Aber zweifellos ist nicht alles gut, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. Deshalb ist es gut, dass wir heute die Debatte haben, um in die Zukunft zu schauen und zu sagen, was verändert werden muss.
Schauen wir zunächst auf den Arbeitsmarkt. Thema Leiharbeit: Welcher Gedanke stand dahinter? - Der Gedanke dahinter war folgender: Wir müssen die Arbeit flexibilisieren. Wir müssen die Leiharbeit
von starren Korsetts befreien, weil wir dann mehr Jobs schaffen und mehr Möglichkeiten haben, Menschen in Arbeit zu bringen. Beispielsweise wurde die Zweijahresfrist für Leiharbeit aufgehoben und vieles mehr.
Welche Bedeutung hat das für Sachsen-Anhalt? - In Sachsen-Anhalt hat sich durch diese Ausdehnung der Leiharbeit der Umfang der Leiharbeit von 8 700 Menschen im Jahr 1999 auf 22 500 Menschen im Jahr 2008 nahezu verdreifacht. Es gibt in Sachsen-Anhalt Betriebe, in denen 30 % oder 50 % der Belegschaft Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen sind.
Das heißt, wir haben Folgendes erlebt: Durch die Maßnahme der Ausdehnung, der Erleichterung der Leiharbeit ist in großen Teilen eine Umsteuerung von der Stammbelegschaft hin zu einer Belegschaft von Leiharbeitern und Leiharbeiterinnen erfolgt, weil das die Möglichkeit eröffnet hat, Tarifvereinbarungen zu unterlaufen, wobei die Arbeiter und Arbeiterinnen zu schlechteren Bedingungen arbeiten. Es ist also eine Verlagerung von guter Arbeit hin zu Leiharbeit erfolgt.
Die Leitplanken für gute Arbeit haben also gefehlt. Deshalb sagen wir: Hier muss nachgesteuert werden. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit auch für Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen vom ersten Tage an!
Die Leiharbeit muss begrenzt werden. Dazu sagen wir: Maximal 10 % der Belegschaft sollen aus Leiharbeitern und Leiharbeiterinnen bestehen. Das reicht aus, um Spitzen abzufedern.
Das zweite Instrument sind Minijobs. Warum hat man Minijobs eingeführt? - Dabei haben zwei Gedanken eine Rolle gespielt. Zum einen hat man gedacht: Wenn man Minijobs einführt, hat man ein Mittel, um Schwarzarbeit aus der dunklen Ecke in das Licht zu holen, um also die Schwarzarbeit einzudämmen und den Prozentsatz der angemeldeten Arbeit zu erhöhen. Zum anderen hat man gedacht, dass Minijobs eine Brücke zum regulären Arbeitsmarkt sein können, indem man Menschen, die jahrelang nicht gearbeitet haben, die Möglichkeit gibt, über Minijobs Anschluss an den Arbeitsmarkt zu gewinnen.
Heute, nach zehn Jahren, sind wir klüger. Wir schauen auf das Szenario und was stellen wir fest? - Ich denke, mit der Eindämmung der Schwarzarbeit - wenn man an die haushaltsnahen Dienstleistungen denkt -
ist doch einiges erreicht worden, Herr Borgwardt. Ich würde nicht sagen, dass gar nichts erreicht worden ist. Aber als Brücke zum regulären Arbeits
markt haben die Minijobs bekanntlich nicht funktioniert. Minijobs sind keine Brücke zum regulären Arbeitsmarkt.
Deswegen ist es falsch, die Verdienstgrenze für Minijobs immer weiter auszudehnen, von 360 € auf 400 €, heute 450 €.
Ein Minijob mit einem Verdienst von 450 € bedeutet für jemanden, der einen Stundenlohn von gut 5 € bekommt, eine halbe Stelle. Das ist kein Minijob, sondern das sind schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse.
Wir wissen heute auch, dass Minijobs gerade für Frauen zu Armutsfallen geworden sind. Insbesondere Frauen haben oft Minijobs, weil es häufig Tätigkeiten sind, die von Frauen ausgeübt werden. Insofern werden durch Minijobs Frauen daran gehindert, sich eine eigenständige Existenzsicherung aufzubauen.
Kommen wir zum dritten Merkmal der Arbeitsmarktreform, zu der Ausdehnung der Zumutbarkeitsregelungen und der Einführung von Sanktionen. Dies hat dazu geführt, dass Arbeitslose im Grunde genommen mehr oder weniger jeden Job annehmen mussten, weil ihnen sonst eine Reduzierung des Regelsatzes drohte.
Dazu muss man sehr deutlich sagen: Das hat RotGrün nicht gewollt. Es war die Mehrheit der CDU und der CSU im Bundesrat, die das in die Agenda 2010 hineingedrückt hat.
Dazu sage ich Ihnen ganz klar: Der Regelsatz soll das Existenzminimum absichern. Ein Existenzminimum ist unantastbar; es kann nicht durch Sanktionen reduziert werden.
Deswegen stimme ich mit der Analyse überein: Leiharbeit, Minijobs, Zumutbarkeitsregeln - das ganze Paket hat dazu geführt, dass wir nunmehr in Deutschland einen ausgedehnten Niedriglohnsektor haben.
Einer anderen Analyse stimme ich aber nicht zu, Herr Gallert. Wir wollten von Anfang an einen Mindestlohn. Unser Ziel war nicht die Etablierung eines Niedriglohnsektors.
Aber damals war mit der SPD und mit Kanzler Schröder an die Einführung eines Mindestlohns nicht zu denken. Auch weite Teile der Gewerkschaften wollten damals keinen Mindestlohn.
Ich bin sehr froh, dass sich die Debattenlage geändert hat und es jetzt eine breite Zustimmung von der LINKEN über die SPD und die Gewerkschaften bis hin zu den GRÜNEN zu der Einführung eines Mindestlohns gibt. Das gibt mir die Hoffnung, dass wir noch in diesem Jahr einen Mindestlohn einführen können. Nur bei der CDU dauert es offensichtlich länger als zehn Jahre, bis sie einsieht, dass wir einen Mindestlohn brauchen.
Zu einer weiteren Säule, den sozialen Sicherungssystemen. Auch dazu möchte ich ein paar Maßnahmen betrachten. Es ist richtig, dass die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds, des sogenannten ALG I, zunächst auf zwölf Monate reduziert wurde; das wurde dann ein bisschen angehoben.
Herr Gallert, das war in der Tat eine Maßnahme, die ich nicht richtig fand. Ich habe gesagt: Das ist eine Versicherungsleistung. Wer länger in die Versicherung einzahlt, der soll auch länger Leistungen bekommen. Warum kappt man das jetzt?
Aber auch ich muss feststellen, dass durch diese Maßnahme der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 % auf 3 % reduziert wurde und sich damit mehr als halbiert hat.
Eine weitere Maßnahme war die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum sogenannten Hartz-IV-Regelsatz. Warum hat man das gemacht? - Das hat man nicht nur gemacht, um Doppelstrukturen abzuschaffen, sondern dabei waren nach meiner Auffassung zwei Gedanken ausschlaggebend.
Der eine Gedanke war in der Tat, den Sozialhilfeempfängern wieder eine Chance zu geben, sie an den Arbeitsmarkt, an gute Beratung, an gute Maßnahmen heranzuführen. Der andere Gedanke dabei war folgender: Die Arbeitslosenhilfe hatte sich immer noch an dem letzten Einkommen orientiert, das der Arbeitslose hatte, aber sie war vollständig steuerfinanziert.
Deshalb fanden wir es richtig zu sagen: Wenn das Existenzminimum steuerfinanziert abgesichert wird, ist es nur fair, dass es für alle Menschen in gleicher Weise abgesichert wird und dass nicht zwischen Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosenhilfeempfängern unterschieden wird. Das war aus unserer Sicht ein erster wichtiger Schritt hin zu einer bedarfsorientierten Grundsicherung für alle Menschen.
Nur - auch das müssen wir konstatieren -: Die tatsächlichen Bedarfe sind nicht ausreichend berücksichtigt worden. Der Hartz-IV-Regelsatz ist zu niedrig. Das Verfassungsgericht hat uns aufgeschrieben, dass die Bedarfe von Kindern überhaupt nicht berechnet wurden. Deshalb sagen wir: Auch hierbei muss nachgebessert werden. Wir brauchen eine Kindergrundsicherung.
Ich halte es auch für falsch, dass wir den Schritt gegangen sind in Richtung Bedarfsgemeinschaften, anstatt eine individuelle Existenzabsicherung vorzusehen. Das führt zum Beispiel dazu, dass, wenn ein Kind von Eltern, die Hartz IV bekommen, eine Ausbildungsvergütung erhält, das auf den Regelsatz angerechnet wird. Das halte ich für Unsinn.
Ich glaube, mit diesem ganzen Umbau, der in Teilen sicherlich richtig ist - das sagen wir nach wie vor -, bei dem man an bestimmten Stellen nachbessern muss, ist noch etwas anderes passiert, das mich auch sehr beschäftigt. Es ist passiert, dass sich das Staatsverständnis von vielen Menschen im Land verändert hat, dass Deutschland von vielen nicht mehr als Sozialstaat gesehen wurde, der einspringt, wenn man ihn braucht, wenn man ins Straucheln kommt, der einem wieder aufhilft. Der Staat wurde plötzlich als Disziplinierungsmaschine gesehen, der viele Menschen in Existenzangst getrieben hat, als Disziplinierungsmaschine, mit der wir in vielen Fällen die Menschen, die keine Arbeit haben, zum Problem gemacht haben.
Aber nicht die Menschen, die keine Arbeit haben, sind das Problem. Der Arbeitsmarkt ist das Problem.