- Sie haben nicht den Namen gewechselt, sondern Sie sind weiterhin Frau Bull. In meinen Unterlagen steht offensichtlich ein falscher Name. Dann hat jetzt Frau Bull das Wort.
Herr Präsident, der Name ist nicht falsch. Das Problem ist einfach, dass unsere Kollegin Hohmann kurzfristig erkrankt ist und ich ihre Stelle einnehme.
Das wollte ich auch gerade sagen. Danke schön. - Sehr geehrte Damen und Herren! Ich denke, der größte Gewinn der friedlichen Revolution vor 25 Jahren war ein Zugewinn an Demokratie und Mitbestimmung, mit all ihren Leidenschaften, mit all ihren Verwerfungen, mit all ihren Anstrengungen, mit den Siegen, mit den Niederlagen, mit den Chancen und auch mit den Risiken. Natürlich könnte ich oder meine Partei und könnten sich viele andere unter Ihnen das eine oder andere mehr vorstellen, um einfach Demokratie ein Stückchen stärker zu beleben, vor allem direkte Demokratie, direkte Teilhabe. Aber ein Gewinn war es allemal.
Deshalb muss uns alle miteinander vor allem eine Frage umtreiben, nämlich wie es gelingen kann, dass Demokratie und Teilhabe für alle Menschen ein tatsächlich alltäglich gelebtes Bedürfnis wird, wie es gelingen kann, dass Demokratie eben nicht das Besondere ist, sondern das Gewöhnliche wird, sozusagen Alltagsdemokratie. Ich denke, Demokratie ist nicht im herkömmlichen Sinne erlernbar, etwa durch akademische Festvorträge oder Simulationen jedweder Art. Ich denke, Demokratie ist nur durch Demokratie erlernbar, und zwar von Kindesbeinen an.
Meine Damen und Herren! Die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen beginnt in erster Linie in den Köpfen der Erwachsenen. Ich glaube, dass wir
uns ein Stück weit von der Diskussion lösen müssen, die im Übrigen auch jetzt bei dem Einbringen des Gesetzes und auch damals bei der Initiative der Bündnisgrünen in den Netzwerken oft geführt wurde bzw. wird: Haben denn Kinder und Jugendliche schon die nötige Reife? Haben Kinder und Jugendliche eigentlich den nötigen Bildungsstand, um komplexe Dinge zu begreifen?
Meine Damen und Herren, ich denke, fehlende Reife - was auch immer das sein soll -, fehlender Bildungsstand - was auch immer das sein soll - sind kein Problem von Kindern und Jugendlichen. Bei Erwachsenen, bei Alten, bei Jungen, bei Männern und Frauen ist es gleichmäßig verteilt. Um es auf den Punkt zu bringen, meine Damen und Herren: Reife ist kein Kriterium für Teilhabe an Demokratie und darf es auch nicht sein. Denn wir leben nicht in einer Expertokratie, sondern in einer Demokratie.
In diesem Fall stimmt es tatsächlich: Der Weg ist das Ziel. Ich sage es noch einmal: Demokratie ist nur durch Demokratie erlernbar und nicht durch Simulation.
Aus diesem Grunde hatten wir vor ungefähr einem Jahr tatsächlich den Anspruch, möglichst viele Akteure und vor allem junge Menschen einzubeziehen, bevor wir dieses Gesetz erarbeiten. Deswegen hat es auch so lange gedauert. Wenn man heute auf unsere vielfältigen Versuche zurückblickt, dann muss man eines sagen: Alle diese Versuche haben uns einiges gelehrt und alle diese Versuche haben uns vor sehr schwierige Fragen gestellt.
Ich glaube, man muss ehrlich sagen, dass alle diese Aktivitäten bei Weitem nicht die Erfolgsgeschichte waren, die wir uns erhofft haben. Die Diskussionen in den sozialen Netzwerken waren meistens geprägt von den einschlägigen Akteuren und von uns selbst. Ein Jugendevent war zwar in der Tat eine Plattform für sehr interessante Ansichten - das muss man sagen - von Studierenden und von jungen Menschen, die meistens ohnehin politisch aktiv sind. Das kann aber nicht den Anspruch erheben, das Meinungsbild zu sein, das tatsächlich die Breite repräsentiert.
All diese Erfahrungen sind eben auch ein Indiz dafür, dass man einen sehr langen Atem braucht, um mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Es sagt auch vieles über den Abstand von Politik zum wirklichen Leben und umgekehrt aus. Es sagt auch etwas darüber aus, dass Kinder und Jugendliche zumeist kaum Erfahrungen mit ganz konkreter demokratischer Teilhabe haben. Woher auch? Es wird ihnen meistens zu wenig zugetraut. Und es zeigt, dass die Teilhabe an Entscheidungsprozessen leider oftmals nicht wirklich zu ihren zentralen Grundbedürfnissen gehört.
Diese Ansichten teilen sie wiederum mit ihren Familien, mit ihren Freunden und mit ihren Bekannten. Von diesen hat niemand einen Masterplan. Aber einen sollte uns alle miteinander die Suche nach mehr Möglichkeiten, demokratische Teilhabe wirklich zu einer lebendigen Sache zu machen.
Unsere Schlussfolgerung ist wiederum: Wir brauchen mehr tatsächliche Handlungsfelder, um sich der Verantwortung zu stellen, um sich auszuprobieren, um zu scheitern, um zu gewinnen, um erfolgreich zu sein, um im Wettbewerb um das beste Argument auch Verantwortung für getroffene Entscheidungen zu übernehmen, sowohl für die Risiken als auch für die Chancen. Es geht nicht darum, Demokratie zu üben, sondern es geht darum, Demokratie am eigenen Leib zu erfahren, und das ganz authentisch.
Meine Damen und Herren! Nach langwierigen Debatten, auch unter uns und im Übrigen kontrovers geführt, legen wir nunmehr ein Artikelgesetz vor. Das sind Vorschläge für solche Handlungsfelder. Es sind Angebote an Kinder und Jugendliche. Wenn man es genau nimmt, sind es nicht nur Angebote an Kinder und Jugendliche, sondern eigentlich Angebote an uns selbst.
Ich will zu einigen wenigen an dieser Stelle Stellung nehmen; ich will nicht das gesamte Gesetz referieren. Wir hatten uns bereits in den Verhandlungen über die Neuregelung des Kommunalverfassungsrechts mit einem Änderungsantrag vor der Sommerpause 2013 darum bemüht, das passive Wahlrecht für Kinder und Jugendliche auf der kommunalen Ebene bereits ab 16 Jahren zu ermöglichen. Dieser Antrag ist Teil des Gesamtpakets. Wenn Sie so wollen, ist es ein vorgeschobener Artikel.
Zum ersten Punkt. Wir wollen Ernst machen, meine Damen und Herren, mit der seit vielen Jahren immer wieder angekündigten Absicht - ich denke an die Ex-Sozialministerin der SPD Frau Dr. Kuppe -, den Rechten und Pflichten von Kindern und Jugendlichen Verfassungsrang einzuräumen.
Dabei geht es uns ganz zentral um die Anerkenntnis, dass Kinder und Jugendliche eigenständige Persönlichkeiten mit eigener Würde und eigener Individualität sind, eben nicht nur Kinder ihrer Eltern. Nun kann man sagen: Ja, das ist nun kein individuell einklagbares Recht. - Das stimmt. Es ist aber generell in der Verfassung an vielen Stellen so. Aber auf diese Art und Weise müssen sich auch Institutionen, muss sich auch politisches Handeln von Gremien der Kontrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit stellen. Das wäre ein Gewinn.
Zweitens. Wir wollen die Herabsenkung des Wahlalters bei den Landtagswahlen von 18 Jahren auf 16 Jahre und Jugendlichen somit das aktive Wahlrecht ermöglichen. Wir wären damit in guter Gesellschaft mit Schleswig-Holstein, mit Hamburg, mit Bremen oder mit Brandenburg.
Ich kann mich im Übrigen dem Änderungsantrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN annähern; denn das wäre in der Tat konsequent. Ich will aber dazu sagen, dass das Thema in meiner Partei nicht unumstritten ist. Insofern bin ich auf die Debatte gespannt. Wichtig ist, dass die Debatte in Bewegung kommt.
Drittens. Wir wollen erreichen, dass sich Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr auch an Volksbegehren, Volksentscheiden und Volksinitiativen beteiligen können.
Viertens. Wir wollen einen Kinder- und Jugendrat auf Landesebene, der eine Stimme im Landesjugendhilfeausschuss bekommt. Für die Betroffenen, nämlich für Kinder und Jugendliche, wäre das eine Möglichkeit, sich in zugegebenermaßen besonderer Art und Weise einzubringen und auch einmal Auseinandersetzungen zu erleben. Auf der anderen Seite wäre es für den Landesjugendhilfeausschuss die Möglichkeit, die Perspektive, die sie vertreten, einmal im Original zu erleben.
Meine Damen und Herren! Diejenigen unter Ihnen, die sich der Initiative „Kinderstadt“ einmal genähert haben und mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch gekommen sind, werden über die Eloquenz und die Argumentationsfähigkeit von Neunjährigen durchaus erstaunt sein. Ich habe zum Beispiel in Bernburg einmal eine Debatte über Steuern und den neunjährigen Bürgermeister dazu erlebt. Das war für mich eine Art Schlüsselerlebnis, um zu sagen: Na klar; denn warum sollten wir uns als Erwachsene nicht auch mit deren Argumenten auseinandersetzen? Das ist der Beginn der Demokratie. Das ist gelebte Demokratie.
Fünftens. Es geht uns um mehr Demokratie in den Schulen. Das ist nicht das erste Mal, wird der eine oder die andere jetzt sagen. Das ist auch in Ordnung. Ich denke, dass es für eine Schule ein unglaublicher Gewinn an Lernfeldern und ein Zugewinn an Perspektiven sein kann, wenn sich dort kommunale Mandatsträger engagieren, was ich unglaublich spannend fände.
Zu den Aufgaben der Schule muss es gehören, ein solches demokratisches Engagement von Schülerinnen und Schülern ausdrücklich zu unterstützen. Dabei geht es um angemessene Freistellungen vom Unterricht. Ich habe diesbezüglich keine Bange, weil auch das Kommunalparlament in unterschiedlicher Art und Weise - das will ich gern zugeben - Lernfeld ist. Dieses Lernfeld wiederum reflexiv zu Bildungsauseinandersetzungen in der Schule zu machen, wäre eine spannende Sache.
Wir sind einmal mehr für die drittelparitätische Zusammensetzung der Gesamtkonferenz. Auch das wäre eine Möglichkeit, Mitbestimmung nicht nur zu simulieren, sondern in Echtzeit zu überführen.
Das Herder-Gymnasium in Halle hat gestern Vertreter der Politik eingeladen, an einem politischen Speed-Debating teilzunehmen. Dort haben sich Schülerinnen und Schüler darüber Gedanken gemacht, wie sie sich Bildungsreformen vorstellen. Sie haben das in sechs unterschiedlichen Gruppen an einem Tisch in verschiedener Art und Weise Politikern vorgestellt. Wir haben dann praktisch immer gewechselt und uns argumentativ damit auseinandergesetzt; wir haben sozusagen den Wettbewerb des besten Arguments simuliert.
Dabei gab es eine ganze Reihe von Vorstellungen, sodass ich mich die ganze Zeit gefragt habe: Na ja, Leute, es wäre doch innerhalb der Schule durchaus möglich, den 45-Minuten-Unterricht abzuschaffen und stattdessen Blockunterricht zu machen. Ferner ging es um die Frage der Ganztagsangebote.
Das Problem, meine Damen und Herren, ist in der Tat, dass es eine Simulation ist, weil die derzeitige Zusammensetzung der Gesamtkonferenz es den Schülerinnen und Schülern nicht ermöglicht, tatsächlich um diese Dinge zu kämpfen, und weil die Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen an der Schule dem entgegensteht. Es wäre auch für Lehrerinnen und Lehrer eine demokratische Herausforderung, mit Argumenten unterwegs zu sein und die eigenen Auffassungen zur Disposition zu stellen. Das wäre ein großer Gewinn. Es ist auch nicht so, dass es aus dem „Wolkenkuckucksheim“ kommt. Ich kenne mindestens eine Schule in Sachsen-Anhalt, die es selbst realisiert.
Meine Damen und Herren! Noch ein Wort zum Entschließungsantrag, der vor allem die Vorschläge aufgreift, die sich nicht in Gesetzestext fassen lassen. Das ist zum einen - das haben wir schon mehrfach gefordert - das Anhörungsrecht des Landesjugendhilfeausschusses in dem zuständigen Ausschuss des Landtages.
Wir wollen zum anderen explizit ein Projekt ermöglichen, bei dem es um die Ausbildung von Moderatorinnen und Moderatoren für die Partizipation von Kindern und Jugendlichen geht. Es ist eine kulturelle Herausforderung, davon auszugehen, dass die Kinder und Jugendlichen nicht einfach das machen müssen, was die Erwachsenen sagen, sondern es ist wichtig, sie ernst zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Insofern glaube ich, dass eine Moderation durchaus vermitteln kann. Es wäre ein ausgesprochen lohnendes Vorhaben, Kindern und Jugendlichen gemeinsam mit Erwachsenen den demokratischen Austausch zu ermöglichen. Das wäre kulturelles Neuland, aber, wie ich denke, ein sehr spannendes.
Sehr verehrte Damen und Herren! Man muss nicht alle Vorschläge, die Sie im Artikelgesetz finden, teilen; auch wir haben nicht alle Artikel gleich lieb, sie sind auch umstritten. Aber man muss etwas tun. Man muss etwas tun, um Möglichkeiten zu schaffen, um Kindern und Jugendlichen die Chance einzuräumen, selbst etwas zu gestalten, und zwar nicht als Zaungäste oder als Zuhörer, sondern als eigenständige Akteurinnen und Akteure.
Es gibt hiermit schon ganz gute Erfahrungen und gute Beispiele. Eine Schule hatte ich bereits genannt. Ich denke, man kann dabei unglaublich viel gewinnen - nicht mehr und nicht weniger als eine lebendige demokratische Gesellschaft, die sehr viel mehr ist als nur eine Vertreterdemokratie. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir bitten um Überweisung des Gesetzentwurfes zur federführenden Beratung in den Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitberatung in die Ausschüsse für Bildung und Kultur, für Wissenschaft und Wirtschaft, für Landesentwicklung und Verkehr, für Finanzen, für Recht und Verfassung sowie Gleichstellung.
Vielen Dank, Frau Kollegin Bull. - Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Bischoff. Bitte schön, Herr Minister.