Protocol of the Session on April 26, 2013

Alternativantrag Fraktionen CDU und SPD - Drs. 6/2027

Einbringer des Antrages der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ist Herr Erdmenger. Bitte schön, Sie haben das Wort. - Herr Erdmenger, wollen Sie nicht? Spricht der Antrag für sich selbst?

(Herr Erdmenger, GRÜNE: Doch!)

- Jetzt will er. Jetzt lassen wir ihn reden. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 100 Jahren war keiner der hier Anwesenden geboren. Aber man kann Berichten aus der Zeit entnehmen, dass vor 100 Jahren Kindern im Grundschulalter noch ein Bewegungsradius gelassen wurde, der wie folgt begrenzt wurde: Geh’ nicht weiter, als dass du bis zum Abendessen zurück sein kannst. Das kann man übertragen; das ist ungefähr ein Radius von 10 km, den man Kindern damals offenbar eingeräumt hat.

In meiner Kindheit war das nicht mehr so. In meiner Kindheit in den 70er-Jahren hieß es: Geh’ nicht weiter als bis zur nächsten Hauptstraße. Das war in meinem Fall ein Radius von ungefähr 1 km.

Heute schrumpft der Freiraum, den Kinder haben, für viele Kinder im Grundschulalter auf einen Punkt, nämlich auf den Punkt, an dem sich ihre Eltern aufhalten oder sich die betreuende Person befindet, mit der sie im Moment unterwegs sind. Es wird ihnen entweder gar kein Radius oder nur noch ein sehr kleiner Radius eingeräumt.

(Zuruf von Herrn Lange, DIE LINKE)

Dieses Verhalten der Eltern, das ich gar nicht als irrational bezeichnen möchte, liegt nicht nur am Pkw-Verkehr, aber es liegt auch an dem zunehmenden Pkw-Verkehr.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Herr Lan- ge, DIE LINKE: In der Stadt oder im länd- lichen Raum? - Zuruf von der SPD: Gibt es da einen Unterschied? - Herr Lange, DIE LINKE: Ja!)

Sachsen-Anhalt hat hohe Unfallzahlen bei den Kinderunfällen. Die Bundesanstalt für Straßenwesen wertet die Zahl der Unfälle mit Kindern in ihrem Kinderunfallatlas aus. Damit Sondereffekte einzelner Jahre ausgeschlossen werden, macht sie das nur alle fünf Jahre gemacht und nimmt das Mittel dieser fünf Jahre. Zuletzt hat sie den Zeitraum von 2006 bis 2010 ausgewertet und den Durchschnitt der Jahre berechnet. Sie vergleicht die Zahl der Unfälle mit der Zahl der Kinder, die in der jeweiligen Kommune leben. In die Statistik gehen nur polizeilich gemeldete Unfälle, also die statistisch erfassten Unfälle ein.

Sachsen-Anhalt stand hier schon bei der letzten Auswertung im Jahr 2005 nicht gut da. Es lag im hinteren Mittelfeld. Aber bei der erneuten Auswer

tung mussten wir feststellen: Wir liegen auf dem drittletzten Platz. Wir haben zu viele Kinderunfälle in Sachsen-Anhalt.

Noch dramatischer ist die Situation, wenn man sich einzelne Kommunen anguckt. Dieser Kinderunfallatlas hat insgesamt 400 Kommunen verglichen und hat sie in Kategorien eingeordnet, die vorderen 25 % mit den wenigsten Unfällen, dann die Kategorien dazwischen und die hinteren 25 % mit den meisten Unfällen. Die Landkreise und kreisfreien Städte in Sachsen-Anhalt finden sich meist in den hinteren 25 %. Ich habe keine Angabe gefunden - aber ich mag auch mal eine übersehen haben -, wo wir mal in den vorderen 25 % waren. Wir haben da eine dramatische Situation.

Besonders Magdeburg steht bei den Zahlen der Kinderunfälle ganz hinten. Für ein in Magdeburg lebendes Kind ist das Risiko, Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden, fast doppelt so hoch wie bei den sichersten 100, also den vorderen 25 % der untersuchten Kommunen in Deutschland. Dazu - auch das sagen uns die Zahlen - trägt vor allem die hohe Gefährdung von Kindern als Fußgängerinnen und Fußgänger in Magdeburg bei.

Besonders häufig verunglücken Kinder als PkwMitfahrer. Hier belegt Sachsen-Anhalt den vorletzten Platz im Bundesvergleich. Die Gefahr, dass Kinder als Mitfahrer im Pkw verunglücken, hat sich entgegen dem allgemeinen Trend sogar noch erhöht. Der allgemeine Trend bei den Verkehrsunfallzahlen - das wissen alle, die sich damit beschäftigen - ist glücklicherweise rückläufig, jedenfalls was die Zahl der schweren und tödlichen Unfälle angeht. Im Vergleich kann man das für mehrere Jahre sagen.

Die Unfallgefahr für Kinder als Pkw-Mitfahrer in Sachsen-Anhalt ist zumindest statistisch gesehen höher geworden und ist inzwischen doppelt so hoch wie in manchen Stadtstaaten. Besonders signifikant ist das im Altmarkkreis Salzwedel, der dabei an der viertletzten Stelle steht.

Aber auch die anderen Kreise und Städte, die ich nicht erwähne, brauchen sich jetzt nicht schmunzelnd über die genannten Beispiele zu beugen. Auch andere Kreise und kreisfreie Städte stehen nicht viel besser da. Man kann also festhalten: Wir haben hier ein landesweites Phänomen und wir haben ein Problem.

Nach meinen Recherchen war die Verkehrssicherheit zuletzt im Jahr 1999 Thema im Landtag. Damals gab es eine Große Anfrage der CDU-Fraktion, die sehr ausführlich gewesen ist, mit 210 teilweise sehr spannenden Fragen. In der Großen Anfrage ging es aber vorwiegend darum, wie wir die Verkehrserziehung anders gestalten können, wie wir den Kindern beibringen können, sich im Verkehr sicherer zu bewegen. Außerdem muss man sagen, dass es nicht allein um die Verkehrssicher

heit von Kindern, sondern um die Verkehrssicherheit allgemein ging.

Wenn wir uns jetzt um die Frage kümmern wollen, was man denn tun soll, wie man die Situation ändern kann, dann, finde ich, ist zunächst eine Erkenntnis ganz wesentlich: Natürlich muss man die Verantwortlichkeit der Kinder stärken und ihre Fähigkeit verbessern, am Straßenverkehr teilzunehmen. Man darf die Verantwortung für Verkehrsunfälle aber nicht allein bei den Kindern suchen. Es ist klar, dass Kinder Kinder bleiben und die Verantwortung für die Unfälle nicht übernehmen können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir brauchen präventive Maßnahmen und eine wirkliche Prävention. Dafür gilt eine einfache Regel, die manchen hier im Haus nicht gefallen wird. Sie lautet: Jede Autofahrt weniger ist eine Gefahr für einen schweren Unfall weniger.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Wege mit anderen Verkehrsmitteln müssen attraktiver und sicherer werden. Es gibt viel zu tun. Es gibt Städte in Sachsen-Anhalt, die haben damit angefangen. Ich will ein Beispiel herausgreifen. Das ist Sangerhausen, das ich in der vergangenen Woche besucht habe. Sangerhausen hat vor Kurzem eine ganze Fülle von Einbahnstraßen für den Gegenverkehr von Radfahrerinnen und Radfahrern geöffnet.

(Herr Schröder, CDU: Vom Land gefördert!)

- Nein, nicht vom Land gefördert, aber immerhin vom Land zugelassen.

(Herr Schröder, CDU: Gegenläufigkeit des Verkehrs wird vom Land gefördert! Glauben Sie es mir!)

Sangerhausen hat das Radfahren in der Stadt damit attraktiver gemacht. Das ist eines von vielen guten Beispielen, wie Kommunen dazu beitragen können, Wege ohne Auto attraktiver zu machen.

(Zustimmung von Herrn Striegel, GRÜNE)

Viele Landesprogramme haben einen Einfluss auf die Attraktivität der Wege. Ich nenne nur den kommunalen Straßenbau, die Stadtentwicklung und die Fragen, wie gestalten wir öffentliche Gebäude, gibt es dort Abstellmöglichkeiten für Fahrräder oder beispielsweise für Kinderwagen, wie kommen wir dorthin bzw. gibt es einen Anschluss an den ÖPNV. Wir haben viele Möglichkeiten, für eine höhere Verkehrssicherheit zu sorgen. Man muss aber leider konstatieren, dass dies in den vorhandenen Programmen nur am Rande betrachtet wird.

Es ist aber auch klar - einige werden beruhigt sein, dass ich das sage -, dass das Auto ein bedeutendes Verkehrsmittel in unseren Städten und vor

allem auf dem Land bleiben wird. Daher müssen wir die Rahmenbedingungen anpassen.

Eine effektive Maßnahme ist, das Tempo herauszunehmen. Das Tempo, die gefahrene Geschwindigkeit bei Unfällen hat Einfluss auf das Zustandekommen und auf die Schwere eines Unfalls. Zum einen geht es um die Länge der Reaktionszeit und die Länge des Bremswegs, zum anderen um die Aufprallgeschwindigkeit, die natürlich die Schwere eines Unfalls beeinflusst.

Bei Tempo 50 haben Sie oftmals gerade erst reagiert, wenn das Unfallopfer auf das Auto aufprallt, während Sie bei Tempo 30 schon zu bremsen begonnen haben. Die gefahrene Geschwindigkeit macht also einen großen Unterschied für die Unfallgefahr. Deswegen gilt grundsätzlich: Wir müssen mit dem Tempo herunter. Das gilt in Ortschaften, weil Tempo 30 gut für die Sicherheit ist und gegen den Lärm hilft.

Es gilt aber auch außerorts. Denn außerorts haben wir an vielen Straßen keine Rad- und Fußwege. Es gibt etwa 1 000 km Bundesstraßen und etwa 2 000 km Landesstraßen ohne Rad- und Fußwege. An diesen Straßen muss es möglich sein, der Gefahr von schweren Unfällen an den Punkten, wo wir das erkennen, mit Tempo 70 vorzubeugen.

Um das hinzubekommen, brauchen wir größere Spielräume für die Kommunen. Die Landesregierung hat diese Spielräume. Als oberste Verkehrsbehörde hat sie die Möglichkeit, auf die Frage Einfluss zu nehmen, welche Maßstäbe dafür gelten, Tempo 30 oder Tempo 70 zuzulassen.

Viele Anträge, welche die Kommunen dazu stellen, werden abgelehnt. Das kann jeder beobachten. Wir fordern, dass die Landesregierung ihre Spielräume nutzt.

Ein weiterer Punkt, der für die Sicherheit der Kinder eine große Rolle spielt, sind die Schulwege. „Schulwegpläne“ ist ein Stichwort. Schulwegpläne sind Übersichten pro Schule mit den geeigneten Wegen, auf denen sich die Schule zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen lässt, wobei es um die Frage geht, welche Wege und welche Straßenkreuzungen sicher sind.

Wir haben in Sachsen-Anhalt durchaus solche Schulwegepläne. Wir sind aber noch weit davon entfernt, dass sie flächendeckend vorliegen. Die Verkehrswacht ist aktiv und auch der umweltfreundliche Verkehrsclub VCD, aber auch der ADAC fordert solche Schulwegpläne. Er hat eine ganze Menge an Materialien herausgegeben und bietet Leitfäden und Ratgeber an, um solche Schulwegpläne anzufertigen. Erst jüngst hat in Niedersachsen ein Expertengespräch des ADAC zu solchen Schulwegplänen und zur Sicherheit des Schulweges stattgefunden, an dem unser Innen

minister teilgenommen hat. Es gibt also in der Tat Aktivitäten, an die wir anknüpfen können.

Schulwegpläne waren im Übrigen auch schon im Jahr 1999 Thema der CDU-Fraktion. In der Großen Anfrage wurde nach den Schulwegplänen gefragt. Schon damals antwortete die Landesregierung: „Die Umsetzung ist an einzelnen Standorten ausbaufähig.“ Ich glaube, das gilt leider noch heute. Daran muss sich endlich etwas ändern.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe einige konkrete Ansatzpunkte vorgetragen, was wir tun können, um die Sicherheit der Kinder im Straßenverkehr zu verbessern. Es gibt natürlich noch deutlich mehr zu tun. Deswegen beantragen wir, die Landesregierung zu beauftragen, die Unfallzahlen zu analysieren, sich dies genauer anzuschauen und selbst zu evaluieren.

Die Verkehrsunfallstatistik mit den Unfallzahlen, die wir vom Innenministerium bekommen, hilft uns leider nicht weiter. Es gibt aber auch eine Datenbank zur Verkehrsunfallstatistik, mit deren Hilfe man deutlich mehr auswerten kann. Wir hoffen auf eine Auswertung durch die Landesregierung.

Außerdem ist natürlich auch ein Maßnahmenplan seitens der Landesregierung gefragt. Ich möchte das nicht gleich „Konzept“ nennen. Ich wäre schon zufrieden, wenn wir einen Maßnahmenplan mit zehn oder meinetwegen sieben Punkten bekommen könnten. Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, wer an drittletzter Stelle steht, der hat noch viel zu tun. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Erdmenger. - Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Webel. Bitte schön, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Verkehrsunfälle unter Beteiligung von Kindern werden nicht nur von den unmittelbar beteiligten Familien mit großer emotionaler Betroffenheit aufgenommen, sondern stehen oft auch im Fokus der Öffentlichkeit und werden von dieser besonders wahrgenommen.

Das prozentuale Risiko von Kindern, Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden, ist gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung aber geringer als das Risiko in anderen Altersgruppen. Der Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung beträgt in Sachsen-Anhalt ca. 11 %. Dagegen sind Kinder mit ca. 1 % an den Verkehrsunfällen beteiligt. Das ist leider immer noch zu viel, wie uns der Kinder

unfallatlas zeigt. Mit diesem drittletzten Platz können wir uns nicht zufrieden geben.