(Zustimmung bei der LINKEN, von Frank Scheurell, CDU, von Florian Philipp, CDU, und von Katrin Budde, SPD)
Bevor wir aber zu solch pathetischen Schlussfolgerungen kommen, zunächst einen kurzen Blick 60 Jahre zurück: Römische Verträge 1957. Man ist natürlich gerade in dieser Zeit geneigt, mit viel Pathos daran zu erinnern, in welcher Art und Weise diese Idee damals geboren wurde.
Ich sage ganz ehrlich: Pathos war zwar dabei, aber es war auch sehr viel Pragmatismus dabei. Mehrere Versuche, europäische Integration, europäische transnationale Organisationen zu bilden, sind vorher gescheitert. Natürlich ging es in allererster Linie um eine wirtschaftspolitische Debatte. Es ging zu allererst um die Gründung einer Zollunion. Jawohl, das ist richtig.
Dann gab es eine ganze Reihe von politischen Implikationen. Deutschland wollte nach den Verbrechen des Nationalsozialismus in irgendeiner Art und Weise wieder dazugehören und hatte ein elementares Interesse an dieser Westeinbindung.
Auch Frankreich und die anderen Länder sahen mit einigem Argwohn - das will ich durchaus sagen - auf das Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Deutschland und vor dem Hintergrund der schrecklichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg auch mit einiger Skepsis auf die sich substanziell entwickelnde Stahlindustrie in der Bundesrepublik Deutschland. Auch das war ein Motiv, möglicherweise einen gemeinsamen Blick auf diese Dinge zu haben.
Natürlich gab es darüber hinaus die Alternative im Osten Europas, wo der Versuch schon im Jahr 1949 gestartet wurde, eine transnationale Planwirtschaft als RGW zu institutionalisieren. Man brauchte demzufolge ein Gegengewicht.
All diese Motive spielten eine Rolle. Wir sollten heute, wenn wir die Feierlichkeiten begehen, in unserem historischen Rückblick so ehrlich sein.
Aber es ist halt so wie im richtigen Leben: Entscheidend ist nicht die Absicht, sondern die Wirkung. Und die Wirkung ist wirklich so, dass man sagen kann: Es ist eine unwahrscheinliche Errungenschaft, dass es seit der Gründung der EWG, der EG, der EU nie eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedstaaten gegeben hat und dass wir heute in der Lage sind, in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur die beschränkten Grenzen der Nationen zu überschreiten bis hin zu einem europäischen Bewusstsein. Das ist das Ergebnis und das gilt es zu verteidigen.
Das ist für unseren Kontinent mit dieser schwierigen Geschichte ein so herausragendes Ergebnis, dass wir diese Form der europäischen Integration mit Herzblut und mit Vehemenz verteidigen. Darauf können Sie sich verlassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Allerdings geht es im Rückblick natürlich auch um das, was kommt, um das, was in der Perspektive vor uns steht. Dazu gibt es natürlich vor dem Hintergrund der substanziell kritischen Debatte zur Europäischen Union, von verschiedenen Akteuren verschieden geführt, ganz unterschiedliche Vorstellungen.
Ich will nur mit einer einzigen Story, mit einem einzigen Mythos aufräumen, und zwar dass die Europäische Union eigentlich nur als Freihandelszone und Zollunion gedacht war. Das ist falsch! Schon im ersten Vertragstext der EWG stand zum Beispiel der Europäische Sozialfonds. Das war der erste und einzige Haushaltsposten der Europäischen Union. Es ist falsch zu sagen, das Soziale hätte nie eine Rolle gespielt.
Und, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD: Im Jahr 1957 war die erste eklatante eindeutige politische Forderung in diesem Vertrag: gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Mann und Frau! Also Traditionen, mit denen wir uns identifizieren können, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Trotzdem haben wir heute eine völlig andere Situation. Trotzdem haben wir heute eine völlig andere Reflexion dieser Europäischen Union. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Das geht schon los bei uns im Land Sachsen-Anhalt. Wir diskutieren zum Beispiel über den Nutzen der Europäischen Union. Obwohl ich das gar nicht so kleinkariert haben will, haben wir in Sachsen-Anhalt natürlich hervorragende Beispiele für den Nutzen der Europäischen Union. Ich habe die Milliarden gar nicht nachgezählt,
- warten Sie mal ab, Herr Raue, warten Sie mal ab! -, über die wir aufgrund der Kohäsionspolitik im Land Sachsen-Anhalt verfügen. Das sind immense Summen, die uns zur Verfügung gestellt worden sind. Sie sind - das muss man klar sagen - häufig viel flexibler und viel besser einsetzbar zur Verfügung gestellt worden als Bundesmittel aus dem Berliner Haushalt.
Diese haben uns viel mehr geholfen als zum Beispiel die GA Wirtschaft. Du kannst mit EFREMitteln an vielen Stellen viel, viel mehr und viel
bessere Sachen machen. Allerdings - das muss ich als Kritik an die Landesregierung richten -: Wer dann bei den zugegebenermaßen nicht leichten Umsetzungen schludert, Fehler macht oder eine Rede hält wie der Kollege Webel, als er mit seiner Sporthalle in Wolmirstedt erwischt worden ist, der muss sich nicht wundern,
Es ist unsere Schuld, wenn wir diese Mittel falsch verwenden. Thüringen kann es besser. Brandenburg kann es besser. Es liegt nicht an Brüssel; es liegt an Magdeburg, wenn die Säge hier klemmt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wenn das aber alles so ist, dann müssen wir uns natürlich heute die Frage stellen: Warum ist denn das Ansehen der Europäischen Union in der Debatte so? Warum gibt es denn heute wieder eine Konjunktur von Hass, Leid und Verbrechen, von Nationalismus, diese Quelle von Zerstörung, von Terror, diese Geißel Europas?
Warum gibt es eine Konjunktur dafür, wenn wir doch eine Europäische Union haben, in deren Verträgen von Menschenrechten die Rede ist, von sozialer Gerechtigkeit, von Beseitigung der Armut? Warum leidet eine solche Europäische Union unter Akzeptanzverlust? - Diese Fragen müssen wir uns ernsthaft stellen.
Ich will Ihnen nur ein kleines Beispiel geben. Vor einigen Wochen hat der DGB eine Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union durchgeführt. Da hat der Vertreter der Europäischen Kommission, angesprochen auf soziale Verwerfungen, gesagt: Ach, ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen; die Kommission ist nun einmal der Wettbewerbshüter; wir kämpfen für den freien Markt; die sozialen Folgen davon sind Sache der Nationalstaaten.
Nun könnte man denken: Was ist das für ein Typ? Ein hoch bezahlter Beamter und hat den Lissabon-Vertrag offensichtlich nicht gelesen! - Aber das, was er da gesagt hat, ist die Realität. Das ist leider viel zu häufig die Wirkung der Europäischen Union.
Wie soll ich denn hier jemandem erklären, warum wegen der Europäischen Union zum Beispiel das Vergabegesetz in Niedersachsen mit den Tariftreueregeln aufgehoben wird?
Wie soll ich hier jemandem erklären, dass öffentliche Dienstleistungen wie die Wasserversorgung mit Druck aus Brüssel privatisiert werden sollen, und ihm erzählen, wie toll das für ihn wäre?
Wie soll ich hier jemandem erzählen, warum europäische Institutionen Angriffe auf Sparkassensysteme und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk organisieren, und sagen: Das ist aber super für dich; das hilft dir weiter? - Das kann ich ihm nicht erklären. Ich kann niemanden von Vorteilen überzeugen, der keine Vorteile hat.
Deswegen, liebe Kolleginnen, gilt es, diese Europäische Union in ihrer Konsistenz, in ihrem jetzigen Wirken substanziell zu verändern.
Man kann das in und mit der Europäischen Union, aber nicht gegen sie, liebe Kollegen von der AfD. Das kann man.
Ich sage klar: Wir haben einen EU-Kommissionspräsidenten, der als Ministerpräsident vor allen Dingen alles dafür getan hat, legale und halblegale Steuerschlupflöcher zu organisieren,
Dumpingsteuern zulasten der sozialen Haushalte der Länder, die er jetzt vertritt in der Europäischen Union.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich die gleiche Kommission jetzt mit Apple und Irland anlegt, weil sie Steuerdumping betreiben. Vielleicht lernt der Mann. Vielleicht lernt sogar ein Herr Juncker in dieser Funktion soziale Verantwortung.
Wir haben eine Debatte über die soziale Struktur und die soziale Säule in der Europäischen Union lustlos geführt, inkonsequent. Aber die Europäische Union ist der Ort, an dem wir über Sozialpolitik reden müssen. Die Europäische Union ist der Ort, an dem wir solche Dinge tun können. Die Europäische Union ist der Ort, an dem wir gegen Steuerdumping zugunsten von Konzerninteressen und Profitinteressen, im Interesse der sozialen Gerechtigkeit, im Interesse der öffentlichen Daseinsvorsorge reden müssen und reden können, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Für uns gibt es kein Zurück. Die Europäische Union darf nicht zurückgebaut werden zu einer Freihandelszone mit Mauern drum herum. Vor allen Dingen darf aber eines nicht passieren: Europa darf nicht zurückfallen in die Zeit der konkurrierenden und sich irgendwann bekämpfenden Nationalstaaten. Das zeigt uns die Vernunft und das lehrt uns die Geschichte dieses Kontinents. - Danke.
Eine Kurzintervention, bitte. - Herr Gallert, Sie haben gerade zum Abschluss gesagt: Für uns gibt es kein Zurück. Das erinnert mich an den Ausspruch: Vorwärts immer, rückwärts nimmer! Das ist genau Ihre Theorie. Sie haben gerade wunderbar dargelegt, dass die EU eben nichts oder kaum etwas für den kleinen Mann bringt.