Protocol of the Session on October 27, 2017

Herr Poggenburg, haben Sie noch eine Nachfrage?

(André Poggenburg, AfD: Ja!)

Herr Gallert, Herr Poggenburg hat noch eine Nachfrage.

Herr Gallert, Ihre Ausführungen bedeuten ja, dass jemand, wenn er Jude ist, automatisch immer vor jeglicher Kritik gefeit ist. Ich frage Sie: Wenn man diese Einstellung an den Tag legt, wie Sie es gerade tun, sind es dann nicht Sie und Ihre LINKEN-Politiker, die genau gerade dieses Schreckgespenst des Antisemitismus neu hervorholen?

(Beifall bei der AfD)

Herr Gallert, Sie haben das Wort.

Es fällt mir immer schwerer, Herr Poggenburg, Ihre Logik in irgendeiner Art und Weise nachzuvollziehen, denn sie ist keine Logik. Zu der Positionierung von Orbán beim Nationalfeiertag, eine anonyme Weltverschwörung führe dazu, dass wir in Europa Flüchtlingsströme hätten, weil es einen Plan gebe, die Bevölkerung Europas auszuwechseln, sage ich ganz klar: Offensichtlich gibt es, obwohl Sie hier und da gern Begriffe aus der Zeit verwenden, ein riesiges Informationsdefizit über die Struktur des Antisemitismus zwischen 1933 und 1945. Die Plakate sind dieselben, die Aussagen sind dieselben, die Anklänge sind dieselben und die Zielrichtung ist dieselbe.

Wenn etwas riecht wie Antisemitismus, wenn sich etwas anhört wie Antisemitismus, wenn es sich bewegt wie Antisemitismus, dann ist es Antisemitismus, Herr Poggenburg.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Gallert, Herr Scheurell hat eine Frage. - Herr Scheurell, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Kollege Gallert, ich möchte an der Stelle einfach nur Partei auch für unseren Ministerpräsidenten ergreifen.

Das wird ihn freuen.

Es ist nämlich einfach absolut nicht in Ordnung, wenn Sie hier so nebulös, ja, Gedankengut in den Raum stellen. Reiner Haseloff hat sich mit Blick auf vergangene Zeiten gerade auch dazu geäußert, was wir während der Zeit des Nationalsozialismus Schlimmes gemacht haben. Er hat dies auch in Zeiten getan, in denen an die deutsche Einheit noch gar nicht zu denken war. Reiner Haseloff ist also frei von derartigem Gedankengut.

Wenn Viktor Orbán, der auch Sie mit „Jó napot kívánok!“ begrüßen würde, nach Wittenberg kommt, dann kommt er da als Privatmann hin. Ist es nicht gerade gut, dass Demokraten wie Reiner Haseloff den Kontakt auch zu Viktor Orbán gut halten? - Wenn wir uns alle verschließen und gegenseitig nur Anschuldigungen erheben und Ressentiments nach oben wälzen, dann ist eine Verständigung auch innerhalb des Hauses Europa - das ist das Größte, das wir brauchen - nicht mehr möglich.

Natürlich kritisieren Sie zu Recht das eine oder andere, was gerade in Ungarn passiert. Dennoch sage ich als Deutscher: Ich bin dem ungarischen Volk und den Repräsentanten des ungarischen Volkes unendlich dankbar für das, was sie zur Herbeiführung der deutschen Einheit beigetragen haben. Das ist das Größte.

(Beifall bei der CDU)

Viktor Orbán ist der Repräsentant des ungarischen Volkes, und wir haben ordentlich mit ihm umzugehen. Er kommt nach Wittenberg auch zur nationalen Ausstellung der Reformation, weil Ungarn auch das Testament zu unserer Ausstellung geliehen hat. Die ganze nationale Ausstellung wäre nur halb so viel wert, wenn wir diese Leihgabe nicht hätten. Ich bin unserem Ministerpräsidenten ausgesprochen dankbar dafür, dass er den Kontakt zu dem ungarischen Volk, auch zu dessen Repräsentanten Viktor Orbán, so gut hält.

(Beifall bei der CDU)

Ja, Herr Scheurell, das überrascht mich alles nicht. Natürlich ist es wichtig, dass man innerhalb der Europäischen Union mit allen spricht. Natürlich ist es wichtig, dass eine Kommunikation aufrechterhalten wird. Aber es gibt einen Unterschied, ob ich mit jemandem diskutiere, ob ich mich auch traue, ihn zu kritisieren, oder ob ich ihn hofiere.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wenn ich einen Vorwurf an Herrn Haseloff habe, dann ist es das Letzte. Es gibt massenhaft öffent

liche Äußerungen. Es gibt massenhaft mediale Widerspiegelungen seines Besuches und seiner Interviews. Nicht an einer einzigen Stelle kommt irgendwann mal der Satz: An dieser Stelle habe ich eine klare, eindeutige Differenz; ich finde, hier ist eine Grenze überschritten. Das kommt nirgendwo, an keiner Stelle.

(André Poggenburg, AfD: Warten Sie doch erst einmal den Besuch ab!)

Verständnis? - Solche Verschwörungstheorien scheinen nationale Besonderheiten zu sein, auf die man Rücksicht zu nehmen hat. Das ist das, was dann kommt. Oder der ausdrückliche Dank: Ja, mit dieser Grenzschließung haben Sie schließlich dieses Schengener Abkommen eingehalten. Über die eine oder andere Geschichte hätte man technisch diskutieren können. - Das ist Hofieren; das ist keine Debatte.

(André Poggenburg, AfD: Das ist Diploma- tie!)

Mir, lieber Kollege Scheurell, ging es in dieser Debatte um die Grundwerte der Europäischen Union und nicht darum, ob wir jemandem dankbar sein müssen, weil er uns ein Exponat zur Verfügung stellt, und ansonsten erzählen kann, was er will. Das ist der Unterschied im Herangehen, Herr Scheurell.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sehe keine weiteren Fragen. Dann danke ich Herrn Gallert für die Einbringung. - Wir fahren in der Debatte fort. Für die Landesregierung spricht Staats- und Kulturminister Herr Robra. Herr Minister, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob dieser Einstieg, den wir eben erlebt haben, für eine Debatte zum Zustand und zu den Perspektiven der EU wirklich hilfreich war, da habe ich meine Zweifel.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Wir haben am Ende diskutiert - wir ja nicht, sondern zwei, drei Personen aus dem Landtag - über den Besuch von Orbán in Wittenberg, den man tiefer hängen muss, als es hier soeben geschehen ist. Diese Themen mit heißem Herzen zu diskutieren, ist gestattet; aber dann bitte auch mit kühlem Kopf. Politik ist das Bohren dicker Bretter, gerade auch im Verhältnis zu Ungarn.

Wir waren alle heilfroh, gestern miterleben zu können, dass Steudtner aus türkischer Haft entlassen worden ist. Wie ist das möglich gewesen? - Schröder, der Altkanzler, hat mit Erdogan ge

sprochen. An Erdogan Kritik zu üben ist mehr als berechtigt. Ich will die Debatte hier nicht noch auf das türkische innerstaatliche Verhältnis ausweiten und will auch gar nicht die Debatte darüber führen, wie der Zustand der Beitrittsdebatte der Türkei zurzeit zu beurteilen ist. Aber solche Gespräche sind manchmal möglich.

Wenn Sie wirklich alles gelesen hätten, was die Medien über den Besuch des Ministerpräsidenten in Budapest berichtet haben, dann hätten Sie auch im Subtext sehr wohl verfolgen können, dass Kritik an der Position geübt worden ist, die der ungarische Staat an der derzeitigen Verfassung der Europäischen Union, an der Politik, die dort gemacht wird, übt, aber eben in dem Maße, wie es sich im Verhältnis von staatlichen Repräsentanten untereinander gebietet.

Es gibt zudem das Verbot, sich in innerstaatliche Angelegenheiten anderer einzumischen. Insofern muss man sensibel vorgehen. Genau das hat der Ministerpräsident getan und genau das wird er tun, wenn er mit Orbán in Wittenberg zusammentrifft.

Ich bin Herrn Scheurell ausgesprochen dankbar dafür, dass er hervorgehoben hat, dass Ungarn ein Teil der EU ist. Ungarn gehört zum Kernbestand der Europäischen Union. Die Weiterentwicklung der Europäischen Union müssen wir in der EU 28, und wenn noch andere frühere jugoslawische Staaten hinzutreten, dann eben in einer entsprechend vergrößerten EU, diskutieren.

Herr der Verträge sind die Staatspräsidenten und die Regierungschefs der Länder. Dort werden die EU-Verträge gemacht. Dort ist der Grundrechtekatalog behandelt worden, den wir in der EU bereits haben; den müssen wir nicht noch einmal neu erfinden.

Dort ist der Vertrag von Lissabon verhandelt worden, der die Strukturen und Zuständigkeiten in der EU regelt; den müssen wir auch nicht noch einmal neu erfinden. Wir wissen natürlich alle, wie es zurzeit um die Kompetenzen der EU in Bezug auf die soziale Säule steht.

Es tut mir leid, Herr Gallert, ich verlange nicht, dass Sie alles verfolgen, was solche illustren Gremien wie die Europaministerkonferenz treiben, obwohl die Beschlüsse dieser Konferenzen dem Landtag zugeleitet werden. Aber anscheinend landen sie irgendwo in der Rundablage und interessieren niemanden mehr.

Die Europaministerkonferenz hat sich in ihrer letzten Sitzung vor wenigen Monaten in Hannover mit nichts anderem beschäftigt als mit dem sozialen Europa, mit der Perspektive des sozialen Europas, mit der sozialen Säule in Europa.

Die Ministerpräsidenten, die im März zum ersten Mal seit Jahren alle zusammen nach Europa

gehen und eine Ministerpräsidentenkonferenz in Brüssel abhalten werden, werden sich unter anderem mit den Vertretern der Kommission zu dieser Fragestellung verständigen. Das steht schon auf der Agenda. Das dürfte eigentlich europapolitisch Interessierten bekannt sein. Aber leider hat es in dieser Debatte bisher keine Rolle gespielt.

Vielleicht ist es auch im Moment nicht der richtige Zeitpunkt, diese Debatte zu führen. In Berlin laufen Koalitionsverhandlungen. Das Thema Europa steht dabei ganz im Vordergrund und das Thema wird zwischen den Dreien, die dort verhandeln, durchaus kontrovers diskutiert. Lassen Sie uns also auf der Grundlage dessen, was dann im Koalitionsvertrag in Berlin stehen wird, eine neue Debatte führen.

Natürlich haben wir auch akute Krisen. Ich habe von Ihnen eben bedauerlicherweise kein Wort zum Thema Brexit gehört. Das ist etwas, was alle umtreibt. Das ist die große Unbekannte.

(Zustimmung von Guido Heuer, CDU)

Theresa May, wo auch immer sie auftritt und spricht, trägt nicht gerade dazu bei, dass wir Klarheit in dieser Frage bekommen. Das ist ein Thema, das uns unmittelbar angeht; denn solange wir nicht wissen, was das finanziell für den Haushalt der Europäischen Union bedeutet, können wir am Ende nicht sagen, wie es bei uns, beispielsweise mit den Strukturfonds, weitergeht.

Europa ist längst mehr als der Binnenmarkt.

(Zustimmung von Florian Philipp, CDU, und von Frank Scheurell, CDU)

Das ist eine Floskel, die man vielleicht vor 20, 25 Jahren noch hätte verwenden können. Europa ist weitgehend integriert. Ich kenne niemanden, jedenfalls in Sachsen-Anhalt niemanden, der die Integration nicht weiter vorantreiben wird.

Wir haben uns alle über die Rede von Präsident Juncker zur Lage der Union am 13. September 2017 gefreut, in der er die fünf Szenarien, die die Kommission jetzt in die Diskussion über Europa eingespeist hat, von weniger Europa bis zu mehr Europa, um ein Szenario sechs ergänzt hat, das sich für eine geeintere, stärkere und demokratischere Union ausspricht. Das klang in Ihren Worten an. Wahrscheinlich haben Sie darauf Bezug genommen.

Bedauerlicherweise haben Sie auch kein Wort zu der viel beachteten Rede von Macron am 26. September 2017 gesagt, als er das ganze Panorama der europäischen Diskussion, der europäischen Themen in der Sorbonne entfaltet hat. Das wäre eine angemessene Grundlage für eine große Europadebatte im Landtag, wie ich sie gern ermöglichen will, indem ich eine Regierungserklärung mache. In diesen Redezeitpaketen von