Protocol of the Session on October 16, 2015

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Land Sachsen-Anhalt hatte Höhen und Tiefen. Aber - auch das will ich ganz deutlich sagen - es hat eine wirtschaftliche Entwicklung genommen, die deutlich Fortschritte in den letzten 25 Jahren an den Tag gelegt hat. Eine Infrastruktur, die mit der Situation von 1989 kaum oder gar nicht mehr zu vergleichen ist und wirklich für fast alle Menschen in diesem Land eine reale Verbesserung der Lebenssituation erbracht hat.

Bei aller Kritik, die gerade auch meine Partei natürlich völlig berechtigt äußert, bleibt es, dies festzuhalten. Tun wir es nicht, würden wir die Leistungen der Menschen in diesem Land schmälern. Sie sind nämlich dafür verantwortlich und keine Regierung an sich, auch keiner, der ihnen das geschenkt hat. Wir würden in einen völlig unangebrachten Pessimismus verfallen. Diesen hätte dieses Land nicht verdient. Wir haben die Chance, eine positive Zukunft in diesem Land zu entwickeln.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Aber - das ist so -: Vergleichen wir die fünf neuen Bundesländer in ihrer Situation von damals bis heute, muss man klar sagen: Sachsen-Anhalt hat wahrscheinlich den schwierigsten Weg hinter sich.

Ich will mich auf zwei Faktoren beschränken, die dies illustrieren. Das ist zum einen die Geschichte mit der Landesidentität: Sachsen-Anhalt als Land. Dass wir es heute überhaupt haben, war im Vereinigungsprozess bei weitem nicht so eindeutig und klar. Das sahen die Sachsen und die Brandenburger immer anders. Sachsen-Anhalt ist jetzt nichts, was eine tausendjährige Geschichte zurückblickend in dieser Kontinuität hatte.

Wir haben Vorläufer; das wissen wir auch. Aber mal ehrlich: Wie hieß denn dieser Vorläufer? - Preußische Provinz Sachsen. Unter Marketingaspekten ist das wahrscheinlich ein Totalausfall. Die einen wollen keine Preußen, die anderen keine Sachsen und keiner will Provinz sein. Das ist schon einmal eine Geschichte, wo wir historisch nicht unbedingt die stärksten Positionen hatten.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist bis heute so: Die Menschen - das zeigt sich - sagen bei allen Umfragen: zuerst einmal der Ort, in dem ich wohne, dann die Region, in der ich lebe, dann fühle ich mich als Ostdeutscher, dann auch noch irgendwie als jemand, der in Sachsen-Anhalt wohnt. Na ja, das ist jetzt so; darüber kann man jammern, muss man aber nicht unbedingt.

Ich sage ausdrücklich: Inzwischen haben wir eine andere Situation. Inzwischen ist eine ganze Generation in diesem Land Sachsen-Anhalt groß geworden. Daher gibt es so eine Macht des Faktischen. Man liebt es vielleicht nicht immer und an jeder Stelle, aber auf jeden Fall hat man sich schon einmal daran gewöhnt. Man ist zwar nicht der enthusiastische Vertreter für dieses Land, aber man kriegt zumindest in der letzten Zeit öfter einmal den Spruch zu hören: Woanders ist es auch nicht besser.

Das ist vielleicht nicht Ausdruck eines überzeugenden Selbstbewusstseins. Aber da entwickelt sich langsam etwas und es entwickelt sich auch in den nächsten 25 Jahren. In 50 Jahren wird man wahr

scheinlich keinen Unterschied mehr hinsichtlich der Landesidentität finden. Daher sage ich: Wir befinden uns mitten in dem Prozess. Es gehört auch Selbstbewusstsein dazu, das nach vorn zu bringen.

(Beifall bei der LINKEN)

In jeder Kritik steckt auch etwas Gutes. Schauen wir uns heute diejenigen an, die sich mit ihrer landsmannschaftlichen Identität brüsten wie die Sachsen, die Thüringer. Ich sage mit aller Deutlichkeit: Vielleicht ist eine zu starke Bezugnahme auf die eigene landsmannschaftliche Identität auch ein Sperrriegel, sich Neuem zu öffnen.

Vielleicht hat Sachsen-Anhalt gerade wegen dieser komplizierten Landesidentität bessere Voraussetzungen, sich Neuem zu öffnen. Auch das ist eine Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber natürlich haben wir - damit kommen wir zu dem zweiten Punkt - die große Schwierigkeit der ökonomischen Entwicklung. Es ist ja so - das wissen alle hier im Raum -, dass der Ministerpräsident, wenn er eine Regierungserklärung hält, diese am Abend vorher den Fraktionsvorsitzenden zur Kenntnis gibt.

An der Stelle gab es gestern tatsächlich Heiterkeit in der Geschäftsstelle meiner Fraktion.

(Zuruf von der SPD: Na so was!)

Sie kamen tatsächlich alle zu mir und haben gesagt: Wulff, wir haben ein Problem. Das, was er zu dem Beginn der Entwicklung Sachsen-Anhalts sagt, ist fast wortgleich mit dem, was du aufgeschrieben hast.

(Ministerpräsident Herr Dr. Haseloff: Du hast die Wahrheit aufgeschrieben!)

Daher haben wir die Überlegung gehabt: Ändern wir das jetzt noch? Man ist ja hier Oppositionsführer. - Dann haben wir gesagt: Nein, das ist auch albern. Wir lassen das jetzt so.

Deswegen glaube ich, auch in diesem Land Sachsen-Anhalt bildet sich wahrscheinlich ein bisschen ein gemeinschaftlich-kollektives Geschichtsbewusstsein heraus. Denn es ist natürlich so: Wie in keinem anderen Land waren wir durch die alten RGW-orientierten Kombinate strukturiert und von deren Zusammenbruch, übrigens auch weil die Ostmärkte zusammengebrochen sind, betroffen, also jene, für die sie zum großen Teil produziert haben. Das hat uns in einer Art und Weise zurückgeworfen wie kein anderes ostdeutsches Bundesland. Das war tatsächlich Teil dieser Geschichte.

Man muss dann einmal über die Konsequenzen dessen reden. Die Konsequenzen waren Massenarbeitslosigkeit in den gesamten 90er-Jahren bis Anfang der 2000er-Jahre.

Die Konsequenzen - auch das will ich klar sagen - in dieser Zeit waren, dass die öffentliche Hand an vielen, vielen Stellen viel stärker Reparaturbetrieb gewesen ist, als sie es ohne diese Massenarbeitslosigkeit gewesen wäre.

Ich sage einmal ganz klar: Wir mussten zum Teil mit öffentlichen Geldern in den 90er-Jahren diese Folgen von Massenarbeitslosigkeit auffangen, zum Beispiel indem wir in den Kommunen in den 90erJahren wie kein anderes ostdeutsches Bundesland vom Umfang und von der Verwendung her eine Investitionspauschale aufgelegt haben. Das haben wir auch deshalb gemacht, weil wir öffentliche Auftragsvergabe in diesem Land brauchten, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese zusätzlichen Aufgaben heute zu einem besonderen Schuldenberg geführt haben. Das ist eine Situation, die etwas mit der Geschichte dieses Landes zu tun hat. Deswegen fand ich es immer falsch, sich diese Schulden gegenseitig um die Ohren zu hauen.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn alle, auch die CDU, die in den 90er-Jahren im Landtag gesessen hat, wussten, dass es zu dieser Geschichte nicht wirklich eine Alternative gegeben hat.

Aber die ökonomische Entwicklung ist vorangeschritten. Tatsächlich gab es einen großen ökonomischen Sprung im Land Sachsen-Anhalt. Wer sich mit Statistiken auseinandersetzt - das will ich Ihnen heute alles ersparen -, der sieht, dass dieser große Sprung in etwa um die Jahrtausendwende kam; das war relativ einfach. Wir hatten die großen Investitionen im Chemiedreieck, die in dem Augenblick, in dem sie sozusagen ans Netz gingen, tatsächlich neben anderen positiven Entwicklungen, die sich langsam andeuteten und aus dem tiefen Tal der Arbeitslosigkeit herauskamen, wirklich zu einem extremen Produktivitätssprung in dieser Zeit geführt haben.

Im Jahr 2001 war Sachsen-Anhalt das erste Mal in seiner Geschichte das Land in Ostdeutschland mit der höchsten Arbeitsproduktivität. Wir haben das 2002/2003 an Brandenburg verloren. Wir haben, glaube ich, noch heute die zweithöchste Arbeitsproduktivität unter den ostdeutschen Ländern.

Allerdings - auch das will ich sagen -: Dieses Problem bezog sich auf wenige Tausend Arbeitsplätze in hochproduktiven Chemie-Anlagen. Was daneben übrig blieb, war immer noch eine extrem hohe Arbeitslosigkeit bei uns in Sachsen-Anhalt.

Erinnern Sie sich: Im Jahr 2002 war das Motto der CDU die Rote-Laterne-Kampagne: Wir müssen diese Regierung ablösen; in diesem Land passiert nichts mehr, in diesem Land entwickelt sich nichts mehr und besteht eine große Arbeitslosigkeit.

- Das war damals die Aussage. Es war eine erfolgreiche Strategie. Sie hat aber - auch das will ich ganz klar sagen - maßgeblich dazu beigetragen, dass wir in Sachsen-Anhalt heute noch immer Selbstbewusstsein aufbauen müssen, das es woanders ohnehin gibt.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese positive Entwicklung hat sich bis 2004/2005 durchgezogen; das können Sie an den Statistiken sehen. Seitdem haben wir aber ein riesiges Problem. Das sind die einzigen Zahlen, die ich hier heute zur wirtschaftlichen Entwicklung bringen möchte.

Seit dem Jahr 2005 hat sich das Bruttoinlandsprodukt in der Bundesrepublik Deutschland um etwa 20 % nach oben entwickelt - real, ohne Inflation -, in allen anderen ostdeutschen Bundesländern fast synchron um eine Spanne zwischen 10 % und 11 % und in Sachsen-Anhalt um 2,5 % seit zehn Jahren. Sachsen-Anhalt ist heute das einzige Bundesland in der Bundesrepublik Deutschland, das die Wirtschaftskraft des Vorkrisenjahres 2008 noch nicht erreicht hat.

(Beifall bei der LINKEN)

Eines erwarte ich von dieser Landesregierung - diese Erwartung ist aber immer enttäuscht worden -, nämlich dass sie zumindest diesen Fakt der Wachstums- und Entwicklungsschwäche überhaupt zur Kenntnis nimmt. Mein zentraler Vorwurf, Herr Haseloff, ist: Auch heute haben Sie es verpasst, diesen Fakt einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen. Der ist die Realität und daran haben Sie heute wieder vorbeigeredet.

(Beifall bei der LINKEN - Ministerpräsident Herr Dr. Haseloff: Sie müssen den öffent- lichen Dienst mit berücksichtigen! Dann kommen Sie darauf!)

- Der öffentliche Dienst ist überall abgebaut worden. Ich kann übrigens den Abbau des öffentlichen Dienstes - das sehen wir heute - nicht als Erfolgsgeschichte definieren. Abbau von öffentlichem Dienst bedeutet unter Umständen auch Abbau von Leistungsfähigkeit, von Perspektive und von Produktivitätsentwicklung, Herr Haseloff.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist wahrscheinlich unser politisches Problem. Ich will auch nicht sagen, dass es sich hierbei um eine Wachstumsschwäche handelt; eigentlich handelt es sich um eine Entwicklungsschwäche. Ich will nicht verkennen, dass es positive Entwicklungen danach gegeben hat.

Natürlich ist die Arbeitslosigkeit - wie überall im Osten - bei uns stark gesunken, in erster Linie wegen der demografischen Entwicklung und des Un

terschieds zwischen den Menschen, die in den Arbeitsmarkt hineingekommen sind, und den Menschen, die herausgegangen sind.

Das will ich klar sagen: Sachsen-Anhalt war in den letzten 15 Jahren bis2013 das Land mit dem stärksten negativen Wanderungssaldo. Wir haben bis zum Jahr 2013 noch mehr Menschen im Wanderungssaldo verloren, als zu uns gekommen sind. Alle anderen ostdeutschen Bundesländer hatten dort schon einen positiven Ausgleich. Auch das führte übrigens dazu, dass die Arbeitslosenquote bei uns sank, in etwa so wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern.

Kommen wir einmal zur Analyse dieser Entwicklungsschwäche. Ich sage ganz deutlich: Auch an der Stelle ist viel einfaches Modellgeschehen unterwegs. Wenn ich über eine zehnjährige Entwicklungsschwäche in diesem Land rede, Herr Haseloff, dann sage ich aber an der anderen Stelle: Einfache Antworten sind dafür nicht passend.

Eine einfache Antwort darauf, dass wir es hier mit einem Wirtschaftsminister zu tun haben, der unambitioniert wirkt, ist: Dann mag er Symbol dieses Problems sein; die Ursache ist er definitiv nicht. Zehn Jahre Entwicklungsschwäche können sich so nicht erklären.

(Beifall bei der LINKEN)

Fehlende Konzernzentralen können diese Entwicklungsschwäche auch nicht erklären. Das ist in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg auch nicht anders. Sie haben dort auch nicht die ganzen Dax-Unternehmen sitzen.

Und: Die vier Jahreszeiten waren schon vor 1989 schlechte Ausreden; wir sollten sie an der Stelle auch nicht für uns heranziehen.