Protocol of the Session on November 24, 2017

Der aktuelle Blick auf die Betroffenen zeigt, dass politisch Verfolgte der DDR unabhängig von den angewendeten Repressionsmethoden mehrheitlich grundsätzliche Probleme zu bewältigen haben, für die sie gesellschaftliche Unterstützung benötigen, Probleme wie verringertes Einkommen aus Arbeit und Rente, gesundheitliche Folgeschäden, insbesondere psychische Erkrankungen und Traumata, Probleme bei gesellschaftlicher Integration und Teilhabe.

Wir GRÜNE meinen deshalb, dass verfolgte Schüler und Zersetzungsopfer zukünftig in der Leistungsvergabe durch das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz zu berücksichtigen sind. Bundesweit erhalten derzeit lediglich 113 Opfer von Zersetzungsmaßnahmen eine Grundrente. Für verfolgte Schüler sieht das berufliche Rehabilitierungsgesetz derzeit keine Unterstützungsleistungen vor.

Wenn wir über in der DDR begangenes Unrecht sprechen, neigen wir dazu, Schuld vor allem bei anderen zu sehen, sie Institutionen wie der SED oder der Stasi zuzusprechen und uns alle damit zu entlasten. Wo echte Aufarbeitung und perspektivisch vielleicht auch Versöhnung möglich werden sollen, braucht es deshalb einen neuen, offeneren Blick auch auf eigene Verstrickungen.

Die Diktatur der DDR war ein Werk der SED. Getragen und stabilisiert wurde sie von vielen anderen, die ihren Platz in der Diktatur suchten und auch fanden - in Blockparteien, im Staatsapparat, in Schulen und Betrieben -, die mitliefen und die wegschauten.

Die Erklärung des Landeskirchenrates zur Synode war heute bereits Thema. Ich möchte sie trotzdem

nochmals verlesen, weil sie in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden darf - Zitat -:

„Wir haben staatlichem Druck zu oft nicht standgehalten. Wir haben Fürbitte und Fürsprache geleistet, Unrecht jedoch oft nicht deutlich genug widersprochen. Wir haben uns bis heute nicht in der nötigen Weise unserer zu geringen Unterstützung für die Menschen gestellt, die in der Landwirtschaft, dem Handwerk und anderswo enteignet wurden, die von Zwangsaussiedlungen und Entheimatung Betroffenen, die politischen Gefangenen in der DDR und die in den Suizid Getriebenen.

Wir beklagen, dem SED-Staat nicht klarer und kompromissloser entgegengetreten zu sein.

‚Wenn Schuld konkret beim Namen genannt wird, erweisen wir uns als Selbstgerechte, die schnell ein Urteil über andere sprechen, oder wir verharmlosen, leugnen ab, fühlen uns verkannt, wenn es um unser Versagen geht.‘“

Dass diese Erklärung möglich wurde, ist auch ein Verdienst von Frau Landesbischöfin Junkermann, die in ihrer Kirche ein Klima geschaffen hat, das für solche Erklärungen Raum lässt und das diese individuelle Schuld, dieses individuelle Schuldanerkenntnis möglich macht. Ich will mich deshalb ausdrücklich von dieser Stelle aus auch an Frau Junkermann mit Dank wenden.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Ich entnehme dieser Erklärung eine Sehnsucht nach Wahrheit und Gerechtigkeit, der wir auch in unserer Gesellschaft außerhalb der Kirchen stärker Raum geben sollten, ja müssen. Ich will noch einmal zitieren: „Wir wollen uns unserer Schuld stellen. Wir wollen Verantwortung übernehmen“, schreibt der Landeskirchenrat der EKM.

Wollen wir das? - Ich meine, wir müssen. Dafür sind gesetzliche Vorkehrungen zu treffen; denn DDR-Unrecht verjährt nicht. Deshalb müssen Unrechtsbereinigungsgesetze entfristet werden, vor allem aber muss ein gesellschaftlicher Diskussionsprozess in Gang kommen. Denn erst wo Schuld anerkannt und Verantwortung durch Täter, Mitläufer und Zuschauer übernommen wurde, wird Versöhnung möglich.

Ich wünsche uns, dass dieser Prozess individueller Verantwortungsübernahme vorankommt. Jeder und jede von uns sollte seinen und ihren Teil dazu leisten. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Herr Abg. Striegel, es gibt eine Wortmeldung von Herrn Philipp. Möchten Sie darauf reagieren? - Herr Philipp, bitte.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Striegel, Sie haben natürlich in Teilen recht. Gerade die Organisationen hätten noch vehementer gegen das Unrecht eintreten können, das passiert ist. Ich möchte bloß eines vermeiden, nämlich dass die Debatte dahin läuft, dass man denjenigen, die man unterdrückt hat, dann im Nachgang auch noch vorwirft, dass sie sich nicht genug gewehrt hätten.

(Zustimmung von Ministerin Anne-Marie Keding)

Denn das entnehme ich oder habe ich auch ein wenig Ihrer Argumentation gerade entnommen. Das geht nicht.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Mi- nisterin Anne-Marie Keding)

Herr Kollege Philipp, ich meine nicht, dass man es jemandem zum Vorwurf machen kann, er habe sich zu wenig gewehrt. Aber niemand ist zu DDRZeiten gezwungen gewesen, in Parteien einzutreten. Das waren auch damals immer individuelle Entscheidungen von Menschen.

Ich habe nicht den Eindruck, dass es uns als Gesellschaft voranbringt und dass es Versöhnung ermöglicht, wenn ich als im Jahr 1981 Geborener jetzt mit dem Finger auf jemanden zeige, der beispielsweise Lehrer werden wollte, weil das sein Traumberuf war, und der gesagt hat: Ich habe dafür eine pädagogische Begabung, ich möchte Kinder unterrichten und erziehen, aber ich weiß auch, dass ich als Mitglied einer katholischen Kirchgemeinde in diesem Staat DDR nur Lehrer werden kann, wenn ich auch Kompromisse mit diesem Staat schließe und zum Beispiel in eine Blockpartei CDU eintrete - diese Fälle soll es gegeben haben - und dort mittue.

Dann kann ich Lehrer werden, meinen Traum leben und auch ein Stück weit etwas für Kinder und Jugendliche tun, vielleicht auch Räume dafür öffnen, die ich an anderen Stellen nicht öffnen kann.

Ich möchte, dass wir in dieser Differenziertheit, auch durch das Zeugnis derjenigen, die diese Entscheidungen getroffen haben, in eine gesellschaftliche Debatte kommen über die Frage: Was hat ein jeder, was hat eine jede von uns durch konkretes Mittun für die Stabilisierung eines solchen Staates getan?

Das wird nicht mit Schuldzuweisungen zu tun sein, sondern das wird funktionieren und voranzubringen sein, wenn wir uns tatsächlich ehrlich machen miteinander und fragen: Wie hätte ich in einer solchen Situation gehandelt? Wie hätte ich reagiert? Welche Kompromisse hätte ich gemacht? Was wäre ich bereit gewesen zu geben und wo wären für mich auch Grenzen gewesen?

Eine Nachfrage, Herr Abg. Philipp? - Bitte.

Trotzdem möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass man natürlich mit gutem Hintergrund eventuell eine gewisse berufliche Karriere eingeschlagen hat. Das hat mir dann aber nicht das Recht gegeben, diejenigen, für die ich es denn gemacht habe, so wie Sie es gerade ausgeführt haben, für die Kinder, weil ich mich da engagieren wollte, dann auch zu unterdrücken.

Ich will bloß darauf hinweisen, weil die Argumentation, die Sie gerade angeführt haben, auch eine Argumentation damals in der Volkskammer der DDR war, in der ersten und einzig frei gewählten. Damals führte ein Abgeordneter der PDS an, dass die Schuld nicht beim SED-Regime zu suchen gewesen wäre, sondern die Schuld hätte bei denen in der Bevölkerung gelegen, die sich nicht genug gegen die Unterdrückung gewehrt hätten.

Ich möchte darauf hinweisen, dass wir das nicht tun sollten. Wir sollten nicht sagen, dass diejenigen, die unterdrückt worden sind, sich nicht genug gewehrt haben.

(Beifall bei der CDU - Cornelia Lüddemann, GRÜNE: Natürlich machen wir das nicht!)

Sehr geehrter Herr Kollege Philipp, ich bin da völlig bei Ihnen und stehe da auch im Gegensatz zu dem von Ihnen zitierten Redner. Natürlich ist das Unrecht durch die SED initiiert worden. Natürlich ist das Unrecht durch die Stasi weitergetragen und umgesetzt worden. Das ist überhaupt keine Frage.

Aber es bleibt dabei: Ein jeder und eine jede muss sich fragen lassen und sollte sich fragen lassen, was sein und ihr Beitrag zur Stabilisierung des Systems war - nicht als Vorwurf, sondern als notwendiger Bestandteil einer Aufarbeitung, die Versöhnung möglich macht. Denn es reicht nicht zu sagen, es waren nur die oder die oder die, und diese Akteure mit SED und Stasi zu benennen, sondern wir müssen miteinander in den Diskussionsprozess kommen, was alles diese Diktatur stabilisiert hat.

Ich will das ausdrücklich nicht als Vorwurf verstanden wissen, sondern als Versuch, miteinander diese Aufarbeitung zu leisten und damit - so das von denjenigen, die Opfer wurden, die zu Opfern gemacht wurden, gewollt ist; diese haben die Entscheidung darüber in der Hand - auch zu einer Versöhnung zu kommen. Aber das setzt zwingend voraus, dass sich vorher alle Menschen darüber Gedanken machen, was ihr ganz konkreter Beitrag zu DDR-Zeiten war.

Es gibt eine weitere Wortmeldung von Frau Feußner. - Eine Kurzintention? - Okay. Bitte, Frau Feußner.

Ich möchte nur auf eines hinweisen: Ich halte es für eine absolute Verhöhnung der Opfer, Herr Striegel, was Sie hier eben dargelegt haben.

(Beifall bei der CDU)

Ich bitte Sie dringend, sich einmal mit den Opferverbänden darüber zu unterhalten, wie es wirklich zugegangen ist und wie es den Opfern ergangen ist. Das, was Sie hier eben dargestellt haben, ist das Allerletzte.

(Beifall bei der CDU und bei der AfD)

Herr Striegel, Sie können selbstverständlich darauf erwidern.

Ich lasse das so stehen.

Okay. Dann vielen Dank. Aus den anderen Fraktionen sehe ich keine weiteren Wortmeldungen. - Wir kommen somit zur nächsten Debattenrednerin. Für die SPD-Fraktion spricht die Abg. Frau Kolb-Janssen. Sie haben das Wort, Frau Abgeordnete.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Leider konnte ich am 30. Mai dieses Jahres an dem Treffen der Opferverbände aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen nicht teilnehmen. Ich habe darüber aber ausführlich mit Frau Neumann-Becker und mit Vertretern der Opferverbände gesprochen und mich mit ihren Argumenten auseinandergesetzt.

Bei diesem Treffen in Hannover ist eine Resolution verabschiedet worden, die nicht nur darauf aufmerksam macht, dass die Fristen für Anträge

auf Rehabilitierung staatlich veranlassten Unrechts in der DDR auslaufen, sondern die zugleich dafür wirbt, dass die Fristen in den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen generell aufgehoben werden.

Ich bin froh darüber, dass wir heute im Rahmen der Aktuellen Debatte auf der Grundlage unseres Antrags diesem Anliegen Rechnung tragen. Ich halte es für dringend geboten, dass wir hier einen Schritt weiter kommen und die berechtigten Interessen von staatlichem Unrecht Betroffenen wahren und ihnen auch zukünftig eine Rehabilitierung ermöglichen.

Wir müssen uns vor Augen führen, dass die friedliche Revolution in der DDR und der Fall der Mauer im Herbst 1989 vor allem den Menschen zu verdanken ist, die sich ohne Rücksicht auf ihre privaten Interessen mutig der SED-Diktatur entgegengestellt haben.

Tausende Menschen sind für Demokratie und Freiheit auf die Straße und in die Kirchen gegangen. Niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, welche persönlichen Folgen dieses Aufbegehren haben könnte, aber viele waren sich dessen bewusst, dass sie schon vorher Unfreiheit, Willkür und Unrecht haben in Kauf nehmen müssen. Diesen Menschen gebührt mein, gebührt unser tiefer Respekt und unser Dank.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Ihr Vermächtnis ist uns zugleich Auftrag, die mühsam errungene Demokratie zu verteidigen. Gerade in diesen schwierigen Zeiten, in denen die Demokratie wieder bedroht ist, sollten wir uns das immer wieder vor Augen führen.

Respekt und Anerkennung für diese Menschen allein reicht aber nicht. Wir müssen auch aktiv werden, um die Rehabilitierung, die ihnen unzweifelhaft zusteht, auch praktisch umsetzen zu können. Bis heute sind oder waren noch nicht alle Betroffenen in der Lage, sich mit Fragen ihrer Rehabilitierung auseinanderzusetzen. Viele wissen nicht, ob und welche Leistungen ihnen zustehen. Viele Betroffene fühlen sich noch nicht in der Lage, sich mit ihrem Schicksal auseinandersetzen.

Wir haben in den letzten Jahren auch immer wieder erfahren, dass es neue Arten von Diskriminierung und Verfolgung gab. Ich verweise auf die Frauen in Halle, die in der Venerologischen Station wirklich unmöglichen, unmenschlichen Behandlungsmethoden unterzogen worden sind, oder die Opfer von Arzneimittelversuchen, wo wir heute mit der Aufarbeitung noch ganz am Anfang stehen.