Protocol of the Session on October 27, 2016

Meine Damen und Herren, noch einmal: Juristisch gilt ein 18-Jähriger als erwachsen, strafrechtlich bleibt er bis zu seinem 21. Geburtstag ein Heranwachsender. Das ist lebensfremd und hat im europäischen Rechtsvergleich kein Vorbild. So verbüßen in Großbritannien zum Beispiel Heranwachsende ihre Haftstrafe zwingend nach Erwachsenenstrafrecht. Das ist keine Regelung aus dem Mittelalter, sondern eine Strafrechtsreform der Labour-Regierung unter Tony Blair von 1998.

Strafrecht ist Bundesrecht. Deshalb wenden wir uns mit unserem Antrag an die Landesregierung, auf Bundesebene über den Bundesrat die Initiative zu ergreifen. Unser Antrag bietet Sachsen-Anhalt die Chance, sich zum Vorreiter einer Modernisierung des Strafrechts zu machen. Nichts anderes ist die Abschaffung der Privilegierung von Volljährigen im Strafrecht.

Meine Damen und Herren! Unser Antrag ist nicht lebensfremd und sollte eine Mehrheit finden. Es wäre schon viel gewonnen, wenn künftige Strafdelikte oder Gewaltexzesse junger Erwachsener - ob mit oder ohne Waffen - von unseren Richtern nicht wider besseres Wissen als Jugendverfehlung oder sittliche Unreife bewertet würden.

Das verhöhnt die Opfer und deren Angehörige und schafft in der Öffentlichkeit den fatalen Eindruck einer Kuscheljustiz, die die Täter schützt. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der AfD)

Ich sehe keine Nachfragen oder Interventionen zu dem Redebeitrag von Herrn Diederichs. Dann können wir in der Debatte fortfahren. Für die Landesregierung spricht Frau Ministerin Keding.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Das Jugendgerichtsgesetz stammt aus dem Jahr 1923 und ist damit zugegebenermaßen ein schon etwas älteres Gesetz. Das Motto, unter welchem es steht, hat jedoch nichts an Aktualität verloren. Es gilt der Grundsatz: Erziehung vor Strafe.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Gesetz aufgeweicht. So sollten „frühreife“ Personen und „charakterlich abartige Schwerverbrecher“ nach allgemeinem Strafrecht belangt werden, auch wenn sie unter 18 Jahren alt waren; ja sogar zwölfjährige Kinder sollten bestraft werden.

Das Jugendgerichtsgesetz von 1953 hat diese ideologischen Schärfungen beseitigt und - ganz

im Gegenteil - die Zuständigkeit der Jugendgerichte auf Heranwachsende ausgedehnt. Bei Heranwachsenden - wie eben definiert: 18 bis 21 Jahre - ist von Fall zu Fall und in jedem Einzelfall durch eine Würdigung der Persönlichkeit und der Tat durch das Jugendgericht zu prüfen, ob im konkreten Fall Erwachsenenstrafrecht oder das Jugendgerichtsgesetz Anwendung findet. Es gibt also keinen Automatismus, keine Regel. Dabei muss es bleiben.

Jugendkriminalität ist sehr oft entwicklungsbedingt, hängt mit dem jugendlichen Alter zusammen und ist von Beeinflussungen durch andere abhängig.

Im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung wird Jugendkriminalität als „episodenhaftes […], in allen sozialen Schichten vorkommendes und zudem im statistischen Sinne normales Phänomen“ bezeichnet. Es mag vielleicht ein Trost für an ihren Kindern verzweifelnde Eltern sein, dass es eine jugendspezifische Erscheinung sein mag.

Das Jugendgerichtsgesetz regelt deshalb in § 2 Abs. 1, dass die Anwendung des Jugendstrafrechts vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken soll.

Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Dazu normiert § 105 Abs. 1, in welchen Fällen und inwieweit die Vorschriften über die Verfehlungen Jugendlicher und ihre Folgen auch für die Straftaten Heranwachsender gelten sollen.

Heranwachsende werden also nicht per se begünstigt. Das Gesetz erkennt vielmehr an, dass die geistig-seelische Entwicklung hinter der äußerlichen Entwicklung oder dem Lebensalter zurückbleiben kann. Das gilt sicherlich nicht für die große Menge der Jugendlichen, der 18-Jährigen, die in das Erwachsenenleben eintreten und denen man auch die Rechte und Pflichten eines Erwachsenen auferlegt. Aber es gibt solche Fälle.

Wir sollten uns die Chance, auf Jugendliche und auf Heranwachsende mit erheblichen Reifeverzögerungen einzuwirken und erzieherisch nachhaltig vorzugehen, nicht selbst nehmen. Deswegen plädiere ich für die Ablehnung dieses Antrags.

(Zustimmung bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Herr Poggenburg, haben Sie eine Frage oder möchten Sie eine Intervention machen?

(André Poggenburg, AfD: Eine Frage!)

Frau Keding, möchten Sie eine Frage beantworten? - Sie müssen es sogar. Aber ich wollte höflich sein.

(Eva von Angern, DIE LINKE: Das be- grüßen wir!)

Bitte, Herr Poggenburg, Sie haben das Wort.

Frau Ministerin, eine Frage. Sie haben gerade ausgeführt, es gibt unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten. Die Entwicklung muss nicht immer dem biologischen Alter entsprechen. Man hat in Bezug auf die Pflichten Rücksicht zu nehmen. Wir haben jetzt im Grunde genommen das Strafrecht betrachtet, bei dem man das berücksichtigen sollte. Müsste dies dann aber nicht auch bei den Rechten berücksichtigt werden?

(Eva von Angern, DIE LINKE: Er versteht einfach nicht, was dahinter steht! - Zuruf von Silke Schindler, SPD)

Es kann doch nicht sein, dass einer Person, bei der festgestellt wird, dass der Reifegrad nicht erreicht ist, die vollen Rechte zugeschrieben werden. Wir haben das vorhin mit Blick auf den Waffenschein und sonst was gehört. Das ist doch eine Diskrepanz, die gar nicht geht. Wenn, dann müsste das doch auf beiden Seiten der Waage eine Rolle spielen. - Danke.

Ich denke schon, dass bei Heranwachsenden mit erheblichen Reifeverzögerungen die Prüfungsmechanismen wirken - sei es beim Erwerb eines Führerscheins, sei es beim Erwerb eines Schulabschlusses, sei es bei der Frage, ob sie weitere Rechte zugesprochen bekommen. Sie wirken jedenfalls nicht, solange sie nicht verurteilt werden. Es wirkt nicht im Hinblick auf das Wahlrecht.

(André Poggenburg, AfD: Führerschein so- wieso nicht!)

Danke. Ich sehe keine weiteren Nachfragen. Frau Keding, jetzt haben Sie die Chance, sich hinzusetzen.

Bevor wir in der Debatte fortfahren, begrüße ich Damen und Herren aus dem Bereich der polizeilichen Medienarbeit beim Ministerium für Inneres und Sport Sachsen-Anhalt. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Manchmal ist allein die Bezeichnung der Besuchergruppen für uns ein lehrreich in Bezug auf das, was es in diesem Land alles gibt.

(Heiterkeit)

Wir fahren in der Debatte fort. Für die SPD-Fraktion hat nunmehr Frau Schindler das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Argumente in dem Antrag mit der Überschrift „Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende abschaffen“ sind nicht neu. Es sind altbekannte Argumente gegen die Anwendung des Jugendstrafrechts.

Ich habe mich schon darüber gewundert, dass Sie nicht auch gleich den Vorschlag unterbreiten, den Sie in ihrem Parteiwahlprogramm festgeschrieben haben, nämlich die Strafmündigkeit auf zwölf Jahre herabzusetzen. Wenn Sie es getan hätten, dann hätten wir das gleich zusammen ablehnen können. Oder wollen Sie wirklich in die Zeit des Nationalismus zurück?

(Oh! bei der AfD - Zuruf von Mario Leh- mann, AfD)

Die Ministerin hat es gerade ausgeführt: Genau damals galt dies auch.

(Zustimmung - Zuruf von Stefan Gebhardt, DIE LINKE)

Es sind immer wieder die gleichen Argumente, die auch von Ihnen angebracht werden: Wer als 18Jähriger einen Pkw führen darf, der soll auch nach dem allgemeinen Strafrecht belangt werden.

(Zuruf von André Poggenburg, AfD)

Sie haben gerade danach gefragt. Dazu sage ich: Ja, für einen Waffenschein brauche ich Genehmigungen und da wird die Zuverlässigkeit geprüft. Einen Waffenschein bekommt man nicht so einfach. Ich kann nicht einfach eine Waffe kaufen. Für die Fahrerlaubnis muss ich eine Prüfung absolvieren. Die Fahrerlaubnis bekomme ich auch nicht ohne entsprechende Zuverlässigkeit.

(Zustimmung bei der SPD - Sebastian Striegel, GRÜNE: Es sei denn, man ist Reichsbürger! Dann geht das auch ohne!)

Das ist - so wurde es dargestellt - ein Relikt aus der Zeit, als die Volljährigkeit noch mit 21 Jahren erreicht wurde.

Aber Sie ziehen genau die falschen Schlüsse daraus. Als im Jahr 1975 das Alter für das Erreichen der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre gesenkt worden ist mit der Begründung, dass die Heranwachsenden über die notwendige Einsichtsfähigkeit verfügen und für ihre Entscheidungen die Verantwortung tragen können, ist § 105, der zu dem Zeitpunkt auch galt, aus bestimmten Gründen nicht mit aufgehoben worden, nämlich weil dieses Schutzrecht für die Heranwachsenden im Strafrecht fortgelten soll.

Natürlich gilt das nur für einen Teil der Heranwachsenden und rechtlich Volljährigen. Der Mär

davon, dass dies hauptsächlich und ständig angewandt wird, kann man entgegenhalten, dass das eben nur eine - wie Sie es in der Begründung zu Ihrem Antrag auch darstellen - Kann-Regelung ist. Das Jugendstrafrecht kann angewendet werden. Es ist immer eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, eine Einzelfallprüfung anhand der Persönlichkeit des Täters und anhand des Charakters der Tat.

Sie beschimpfen damit die Richter und die Gutachter und unterstellen, dass sie nicht in der Lage sind, diese Einzelfälle genau und konkret zu betrachten, und in unserem Rechtssystem immer viel zu milde mit Heranwachsenden umgehen.

(Eva von Angern, DIE LINKE: Und das mal eben pauschal und ohne Nachweise!)

Das ist aber nicht mit Fakten und Zahlen zu belegen. Sie vermitteln den Anschein, dass ausschließlich das Jugendstrafrecht angewandt wird. Die letzten statistischen Zahlen des Bundesamtes, die uns zur Verfügung stehen, besagen jedoch, dass in Sachsen-Anhalt im Jahr 2014 das Jugendstrafrecht in 54 % der Fälle angewandt worden ist, und das natürlich nicht bei einfacheren Delikten, sondern gerade bei schweren Delikten. Denn gerade bei diesen wird im Einzelfall geprüft, warum ein Heranwachsender Recht und Unrecht nicht unterscheiden kann und eine Tat von solcher Schwere begangen hat.

Wir sollten keinesfalls den Vorrang des Erziehungsgedankens des Jugendgerichtsgesetzes infrage stellen. Wir lehnen daher populistische Forderungen nach der Einschränkung oder Abschaffung des § 105 des Jugendgerichtsgesetzes ab.

Den Alternativantrag der LINKEN lehnen wir ebenfalls ab. Dieser konnte die Zustimmung der Koalitionsfraktionen nicht finden. - Vielen Dank.