Protocol of the Session on March 22, 2013

Zu den negativen Dingen gehörte, dass im Saldo die Arbeitslosigkeit damals bei 22 % lag und noch anstieg. Sie fiel letztlich auf den heutigen Stand von teilweise unter 10 %. Das ist natürlich mit einigen negativen Dingen erkauft worden, die eben schon angesprochen worden sind.

Etwas, das, so glaube ich, zu der Zeit aber unstreitig war, war die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. Denn diejenigen, die in der Sozialhilfe waren, hatten erstens überhaupt keine Chance, gefördert zu werden, weil sie ohnehin aus der Statistik herausfielen und eigentlich abgeschrieben waren. Dazu gehörte eine Vielzahl von Menschen, die nicht nur das Recht, sondern auch die Möglichkeit hatten, von den Förderungen des Staates und auch von der Beratung zu profitieren. Ich glaube nach wie vor, dass das ein richtiger Schritt war.

(Zustimmung von Frau Niestädt, SPD)

Er wurde sicherlich dadurch erkauft, dass das Arbeitslosengeld abgesenkt worden ist und teilweise andere Dinge auch mit durchgesetzt worden sind, die später - zumindest mir - transparenter erschienen, als sie es vorher waren. Diese Dinge haben aber auch zu einem Abbau geführt.

Eine weitere Sache, die auch damals kritisch gesehen wurde und die heute in der Rückbetrachtung kritisch gesehen wird, war sicherlich die Einschränkung, die Sie, Herr Gallert, mit den anderen Reformen, die dem vorgeschaltet waren, gemeint haben. Das waren die - in Anführungszeichen -

Aufkündigung des Kündigungsschutzes, die Eingrenzung von Tarifverträgen und verschiedene andere Dinge - Sie haben die Sozialversicherungssysteme genannt -, die damals dahintergesteckt haben. Diese gehen tatsächlich auf die grundsätzliche Annahme zurück, man könne damit die Eigenverantwortung und die eigene Vorsorge ein Stück weit vorantreiben. Das war der Inhalt der Agenda 2010.

In der Abwägung kann man vielleicht sagen - das ist heute meine Einschätzung; ich halte die Agenda 2010 in der Grundausrichtung übrigens nicht für falsch -: Es ist aber unterlassen worden, die Menschen rechtzeitig mitzunehmen und sie darauf vorzubereiten. Der Schnitt war zu radikal und kam zu schnell.

Die damalige Regierung hat es zweitens unterlassen, die Auswirkungen, die dieser Umbau mit sich brachte, stufenweise mit zu betrachten. Denn das größere Problem war meines Erachtens, dass die Form, in der - ich rede jetzt als Arbeitsminister - etwa Hartz IV und Arbeitslosengeld II von der Agentur und vom Jobcenter verwaltet wurden, vielen völlig unbekannt war.

Viele empfanden es - ich denke, man kann es so sagen - auch als eine Art der Entwürdigung. Denn bei diesem Verfahren war die Wahrung der Menschenwürde vielleicht nicht unbedingt das erste Ziel. Die Offenlegung von Einkommensverhältnissen und Ähnliches standen sehr stark im Vordergrund, auch eine gewisse Skepsis dahin gehend, ob die Menschen überhaupt arbeitswillig sind.

Ich halte es nach wie vor für das schwierigere Problem, dass es nicht gelungen ist, die Menschen mitzunehmen und zu motivieren. Hinzu kam - das ist eine Einschätzung, die damals vielleicht auch schwierig war -, dass der Arbeitsmarkt gerade in den neuen Ländern nicht die Möglichkeiten hergegeben hat, um die Menschen sofort wieder in Arbeit zu bringen.

Diese haben somit, selbst wenn sie durch Agentur und Jobcenter gefördert worden sind - damals noch in ABM, später in Ein-Euro-Jobs oder Bildungs- und Bewerbungsmaßnahmen -, oft die Erfahrung gemacht: Es ist ein Drehtüreffekt; ich komme wieder an dieselbe Stelle; ich bekomme doch keine Arbeit. - Dadurch hat sich teilweise eine Atmosphäre breitgemacht nach dem Motto: Es hat sowieso keinen Zweck, dass ich mich anstrenge und Bewerbungen abschicke; ich bekomme ohnehin nichts.

Das ändert sich zurzeit, darauf muss ich jetzt nicht eingehen. Deshalb wollen wir unser Augenmerk viel mehr darauf richten, Menschen gezielt zu fördern, sie auch mitzunehmen, damit sie tatsächlich auf dem ersten Arbeitsmarkt landen. Dort sind die Möglichkeiten heute wesentlich besser, als sie vor zehn Jahren und in den Jahren danach waren.

Vielleicht muss man noch eines sagen. Bei all den negativen Betrachtungen, die ich jetzt auch anführe, gibt es natürlich auch etliches Positives, das in Vergessenheit geraten ist. Ich nenne Folgendes: Der Zuschuss für die Ich-AG, der heute in dem Gründungszuschuss aufgegangen ist, hat zumindest dazu geführt, dass sehr viele sich selbständig gemacht haben. Ich gebe zu, dass es darunter viele Scheinselbständige gab und solche, die dahin gedrängt worden sind. Aber es war für viele auch eine Möglichkeit - das ist auch in Zahlen nachzulesen -, sich dauerhaft auf dem ersten Arbeitsmarkt in der Selbständigkeit auszuprobieren.

Wenn ich bei Negativbeispielen bin, ist meine Überzeugung - das sage ich jetzt nicht für die Landesregierung; dieser eine Satz sei mir vielleicht als Sozialdemokrat zu sagen erlaubt -: Wir hätten damals gleichzeitig einen Mindestlohn einführen sollen, dann wären uns viele andere Dinge erspart geblieben.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜ- NEN)

Auch die Schaffung von Arbeitsplätzen und Ähnliches wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen. Denn die Folge der Entwicklung ist tatsächlich, dass wir zwar einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosenquote zu verzeichnen haben. Dieser ist aber durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse „erkauft“ worden

(Herr Borgwardt, CDU: Das war damals schon bekannt!)

- das ist unbestreitbar -, in den neuen Ländern und sicherlich auch in Sachsen-Anhalt durch gering entlohnte Erwerbstätigkeit und Minijobs. Leiharbeit hat ein viel größeres Gewicht als anderswo. Auch die Anzahl der Personen, die trotz Vollzeiterwerbstätigkeit unterhalb der Niedriglohnschwelle, also für einen Lohn unterhalb von 1 300 € arbeiten, liegt bei uns bei 22 %. 70 000 Beschäftigte müssen zusätzlich Mittel über die Agentur beziehen.

Ich glaube, dass wir dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen können. Die Diskussion, die in den letzten Wochen im Willi-Brandt-Haus und anderswo geführt worden ist - ich habe sie teilweise mitverfolgt -, zeigt auch, dass wir nicht einfach stehenbleiben können bei der Agenda 2010 und bei den Voraussetzungen, die ihr vorausliefen.

Übrigens haben Sozialdemokraten einen bitteren Preis dafür bezahlt: Wir haben die Wahlen nach 2005, als die Arbeitsmarktreformen griffen, sofort verloren, und wir sind in der Folge in vielen Länder tatsächlich massiv eingebrochen. Das hat sich erst in den letzten Jahren ein wenig geändert. Daher sage ich: Der Preis war hoch, und das machen Sozialdemokraten und Verbündete nicht, weil sie

gern Wahlen verlieren, sondern weil damals damit die Hoffnung verknüpft war, tatsächlich etwas zu erreichen.

(Töne eines Mobiltelefons erklingen)

- Oh, es gibt gleich Begeisterung.

(Zuruf: Und Jubel!)

Ein letztes Wort zu den Auseinandersetzungen, die es jetzt zwischen den Parteien gibt. Die einen sehen es jetzt kritisch. Es ist auch unter Sozialdemokraten nicht einfach, die Diskussionen zu führen. Deshalb sage ich: Wir müssen nach vorn blicken.

Die Diskussionen werden bei den GRÜNEN geführt, die mit im Boot waren, wenn auch mit unterschiedlicher Zustimmung auf Parteitagen. Darauf will ich nicht eingehen.

Ich weiß auch, dass die CDU von der erfolgten Entwicklung profitiert hat. Ich bin überzeugt davon, dass der Weg so falsch nicht war.

(Zustimmung von Herrn Schröder, CDU)

Es hat mich immer geärgert - aber das habe ich halt geschluckt -, wenn es hieß: Dieses ALG II oder Hartz IV oder die Agenda ist Armut per Gesetz. - Das hat mich tief getroffen und trifft mich heute noch immer. Als würden wir Sozialdemokraten oder in Koalition mit den GRÜNEN ein Gesetz erlassen, das Menschen direkt in die Armut bringt und sie dort belässt.

(Frau Dirlich, DIE LINKE: Nach zwölf Mona- ten!)

Daher glaube ich: Es war ein Versuch, der in dieser Zeit richtig war, und er hat auch Erfolge gezeigt.

Ich bin im letzten Jahr skeptisch geworden. Ich war zweimal in Spanien und habe das erste Mal erlebt - ich habe mich damit vorher nicht beschäftigt -, dass die Spanier gesagt haben, sie wären froh, wenn sie Hartz IV hätten. Etwas Derartiges gibt es überhaupt nicht.

Das haben wir in vielen südeuropäischen Ländern. Dort gibt es überhaupt nichts, weder Fordern noch Fördern noch eine Grundsicherung. Die betreffenden Personen müssen wieder nach Hause in das elterliche Nest. Darunter sind manchmal auch 30-Jährige. Es gibt eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 %. Diesbezüglich liegen wir bei unter 10 %. Es gibt also auch Bedingungen, die sich erst in der Folge zeigen und die positive Wirkungen gezeigt haben.

Mit Blick auf die negativen Wirkungen, die sich auf dem Weg gezeigt haben, müssen wir daran arbeiten, dass wir sie überwinden. Diesbezüglich ist, glaube ich, zuallererst zu nennen, dass wir in der

nächsten Zeit die Einführung eines Mindestlohns umsetzen sollten.

(Zustimmung bei der SPD)

Danke schön, Herr Minister Bischoff. - Digitale Formen der Begeisterung waren schon zu hören. Aber es gibt auch die Meldung zu einer analogen Nachfrage von Herrn Gallert. Möchten Sie die Frage beantworten?

Ja, klar.

Bitte, Herr Gallert.

Herr Bischoff, wir werden sicherlich in vielen Dingen weiterhin unterschiedlicher Meinung sein. Ich will Sie bloß auf ein Problem hinweisen. Ich kenne auch die Argumentation: Man hätte das alles machen können, hätte aber gleichzeitig einen gesetzlichen Mindestlohn einführen sollen.

Es gibt eine interessante Studie - es gibt inzwischen viele interessante Studien - zur Bilanz der Agenda 2010, unter anderem von dem sehr unternehmernahen Weltwirtschaftsinstitut Hamburg, das die Agenda 2010 in Bausch und Bogen lobt: Super! Bombig! Noch viel mehr hätten wir machen müssen.

Diese Studie weist auf einen sachlichen Zusammenhang hin, genau wie übrigens der Kollege Urban, seines Zeichens Vorstandsmitglied der IG Metall. Sie sagen: Der sogenannte Erfolg der Agenda 2010 bestand in der Etablierung des Niedriglohns. Hätte man zeitgleich den gesetzlichen Mindestlohn eingeführt, hätte man diesen Erfolg, den man sich angeheftet hat, nie gehabt.

Deswegen sagen wir: Wer heute eine gesetzlichen Mindestlohn einführt, der konterkariert im Grunde all das, was mit der Agenda 2010 zur Etablierung des Niedriglohns unternommen worden ist.

Ebenso hat der Kollege Schröder bereits im Jahr 2005 in Davos gesagt hat, er sei stolz darauf, endlich einen super funktionierenden Niedriglohnsektor etabliert zu haben. Wer also einen Mindestlohn einführt, der hebt im Grunde genommen viele Wirkungen, die mit der Agenda 2010 gewollt waren, auf dem Arbeitsmarkt wieder auf.

Ich habe vorhin gesagt, dass mit der Agenda 2010 Beschäftigung „erkauft“ worden ist mit dem Niedriglohngebiet. Das können wir nicht völlig außer

Betracht lassen. Aber gleichzeitig müsste man zumindest im Blick haben, dass Menschen überhaupt in Beschäftigung sind,

(Zustimmung bei der CDU)

auch wenn die Bezahlung noch unterhalb der Niedriglohnschwelle liegt, was mich nicht zufriedenstellt, und dass die Tatsache, dass sie überhaupt in Beschäftigung sind, mehr ist, als wenn sie zu Hause bleiben.

Ich wurde letztens in einem Interview gefragt - es ist dann nicht so gebracht worden -, was ich den Friseurinnen sagen würde - ich gehe ja auch zum Friseur -, wenn sie nach Hause gehen und weniger verdienen, als wenn sie auf Grundsicherung angewiesen wären.

Darauf habe ich gesagt: Das ist schon bitter, aber es macht mehr Sinn, zur Arbeit zu gehen. Nicht nur der sozialen Kontakte wegen, sondern weil Arbeit auch ein Stück Lebenssinn vermittelt und weil man einfach eine Selbstbestätigung erfährt, die man nicht erfährt, wenn man zu Hause bleibt.

Trotzdem bin ich damit natürlich nicht zufrieden und sage: Wir müssen einen Mindestlohn haben. Denn man muss von der Arbeit, die man macht, existenzsichernd und gut leben können.