werden und nicht aufgrund allgemeiner Aufgabenzuweisungen, wie es derzeit noch der Fall ist. Nach unseren Vorstellungen könnte eine bessere Systematisierung der Kompetenzen durch eine Einteilung in verschiedene Kategorien, wie z.B. ausschließliche EU-Kompetenzen, Grundsatzkompetenzen und Ergänzungskompetenzen der EU erreicht werden. So soll einer schleichenden Kompetenzausweitung zugunsten der Europäischen Union vorgebeugt werden. Die Landesregierung tritt dafür ein, auch die Formen, in denen die EU ihre Ziele verfolgt, auf einige wenige zu begrenzen, denn wie die EU tätig wird, z.B. ob sie, wie es im Vertrag an verschiedenen Stellen heißt, harmonisiert, koordiniert, fördert oder nur unterstützt, beeinflusst im hohen Maße die Folgen für unsere Handlungsspielräume. Bisher gibt es einen Wildwuchs von Handlungsformen, das jüngste Negativbeispiel ist die Methode der "offenen Koordinierung". Diese Methode ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie der EU Zuständigkeiten zuwachsen sollen, die nicht im Vertrag vorgesehen sind. Da treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU und diskutieren zunächst darüber, wie in den einzelnen Mitgliedstaaten auf die Herausforderungen der Arbeitslosigkeit, des Fortbestandes der sozialen Sicherungssysteme oder im Bildungsbereich reagiert werden kann. Eigentlich ein guter Ansatz, der von der Landesregierung unterstützt werden könnte. Allerdings werden in der Folge verstärkt Leitlinien zu verschiedenen Themen verabschiedet, die quantitative Zielvorgaben beinhalten und die die EU-Mitgliedstaaten dann erfüllen müssen. Der Weg der offenen Koordinierung führt also von einem an sich guten Ansatz hin zur Festlegung von qualitativen und quantitativen Standards. Aus politischen Zielvorgaben werden so zunehmend Instrumente der Kommission zur Koordinierung. Dies führt zu einer zunehmenden Einschränkung nationaler und regionaler Handlungsspielräume. Der luxemburgische Premierminister Juncker hat dieses "System" einmal sehr anschaulich wie folgt beschrieben: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht alles, was richtig und sinnvoll ist, muss auf europäischer Ebene geregelt werden. Fragen der Schulorganisation oder der Höhe und Art von Schulabschlüssen, wie sie der Europäische Rat von Lissabon behandelt hat, sind doch wahrlich keine europäischen Fragen. Die Diskussion über eine klare Kompetenzordnung ist zugleich eine Diskussion über die innere Ordnung der EU, das heißt, die Diskussion über die Kompetenzordnung ist zugleich eine Diskussion über eine neue europäische Verfasstheit. Mittelfristiges Ziel der institutionellen Reformen sollte sein, die Leitungs- und Verwaltungsaufgaben, die gegenwärtig noch zwischen Rat und Kommission aufgeteilt werden, in einer einzigen europäischen Exekutive, z.B. einer reformierten Kommission,

zu bündeln. Dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat kämen dann als demokratisch legitimierten Gremien die Kontrolle der Exekutive zu. Dabei wird die Rolle des Kommissionspräsidenten weiter zu stärken sein. Zu diskutieren wären in diesem Zusammenhang auch die verschiedentlich geäußerten Überlegungen, den Kommissionspräsidenten in einer europäischen Direktwahl zu wählen. Das Subsidiaritätsprinzip ist in dieser Diskussion mehr als ein Organisationsprinzip, es ist eine unverzichtbare Bedingung der demokratischen Legitimation und Transparenz. Die Europäische Union kann die europäischen Nationalstaaten nicht ersetzen. Es darf deshalb kein Zweifel aufkommen: Europa wird auch künftig ein Europa der Nationen und der Nationalstaaten sein.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Erfolg eines Projekts wird stets von der Qualität seiner Vorbereitung bestimmt. Basierend auf meinen Erfahrungen als Vertreter des Bundesrats im EU-Konvent zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte habe ich mich für ein modifiziertes Konventverfahren zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 eingesetzt und ein eigenes Modell vorgeschlagen. In einem Thüringer Diskussionspapier haben wir konkrete Verbesserungsvorschläge gemacht, wie die Arbeiten in einem Konvent effizienter gestaltet werden könnten. Die Konventmethode vereint grundsätzlich die Prämissen der Transparenz, der Öffentlichkeit und der demokratischen Legitimation mit der Notwendigkeit, die Effizienz der Arbeiten und Sachkompetenz der Beteiligten zu garantieren. Nach der prinzipiellen Einigung der EU-Außenminister über die Einberufung eines Konvents am 4. September im belgischen Geneval haben sie sich Anfang dieser Woche über Details der Arbeit des Konvents verständigt. Wenn auch diese Einigung noch eines formellen Beschlusses des Europäischen Rates bedarf, so wird doch klar, dass der Konvent aus 15 Mitgliedern der Regierungen, 16 Vertretern des Europäischen Parlaments, 30 Abgeordneten der nationalen Parlamente und einem Mitglied der Kommission bestehen wird. Vertreter des Ausschusses der Regionen und des Wirtschaftsund Sozialausschusses werden als Beobachter teilnehmen, beteiligt werden zudem die Kandidatenländer. Der Konvent soll seine Arbeit im ersten Halbjahr des kommenden Jahres aufnehmen und Optionen für die Regierungskonferenz erarbeiten, die dann entsprechend den europäischen Verträgen über den Abschluss des Reformvorhabens beschließen muss.

Zur Akzeptanz und Öffentlichkeitsarbeit: Die wachsende Dynamik, Komplexität und Qualität des europäischen Integrationsprozesses stellen auch künftig kontinuierlich steigende Anforderungen an die europapolitische Kompetenz und Erfahrung der Landesverwaltung. Europapolitik gewinnt mehr und mehr den Charakter europäischer Innenpolitik. Der direkte Einfluss von Entscheidungen, die in Brüssel getroffen werden, auf die Landesregierung wird immer stärker spürbar. Für die Landesregierung kommt es deshalb darauf an, durch permanente Präsenz und Kompetenz in den europapolitischen Diskussions

und Entscheidungsprozessen die eigenen Ziele und Interessen deutlich zu machen und durchzusetzen. Die Thüringer Bürgerinnen und Bürger sowie die Thüringer Unternehmen erwarten, dass ihre Anliegen und Interessen auf europäischer Ebene kompetent vertreten werden. Zugleich erwarten sie aber auch, dass europäische Politik, dass "Europa" verständlich ist. Europa wird auf Dauer nur stabil sein, wenn es akzeptiert wird. Die diffusen Ängste der Dänen, die im letzten Jahr zum zweiten Mal in einem Referendum den Beitritt zur Eurozone abgelehnt haben, und der Iren, die im Frühjahr den Vertrag von Nizza abgelehnt haben, sind ein deutliches Warnsignal. Das europäische Integrationsprojekt darf nicht am Bürger vorbei entwickelt werden. Es muss dem Bürger vermittelbar und verständlich sein. Es muss uns zu denken geben, wenn die Zustimmung zur Mitgliedschaft in der EU europaweit unter die 50-Prozent-Marke gesunken ist, wenn in Deutschland nur 41 Prozent der deutschen Bevölkerung meinen, dass die Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der EU eine gute Sache sei und nur 37 Prozent Vorteile in einer EU-Mitgliedschaft erkennen. Europa, der Integrationsprozess und die Europäische Union müssen als Chance - auch als individuelle Chance - dem Bürger vermittelt und begreifbar gemacht werden. Die EU ist an einem Punkt angelangt, an dem das vermeintliche Eliteprojekt wieder als Bürgerprojekt erkannt werden muss. Jean Monnet hat zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses einmal gesagt: "Wir vereinigen Menschen, nicht Staaten." Dies muss die Grundlage allen Handelns der EU sein. Die Thüringer Landesregierung stellt sich dieser Aufgabe. Die Akzeptanz beginnt bei der Vermittlung und ihre Vermittlung beginnt bereits in der Schule. Über die Lehrerfortbildung, die Schulung der Multiplikatoren in der Jugendarbeit und in der Erwachsenenbildung sollen möglichst viele Zielgruppen informiert und angesprochen werden. So werden aktuelle europapolitische Themen auch im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Landesregierung "Jugend trifft Politik" verstärkt diskutiert und im Internetangebot der Thüringer Staatskanzlei aufgegriffen. Über die Europaförderrichtlinie unterstützt die Landesregierung die Aktivitäten von Verbänden, Vereinen und Schulen, die zur Förderung des Europagedankens und zur Völkerverständigung, zum Jugendaustausch und zum Kennenlernen der Partnerregionen beitragen. Im Jahr 2000 konnten 73 und im Jahr 2001 70 Anträge gefördert werden. Die Thüringer Landesregierung erachtet die europapolitische Öffentlichkeitsarbeit als ein unverzichtbares Instrument zur Vermittlung europäischer Politik in der Bevölkerung sowie als gemeinsame Aufgabe von EU-Institutionen, Bund und Ländern. Auch ich habe daher gefordert, dass die Europäische Kommission im Rahmen ihrer neuen Informations- und Kommunikationspolitik zukünftig enger mit den Ländern zusammenarbeitet. Wir erwarten hierbei die Berücksichtigung der grundlegenden Anliegen der Länder in der Praxis der Zusammenarbeit bei der Organisation und Durchführung der Informationskampagne zur Erweiterung der Europäischen Union. Einen besonderen Schwerpunkt unserer europapolitischen Öffentlichkeitsarbeit bildet die alljährlich im

Mai durchgeführte Europawoche, an der sich alle Ministerien und eine Vielzahl von Verbänden und Interessengruppen und auch der Thüringer Landtag beteiligen. In der Europawoche 2000 bzw. 2001 wurden in jeweils 70 Veranstaltungen landesweit gezielte Informationen über die Integration der Europäischen Union, zum politischen Entscheidungsprozess, über die Organe der Europäischen Union und über die Osterweiterung gegeben. Die Landesregierung eröffnet alljährlich die Europawoche mit einer zentralen Auftaktveranstaltung jeweils in einer Stadt des Freistaats. In diesem Jahr stand natürlich die EuroBargeldeinführung in Kommunen und Unternehmen im Mittelpunkt der Diskussion. Zusätzlich nutzt die Landesregierung die europäischen Programme wie Interreg und EQUAL, um eigene beispielgebende Maßnahmen z.B. im Bereich der Förderung der Informationsgesellschaft und der Exportorientierung dazu, kleine und mittlere Unternehmen in Thüringen und in den Partnerregionen zu vernetzen und sie in neue Märkte zu bringen. Im Rahmen der Osterweiterungskampagne werden vor allem in den Jahren 2002 und 2003 Informationsmaßnahmen für Unternehmen, Führungskräfte der Wirtschaft sowie Multiplikatoren in der Jugendarbeit und der Erwachsenenbildung zum Thema "Sicherheit für Bürger und Unternehmen" durchgeführt werden. Diese vielen kleinen Veranstaltungen helfen, den Europagedanken über den Kreis der Experten hinaus zu verbreiten. Ich möchte an dieser Stelle den vielen ehrenamtlich Tätigen für ihr Engagement danken.

(Beifall bei der CDU)

Zu Beginn meiner Rede habe ich festgestellt: "Europa ist gefordert." Nun, am Ende meiner Rede, möchte ich ergänzen: "Wir brauchen Europa." Es gibt zur europäischen Einigung keine Alternative. Der europäische Integrationsprozess ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs; das inzwischen erreichte Maß an Frieden, Stabilität und Wohlstand für alle Bürger in Europa wäre ohne die europäische Integration nicht denkbar. Umso mehr müssen wir daran arbeiten und alles daran setzen, Europa zu einem Erfolg werden zu lassen. Damit sich die Bürger auch weiterhin in diesem ständigen Prozess von Erweiterung und Vertiefung in Europa zu Hause fühlen, muss die EU demokratischer, bürgernäher und transparenter werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU, SPD)

Herr Abgeordneter Koch, Sie haben jetzt als Nächster das Wort. Bitte schön.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Abgeordneten, damit ich jetzt nicht Gefahr laufe, am Thema vorbei

zu reden, will ich mich zunächst vergewissern, worüber wir reden. Der Herr Minister Gnauck hat zu Beginn seiner Rede hervorgehoben, Europa ist gefordert. Ich war der Meinung, die Landesregierung ist gefordert, nämlich zu der Großen Anfrage und dazu möchte ich mich äußern.

(Beifall bei der PDS)

Ich kann das nicht in dieser Breite und Ausführlichkeit, wie das Herr Minister Gnauck versucht hat, ich denke, es geht auch nicht in dieser Breite und Ausführlichkeit.

(Beifall Abg. Gentzel, SPD)

Insofern war, glaube ich, schon der Versuch als solcher zwar vielleicht lobenswert, aber untauglich. Ich möchte mich zu dem zentralen Thema der Großen Anfrage, nämlich den institutionellen Reformen in der EU äußern und mich darauf konzentrieren. Von den in diesem Bereich getroffenen politischen Entscheidungen hängt nicht nur ab, ob die Europäische Union nach einer Ost- und Südosterweiterung noch im Stande sein wird, ihre Aufgaben effektiv zu bewältigen. Es geht bei diesem Thema vor allem um die mittel- und langfristigen Ziele der europäischen Integration. Lassen Sie mich das, meine Damen und Herren, an zwei Fragen zuspitzen, die als Fragen gewissermaßen die Problemlage deutlich machen sollen.

Frage 1: Ist die Integration im Wesentlichen mit Maastricht und Amsterdam und der Verwirklichung der Währungsunion vollendet, so dass der Nizza-Vertrag und die für 2004 anberaumte Folgekonferenz lediglich notwendige Korrekturen und die Konsolidierung des bereits vollendenden europäischen Verfassungsgebäudes vollziehen?

Frage 2: Sind Maastricht, Amsterdam und Nizza sowie die für 2004 vorgesehene Regierungskonferenz lediglich Zwischenetappen auf dem Weg zu einer europäischen Föderation oder zu irgendeinem Tertium zwischen Staatenbund und Bundesstaat?

Eng verbunden damit ist das Problem, unter welchen Bedingungen und Grenzen die Bürger bereit sind, europäische Gesetze als für sich verbindlich zu akzeptieren und sich nicht nur als Bürger eines Mitgliedstaates zu begreifen, sondern darüber hinaus auch als Teil eines europäischen Bürgerverbundes, den man als europäisches Volk bezeichnen könnte und auf den letztlich jede politische Entscheidung in der Union rückführbar ist. Damit wird in das Zentrum unseres Interesses die Frage gerückt, wie die Verträge das Demokratieprinzip und die Gewaltenabgrenzung verwirklichen sollen.

Meine Damen und Herren, wir hatten erwartet, dass die Antwort auf die Große Anfrage hierzu etwas aus der Sicht der Landesregierung, nämlich die Position der Landesregierung auf dieses Problem ausführt. Unterzieht man die Antworten der Landesregierung einer Durchsicht mit Blick auf

die Finalität der europäischen Integration, so ist hier Fehlanzeige zu konstatieren. Allenfalls der Antwort auf Frage 22, wo nachgefragt wird, wie die Landesregierung das Instrument der offenen Koordinierung einschätzt, lässt sich indirekt entnehmen, dass die Landesregierung supranationale Regelungen auf dem Gebiet des Sozialrechts, wenn nicht ausdrücklich ablehnend, so doch zumindest äußerst skeptisch betrachtet. Die Landesregierung lehnt hier offenbar nicht nur gemeinschaftliche Regulierungen ab, sie spricht sich im Bereich der Sozialpolitik sogar gegen eine weiche Koordinierung in Form von institutionalisierten Dialogen, Berichten, Erklärungen, Empfehlungen und Rahmenrichtlinien aus, und dies, obwohl aufgrund des zunehmenden Wettbewerbsdrucks durch die Wirtschafts- und Währungsunion sowie voraussichtlich auch durch die anstehende Osterweiterung die Regelung sozialer Mindeststandards durch die Union zum Schutz anspruchsvollerer Sozialsysteme, wie wir sie z.B. in Deutschland vorfinden, im Kreis der Mitgliedstaaten immer mehr notwendig wird.

(Beifall bei der PDS)

Europaweit kohärente Sozialsysteme sind daher als Pendant des freien Binnenmarkts unverzichtbar, um der Gefahr eines Sozialdumpings zu begegnen. Artikel 37 des EG-Vertrags, der für wichtige Bereiche der Sozialpolitik die Einstimmigkeit des Rates vorschreibt, bedarf aus unserer Sicht dringend einer Änderung. Vermutlich wird man mir jetzt vorhalten, dass in der Großen Anfrage nicht nach den Vorstellungen der Landesregierung zum Ziel der Integration gefragt worden sei, die Fragen bezögen sich ausschließlich auf den kurz- bzw. mittelfristigen PostNizza-Prozess. Ich meine allerdings - und Sie sehen, wie ausrechenbar Sie damit einfach sind -, dass sich die Landesregierung klaren Aussagen zu der Frage "Quo vadis, Europa?" nicht enthalten darf. Die Landesregierung hat sich, wie ich der Großen Anfrage entnehme, die Förderung des europäischen Willensbildungsprozesses im Wege der Öffentlichkeitsarbeit auf die Fahnen geschrieben. Nun wird man das Interesse der Bürger an Europa kaum gewinnen, geschweige denn die Bürger für Europa begeistern können, wenn man ihnen den Eindruck vermittelt, es sei das unvermeidbare Schicksal der europäischen Integration, in dem pragmatisch-bürokratischen Stil weiter zu wursteln, den man gemeinhin als die Methode Monnet bezeichnet. Um dem Umsichgreifen dieses Eindrucks entgegenzuwirken, bedarf es einer europapolitischen Vision, die ich in der Antwort der Landesregierung zu dieser Großen Anfrage vermisse.

(Beifall bei der PDS)

Und, meine Damen und Herren, lassen Sie mich das an zwei Beispielen exemplifizieren. In der Antwort auf die Frage 23 ist mehrmals die Rede von einem europäischen Verfassungsvertrag, der Ziel des weiteren europäischen Integrationsprozesses sein müsse. Der europäische Verfassungsvertrag als Integrationsziel ist nichts anderes als

eine leere Begriffsschablone. Mag das, was mit der nächsten Regierungskonferenz erreicht werden soll, als Verfassungsvertrag bezeichnet werden, inhaltlich ist damit überhaupt nichts ausgesagt. Es ist die Rede davon, dass der europäische Verfassungsvertrag im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip stehen müsse. Bei dem Subsidiaritätsprinzip handelt es sich um einen kaum justiziablen Grundsatz. Ihm lässt sich nicht mehr als die Leitlinie entnehmen, dass in einem zwei- oder dreistufig gegliederten System im Grundsatz der untersten Ebene die Gemeinwohlkonkretisierung vorzubehalten ist. Dieses Prinzip dürfte allgemein anerkannt sein, ich kann mir jedenfalls keine Regierung in Europa vorstellen und es ist mir auch keine in Europa bekannt, die die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips infrage stellen würde, meine Damen und Herren. Dass die Kompetenzabgrenzung in den Verträgen klar und überschaubar geregelt werden muss, ist auch keine Forderung, mit der sich die Landesregierung konzeptionell hervortun könnte. Bereits auf der Nizza-Konferenz sollte das Thema der Kompetenzabgrenzung stehen. Bekanntlich wurde durch die Beschränkung auf die drei Left-overs des Amsterdamer Vertrags, die auf Seite 24 der Antwort der Landesregierung wiedergegeben sind, das Thema auf die nächste Regierungskonferenz vertagt. Auch die uns und die Bürger besonders interessierende Frage, welchen Grundsätzen die Neuregelung der Kompetenzabgrenzung nach Ansicht der Landesregierung folgen sollte, wird von der Landesregierung nicht beantwortet. Sollen die bisherigen Kompetenznormen lediglich systematisiert und klarer formuliert werden? Sollen prozedurale Bestimmungen etwa durch die Etablierung eines Subsidiaritätsausschusses ersetzt werden, um das Subsidiaritätsinteresse effektiver zur Gestaltung bringen zu können? Oder soll die Kompetenzabgrenzung etwa ganz anders als bisher in den Verträgen geregelt werden, etwa nach dem Modell der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz oder den Vereinigten Staaten von Amerika? Die Antwort auf die Große Anfrage schweigt sich hierüber aus. Der durchschnittlich europapolitisch interessierte Bürger vermag der Antwort auf die Große Anfrage nur Selbstverständlichkeiten und Gemeinplätze zu entnehmen. Im Ergebnis vermitteln die Antworten der Landesregierung im institutionellen Abschnitt der Großen Anfrage den Eindruck europapolitischer Ideenlosigkeit und ängstlichen Beharrens auf dem bereits Erreichten.

Meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion, Ihr Antrag in Drucksache 3/1878 ist harmlos und weitgehend unschädlich, deshalb muss man aus meiner Sicht nicht unbedingt dagegen sein, aber er ist auch nicht geeignet, die Landesregierung zu veranlassen, ein stärkeres europapolitisches Profil zu zeigen. Deshalb werde ich Ihrem Antrag nicht zustimmen.

(Beifall bei der PDS)

Herr Abgeordneter Bergemann, Sie haben als Nächster das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Koch, um es gleich mal an Sie vorwegzunehmen, offensichtlich haben Sie die Große Anfrage nicht richtig gelesen. Bezüglich der Zukunft der Visionen der Europapolitik, die der Minister hier in eindrucksvoller Weise dargelegt hat, sich im Tagesordnungspunkt 23 auch über die Aufgaben der Zukunft deutlich artikuliert hat. Ganz im Gegenteil, Sie verstricken sich ja selbst in einen Widerspruch. Sie sagen, Europa ist gefordert, da hat der Minister gesagt - richtig, Sie sagen, hier wäre die Landesregierung gefordert. Sie fragen auf der anderen Seite "Quo vadis, Europa?" - "Wohin gehst du, Europa?" Ich denke, genau der Punkt, lesen Sie bitte noch mal nach, in Punkt 23 sind genau an der Stelle intensiv alle Themen erläutert, die wir in der Zukunft genau miteinander hier diskutieren müssen.

(Beifall bei der CDU)