Protocol of the Session on October 16, 2015

Und: Die vier Jahreszeiten waren schon vor 1989 schlechte Ausreden; wir sollten sie an der Stelle auch nicht für uns heranziehen.

(Ministerpräsident Herr Dr. Haseloff: Das machen wir ja gerade nicht! - Zurufe von der CDU)

Diese Geschichte - deswegen will ich mich tatsächlich nicht in Zahlen verlieren - hat, glaube ich, viel mit Psychologie zu tun. Das primäre Problem, vor dem wir stehen, ist, dass in Sachsen-Anhalt immer noch sehr viele junge Menschen, sehr viele Frauen und sehr viele gut ausgebildete Menschen abwandern, dass sie nicht hier ihre Perspektive sehen, sondern dass sie überlegen, ihre Lebensperspektive, ihre Entwicklung in einem anderen Teil Deutschlands oder Europas zu suchen, was überhaupt nicht schlecht ist. Aber: Viel weniger Menschen kommen zu uns, als in diesem Bereich weggehen.

Wir sind offensichtlich für viele Menschen, die die wirtschaftliche Entwicklung wirklich voranbringen können, als Land inzwischen einfach nicht attraktiv, weil sie nicht glauben, dass sie hier eine Pers

pektive finden. Das können und müssen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Natürlich gibt es dafür Gründe. Die permanente Debatte um Kürzen, um Sparen, um Streichen hat dazu geführt, dass diese Landesregierung maßgeblich die pessimistischen Perspektiven in diesem Land ausgestrahlt hat. Wir mussten schrumpfen, schrumpfen, schrumpfen, der öffentliche Sektor noch schneller als die demografische Entwicklung.

Das ist das Signal, das Menschen irgendwann geglaubt haben. Deswegen sind sie weggegangen, wenn sie eine Alternative haben. Das ist ein Prozess, den wir umkehren können. Dieses Land hat es verdient, nicht mit Pessimismus, sondern mit Optimismus, nicht mit Streichungsdebatten, sondern mit Aufbau regiert zu werden. Darin liegt unsere Alternative, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich das ganz kurz illustrieren. Vor einigen Tagen war in der „Volksstimme“ ein großer Artikel über die Entwicklung der IT-Branche. Diese entwickelt sich bei uns hervorragend. Sie stößt jetzt aber an ihre Grenzen. Die Grenzen bestehen nicht in fehlendem Kapital. Sie bestehen nicht in fehlenden Gewerbeflächen.

Die Leute, die in dieser Branche gebraucht werden, sind weg. Die Aufträge wären da, und die Firmen, die in dieser Branche tätig sind, können die Aufträge jedoch nicht annehmen, weil die Leute inzwischen nach München oder nach Berlin, übrigens dem Hotspot junger Start-up-Unternehmen in der gesamten Bundesrepublik - übrigens ist Berlin deutlich besser als Bayern -, gegangen sind.

Diese Menschen brauchen Optimismus. Diese Menschen brauchen keine Streichungs- und Schließungsdebatten. Diese Menschen brauchen die Ansage, hier kann sich etwas entwickeln, hier wird sich etwas entwickeln. Deswegen brauchen wir eine andere Politik in diesem Land.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will kurz noch auf zwei andere Dingen eingehen, die die Ursachen dieser Entwicklungsschwäche sind.

Das ist zum einen das autoritäre Selbstverständnis der Landesregierung. Schauen wir uns einmal an, wie diese Landesregierung mit den Kommunen umgeht. Ich will nicht die permanente Debatte darüber führen, sie kriegen zu viel oder zu wenig Geld. Kommunen kriegen immer zu wenig Geld.

Aber schauen wir uns einmal an, wie sich die Summe bei den Kommunen entwickelt hat, über die sie frei verfügen konnten, nämlich die FAGSumme, und die Summen, die in Sonderprogram

men gespeichert und gebunden gewesen sind, die jeweils ein Minister in Magdeburg ausgibt, nämlich das Verhältnis von FAG-Summe und Stark-Programmen. Dabei haben wir eine ganz eindeutige Entwicklung zu verzeichnen.

Gelder sind aus der allgemeinen Verfügungsmasse der Kommunen herausgenommen worden, um sie in Sonderförderprogramme zu stecken. Über die Sonderförderprogramme wird aber nicht mehr im Gemeinderat und im Kreistag entschieden, sondern am Ministeriumstisch; das ist ein Problem. Das ist autoritäres Politikverständnis dieser Landesregierung; damit muss Schluss sein.

Dazu gehört auch der Umgang mit Protesten, zum Beispiel im Bereich der Hochschulen, im Bereich Kunst und Kultur. Dazu gehört auch ein Prinzip des Durchstellens und des Durchorganisierens statt des Diskurses. Das hat sogar eine CDUWirtschaftsministerin in diesem Land erfahren, die meinte, dass man politische Entscheidungen ausdiskutieren müsste und dass sie nicht durchexerziert werden. Sie ist eines Besseren belohnt - belehrt worden.

(Herr Czeke, DIE LINKE: Belohnt auch!)

- „Belohnt“ kann man inzwischen sagen, aus ihrer eigenen Perspektive, wohl wahr. - Inzwischen kann man aber auch ganz klar sagen: Natürlich war sie diejenige, die die Wirtschaftsförderung wirklich einmal konzentriert auf Innovationen ausrichten wollte. Dafür ist sie nicht geliebt worden, nicht von dieser Landesregierung und auch nicht - das will ich auch ganz klar sagen - von den Wirtschaftsfunktionären in diesem Land. Sie hat diese Linie damals richtig erkannt, die von ihrem Nachfolger aber leider nicht fortgeführt worden ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

All diese Probleme lassen sich aber beheben. All diese Probleme sind Ausfluss von Politik und all diese Probleme kann man anpacken. Deswegen, glaube ich, hat dieses Land Sachsen-Anhalt mit seinen Potenzialen sehr wohl eine Zukunft, deswegen hat dieses Land Sachsen-Anhalt mit seinen Potenzialen eine positive Entwicklung in den nächsten 25 Jahren vor sich, wenn wir endlich in der Lage sind, die Stellschrauben zu lösen, die diese Landespolitik festgezogen hat.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Natürlich kann man sich in diesen Tagen über die Entwicklung des Landes Sachsen-Anhalt nicht unterhalten, ohne etwas zur Flüchtlingsfrage zu sagen. Ich will einmal ganz klar sagen: Herr Haseloff, wir haben eine ganz klare politische Bruchlinie zwischen uns.

(Herr Schröder, CDU: Richtig!)

Wir brauchen in diesem Land keine Debatten darüber, wie viele Flüchtlinge wir zu wollen meinen.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Diese Debatte geht an den Realitäten völlig vorbei.

Ich habe gestern kurz gezuckt, als Frau Feußner für die CDU-Fraktion folgende Formulierung gebraucht hat. Sie hat gesagt, die SPD will ja jedes Jahr 30 000 Flüchtlinge haben. Diese Formulierung hat sie so verwendet. Dazu sage ich: Was für eine Vorstellung! Was für ein Quatsch! Niemand von uns will Leute nach Sachsen-Anhalt locken, die auf ihrer Flucht das schärfste und schlimmste Schicksal erlebt haben, das man sich überhaupt vorstellen kann.

Was wir hier machen, ist die Aufnahme von Menschen, die keine Alternative mehr haben, von Menschen, die ausgebombt sind, vom Tod bedroht sind, die ausgeraubt worden sind, denen von Schleppern das letzte Geld abgenommen worden ist. Diese Menschen kommen zu uns, nicht weil wir das wollen, sondern weil sie ansonsten nur noch die Alternative des langsamen Sterbens haben. Das ist die Alternative, vor der wir stehen. Wir sind nicht diejenigen, die sagen, wir wollen 30 000 oder 40 000 Flüchtlinge. Wir sind diejenigen, die sagen: Wenn Menschen vom Tode bedroht sind, wenn Menschen vom Elend bedroht sind, dann sind wir bereit, sie aufzunehmen und dieses Land gemeinsam mit ihnen zu entwickeln.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Natürlich, Herr Haseloff - Sie sind in einem Interview mit der „Volksstimme“ gefragt worden, wie Sie es regeln wollen -, sind wir alle dafür, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Offensichtlich scheint das aber nicht sonderlich erfolgreich zu sein, wenn man überallhin Waffen liefert. Natürlich würden wir gern dafür sorgen, dass das UNHCR in Jordanien und in der Türkei endlich vernünftig unterstützt wird, damit die Leute dort nicht verhungern müssen, weil sie kein Geld mehr haben. Aber die Situation ist offensichtlich so, dass das nicht funktioniert. Und dann reden Sie über Grenzsicherung.

Wissen Sie, ich war mit Frau Quade vor Kurzem in Tunis und in Palermo. Wir haben uns die sogenannte Nordafrikaroute angesehen. Wenn Sie diese Menschen aufhalten wollen, genauso wie die Menschen aus Syrien, dann reicht keine Mauer, kein Stacheldraht.

(Frau Niestädt, SPD: So ist es!)

Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der „Zeit“ schreibt das am 14. Oktober 2015 so:

„Das eben ist die grausame Wahrheit: Wer eine Mauer nicht zur Kontrolle, sondern zur Abschottung errichtet, der braucht zu der

Mauer einen Schießbefehl. Diese Albträumereien zeigen, wo die Angst landet, wenn der Wirklichkeitssinn verloren geht. Gibt man ihr nach, dann wird die ganze Gesellschaft davon vergiftet; denn die Fantasie einer dichten Grenze muss diejenigen, die da abgewehrt werden sollen, umdeuten: von Opfern zu Invasoren, von Mitmenschen zu Feinden. Starke Mauern brauchen eine starke, aggressive Legende.“

Das ist die klare Wahrheit. Und ich sage: Jawohl, das ist die Wahrheit, die vor 1989 gegolten hat, das ist aber auch die Wahrheit, die nach 1989 gilt. Dieser Verantwortung müssen wir uns gemeinsam stellen.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN und von Frau Schindler, SPD)

Herr Haseloff, wir wollen diese Alternative nicht, und zwar aus unserer eigenen geschichtlichen Verantwortung heraus. Herr Haseloff, ich weiß, wovon ich spreche, ich habe selbst an einer solchen Grenze gestanden. Wenn meine politische Entwicklung in den letzten 25 Jahren irgendeine Bedeutung hatte, dann die, dass ich eine solche Grenze nie wieder in meinem Leben politisch legitimieren will.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Diese Situation führt uns dazu, dass wir Aufnahmebereitschaft beweisen können, und diese Situation führt dazu, dass wir Aufnahmebereitschaft beweisen müssen. Ich finde es angstbesetzt und ich finde es falsch zu sagen: Wir sind nicht in der Lage, 30 000 Menschen - das sind etwa 1,3 % der Bevölkerung - zu integrieren. Das wird - das hat Jens Bullerjahn gestern völlig richtig formuliert - die zentrale Herausforderung in der nächsten Legislaturperiode sein. Angesichts dessen heißt es nicht, wie ein ängstliches Kaninchen vor der Schlange zu sitzen, sondern es geht darum, die Dinge anzupacken und hinzukriegen. Das ist ein Weg, den schafft dieses Land! Dafür sind wir stark genug!

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir erleben diese Auseinandersetzung. Wir haben sie vorgestern auf dem Domplatz erlebt und wir erleben Sie täglich. Die Alternative dazu ist Angst, Abschottung, Hass und Gewalt. Wenn wir diese Auseinandersetzung um die Köpfe der Menschen nicht gewinnen, dann wird sich diese Gesellschaft brachial verändern. Dann wird sie sich nicht nur für Flüchtlinge brachial verändern, sondern auch für unsere eigene Wahrnehmung.

Niemand von uns, der heute hier sitzt, kann sich dieser Auseinandersetzung entziehen. Jeder ist gefragt: Auf welche Seite stellst du dich? Auf die von Weltoffenheit, Solidarität, Internationalität und

Zukunft oder auf die von Angst, Gewalt und Hass? - Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind bereit, diese Auseinandersetzung um die Köpfe der Menschen zu führen, und wir glauben, wir können sie gewinnen. - Danke.

(Starker, langanhaltender Beifall bei der LIN- KEN)

Danke schön. - Nach der Erwiderung des Oppositionsführers spricht nun die Vorsitzende der SPDFraktion Frau Abgeordnete Budde.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Land Sachsen-Anhalt, das mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 neu erstand, hat am 14. Oktober 1990, also vorgestern vor 25 Jahren, seinen ersten neuen Landtag gewählt. Dieser Landtag hat in 25 Jahren viele Gesichter gehabt und er wurde durch sehr viele Gesichter repräsentiert.

Wenn ich in die Runde blicke, dann sehe ich nicht mehr ganz so viele Kolleginnen und Kollegen, die bereits im Jahr 1990 in das Parlament gewählt worden sind. In meiner Fraktion sind die Abgeordneten der ersten Stunde Finanzminister Bullerjahn, Thomas Felke und Tilmann Tögel. Das sind bei der CDU Detlef Gürth, der Landtagspräsident, und Jürgen Scharf. Und das ist bei der LINKEN, wenn ich das richtig sehe, Hans-Jörg Krause.