Protocol of the Session on November 25, 2016

Ich danke dem Herrn Abgeordneten. - Wie vorhin schon angekündigt, übernimmt jetzt die Präsidentin den Vorsitz.

Meine Damen und Herren!

Wir kommen zum

Tagesordnungspunkt 17

Beratung

Ein klares Zeichen für eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft setzen! Ablehnung des aktuellen Gesetzentwurfs zum BTHG im Bundesrat

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 7/587

Alternativantrag Fraktionen CDU, SPD und

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 7/643

Einbringerin ist Frau Zoschke. Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesrepublik Deutschland hat im Jahr 2009, also vor nunmehr sieben Jahren, die UNBehindertenrechtskonvention als universelles

Menschenrecht ratifiziert. Es ist damit einklagbares Recht in unserem Land.

Im krassen Gegensatz dazu steht die Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes und die an vielen Stellen wirklich sehr bedächtige Umsetzung der Aktionspläne, die in der Zwischenzeit, mit Verlaub, zu einer Farce verkommen sind. Das ist kein respektvoller Umgang mit den betroffenen Menschen.

Das Bundesteilhabegesetz ist eines der großen Gesetzesvorhaben der Bundesregierung. Wir haben lange darauf gewartet. Viele notwendige Veränderungen am Ende der letzten Legislaturperiode, wie Fragen der Rahmenvereinbarung Eingliederungshilfe, das Blindengeld, die Arbeit der Sozialagentur - um nur einige zu nennen -, sind hier nicht vollzogen worden mit der Begründung: Wir warten auf das Bundesteilhabegesetz als Grundlage für unser eigenes Handeln.

Es ist wirklich ein bedeutendes, ein großes Wort: Bundesteilhabegesetz. Es soll ein modernes, die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung stärkendes und förderndes Gesetz sein.

(Unruhe)

Grundlage für die Regelungen soll und muss das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung sein. Viele Hoffnungen waren und sind damit verbunden.

(Unruhe)

Zahlreiche Menschen mit Behinderung haben sich in den vergangenen Wochen und Monaten auf den Weg gemacht, sind in die Bundeshauptstadt gereist, um ihren Forderungen eine Stimme zu verleihen, ihre Ängste,

Frau Zoschke, darf ich Sie einmal kurz unterbrechen? - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bitte Sie, den Geräuschpegel etwas zu senken. Dann kann Frau Zoschke ihre Ausführungen hier vorn ordentlich machen. - Bitte, Frau Zoschke.

Sorgen und konkreten Lebenslagen zu beschreiben und ihre Teilhabemöglichkeiten einzufordern. Sie haben der zuständigen Bundesministerin und einer breiten Öffentlichkeit lautstark, kreativ und auch durch starke Bilder in den Medien genau diese Hoffnung übermittelt. In der Zwischenzeit verspüren wir Enttäuschung, Angst und Resignation.

Der Nationale Aktionsplan, zahlreiche Landesaktionspläne - auch wir haben einen Landesaktionsplan mit dem Titel: „Einfach machen - unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ - sind auf den Weg

gebracht und werden, wie schon gesagt, sehr bedächtig umgesetzt.

Die erste Berichterstattung der Bundesrepublik zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vor dem Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung bei den Vereinten Nationen hat im Mai 2015 stattgefunden. Der daraus resultierende Hausaufgabenkatalog ist nicht gerade klein zu nennen. Auch Kommunen und Landkreise in unserem Land erarbeiten kommunale Aktionspläne oder haben sie bereits erarbeitet.

Mit dem Bundesteilhabegesetz soll nicht nur die Eingliederungshilfe weiterentwickelt werden. Vielmehr soll die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Sinne von mehr Teilhabe und mehr Selbstbestimmung weiterentwickelt werden,

(Beifall bei der LINKEN)

- jetzt kommt es: - ohne dabei eine neue Ausgabendynamik zu erzeugen und die bestehende Ausgabendynamik zu bremsen - so in etwa lautet die Aufgabenbeschreibung für dieses Gesetzesvorhaben durch die Bundesregierung.

Und schon haben wir den ersten großen Stolperstein. Ich wiederhole: ohne dabei eine neue Ausgabendynamik zu erzeugen und die bestehende Ausgabendynamik zu bremsen. Das ist doch nicht wirklich ernst zu nehmen, werte Bundesregierung? Wie soll das gehen? Die Menschen fühlen sich verklapst.

(Beifall bei der LINKEN)

Was wir dringender denn je benötigen, ist ein Umdenken in den Köpfen aller Menschen. Wir brauchen den weiteren konsequenten und raschen Abbau von Barrieren, Barrieren in Gebäuden, Barrieren in der Verwaltung, Barrieren in der Politik, Barrieren in den Köpfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das kostet Kraft und Geld und ist nur gemeinsam zu meistern.

Der Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes liegt vor. Seit Monaten wird darüber von Menschen mit Behinderung diskutiert, wird hinterfragt. Er wird ebenso begrüßt, wie er auf Ablehnung und Skepsis stößt.

Ernüchtert will ich für meine Fraktion klarstellen: Es gibt in diesem Gesetzentwurf durchaus Positionen, die einen Fortschritt darstellen und die Teilhaberechte verbessern, so zum Beispiel dass die Partnereinkommen bei der Einkommensprüfung für die Eingliederungshilfe nicht mehr herangezogen werden sollen oder das Budget für Arbeit oder die Stärkung der Werkstatträte und die schon lange fällige Möglichkeit, Frauenbeauftragte in den Werkstätten zu wählen, oder die Verbesserung der finanziellen Situation der Werkstattbeschäftigten im Artikel 11 des Bundesteilha

begesetzes, die die finanzielle Unabhängigkeit und damit die Teilhabe sichert, oder die Elternassistenz oder die Einführung des Merkzeichens „Tbl“ für taubblinde Menschen, ohne allerdings für einen Nachteilsausgleich zu sorgen, was gut gemeint ist, allerdings das Ziel verfehlt.

Neben all diesen positiven Erwägungen zu dem Gesetz kommt man relativ schnell zu den Mängeln, die nach unserer Einschätzung und vor allem der von Betroffenen bemerkt und kritisiert werden und die zu erheblichen Verschlechterungen in der Lebensführung behinderter Menschen führen können. Lassen Sie mich einige dieser Mängel nennen.

Erstens. Das Wunsch- und Wahlrecht, also die freie Wahl von Wohnort und Wohnform - einer der Kernpunkte des Bundesteilhabegesetzes -, wird durch die neuen Regeln nicht ausreichend berücksichtigt. Es wird als defizitäres Sonderrecht im SGB XII fortgeschrieben und wird nicht dazu beitragen, den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu erreichen. Die gemeinschaftliche Inanspruchnahme durch mehrere Leistungsberechtigte, das Poolen von Leistungen, ist nicht von der Zustimmung der Betroffenen abhängig; dies entscheiden die Kostenträger. - Selbstbestimmung sieht anders aus, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Viele der heute Anspruchsberechtigten fürchten für sich und für spätere Anspruchsberechtigte, dass sie aus dem Leistungsrahmen fallen, weil sie zukünftig nachweisen müssen, dass sie in fünf von neun Lebensbereichen dauerhaft personelle und technische Unterstützung bzw. Hilfe benötigen oder ihnen mindestens in drei Lebensbereichen die Ausführung von Aktivitäten gar nicht möglich ist.

Diese Regelung wird ergänzt durch die Kann-Regelung, dass ein Leistungsanspruch auch unter diesen fünf Lebensbereichen bestehen kann. Aber „kann“ bedeutet eben nicht „muss“. Der Anspruch ist nicht einklagbar. Es ist ein Ermessensspielraum, mit dem bisher viele mehr negative Erfahrungen verbinden als positive. Damit, meine Herren und Damen, werden neue Barrieren aufgebaut, anstatt sie abzubauen.

Ich möchte an dieser Stelle einmal die neun Lebensbereiche nennen, damit Sie sich ein Bild von den Schwierigkeiten machen können, vor denen Anspruchsberechtigte zukünftig stehen werden: Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Aktionen und Beziehungen, bedeutende Lebensbereiche, gemeinschaftliches, soziales und staatsbürgerliches Leben. Unter Vereinfachung von Lebensbedingungen und mehr Teilhabe verstehen wir etwas anderes.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens. Der Gesetzesentwurf trennt existenzsichernde Leistungen von Teilhabeleistungen und kann deshalb zur gegenseitigen Aufrechnung führen, Teilhabemöglichkeiten damit stark einschränken und schlimmstenfalls bei Betroffenen zu der Entscheidung führen: Ich kann aus Kostengründen nicht die ambulante Wohnform wählen, sondern ziehe in eine stationäre Wohnform. Das erschwert auch unser Landesvorhaben „ambulant vor stationär“. Die Ermöglichung von selbstständiger Lebensführung sieht anders aus.

Viertens. Nachteilsausgleiche sollten im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ungeachtet des Einkommens und Vermögens erbracht werden. Dazu muss das Gesetz die Freistellungsgrenzen deutlich anheben. Mehrfachanrechnungen von Vermögen in unterschiedlichen Leistungssystemen für Eingliederungshilfeberechtigte darf es nicht geben. Behinderung darf nicht arm machen. Die Gefahr besteht aber.

Fünftens. Die Chance, die Wirtschaft mit einer deutlichen Anhebung der Ausgleichsabgabe zu zwingen, mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, wurde verschenkt. Allerdings hat die Ausgleichsabgabe ihre eigentliche Aufgabe, in ausreichender Anzahl Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen zu schaffen, verfehlt, was vielen Beteiligten von Anfang an klar war.

Unternehmen zahlen, sie können sich freikaufen. Über Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung muss dann auch nicht mehr nachgedacht werden. Im Budget für Arbeit liegt der bessere Ansatz, um mehr Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen.

Auf unsere Kritik stößt außerdem die durch das Gesetz geschaffene Möglichkeit, dass neben dem ersten Arbeitsmarkt und den Werkstätten auch andere Leistungsanbieter etabliert werden, ohne an die Qualitätsstandards zum Beispiel der Werkstätten gebunden zu sein. Dies genügt unserem Qualitätsanspruch ausdrücklich nicht.

Sechstens. Als besonders fatal empfinden wir den angestrebten Vorrang der Pflege vor der Eingliederungshilfe in den verschiedenen Wohnformen.

Behinderte Menschen mit Pflegebedarf benötigen sowohl Eingliederungshilfe, also Hilfe für Teilhabe, als auch Pflege. Für die Betroffenen ist es besonders wichtig, sich ständig in alltäglichen Lebensbereichen zu üben, selbstständig den Haushalt zu führen und an den verschiedensten Möglichkeiten des sozialen und gesellschaftlichen Lebens tatsächlich teilhaben zu können. Dies sichert neben Lebensqualität und Selbstständigkeit für den Einzelnen auch einen Gewinn für die Gesellschaft, also für uns alle. Dieser Aspekt scheint allzu oft nicht gesehen zu werden. Das ist einfach nur traurig.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe hier nur einige Punkte benannt, bei denen der Wortlaut des Gesetzentwurfes die Gefahr in sich birgt, dass es nicht zu Verbesserungen, sondern zu Verschlechterungen der Lebenslagen behinderter Menschen kommen kann.

Auch die Zahl der Stellungnahmen von Interessenverbänden behinderter Menschen und der Wohlfahrtsverbände sprechen Bände. Es sind in der Regel auch keine Ein- oder Zweiseitenpapiere. Auch dies ist eindeutig ein Zeichen für die Defizite in diesem Gesetz.