Protocol of the Session on November 16, 2012

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 35. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der sechsten Wahlperiode und begrüße Sie auf das Herzlichste.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Wir setzen nunmehr die 19. Sitzungsperiode fort. Ihnen ist der neue Zeitplan vorgelegt worden. Wir beginnen mit der Aktuellen Debatte; das ist der Tagesordnungspunkt 22.

Ich darf Sie alle daran erinnern, dass heute Herr Minister Stahlknecht ab 11 Uhr und Frau Ministerin Professor Wolff sowie Herr Minister Dr. Aeikens ganztägig entschuldigt sind.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:

Aktuelle Debatte

Entwicklung demokratiefeindlicher Einstellungen insbesondere im Osten Deutschlands

Aktuelle Debatte Fraktion DIE LINKE - Drs. 6/1599

Für das Thema in der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit zehn Minuten pro Fraktion. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten. Es wurde folgende Reihenfolge vereinbart: DIE LINKE, SPD, GRÜNE, CDU. Zunächst hat die Antragstellerin das Wort. Bitte schön, Herr Fraktionsvorsitzender Gallert.

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, werte Kolleginnen und Kollegen! Der Grund für diese Aktuelle Debatte ist eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung unter der Überschrift „Die Mitte im Umbruch“. Die Studie ist meines Wissens - zumindest in dieser Form - zum sechsten Mal vorgelegt worden; sie erscheint in einem Zweijahresabstand. Die Studie hat aus unserer Sicht sehr bedenkliche Ergebnisse erbracht.

Ich hatte ursprünglich vor, etwas zum wissenschaftlichen Aufbau und zum Analysekontext dieser Studie zu sagen. Ich habe mich gestern Abend aber entschlossen, meine Rede vollständig zu verändern.

(Zuruf von Herrn Borgwardt, CDU)

- Herr Borgwardt, hören Sie erst einmal zu.

Grund dafür ist ein Text, der mir und anderen gestern Abend im Internet zugänglich gemacht worden

ist. Es handelt sich um die Schilderung einer Busfahrt in unserer Stadt Halberstadt, die vor wenigen Tagen stattgefunden hat. Sie hat überhaupt nichts Spektakuläres. Sie hat leider etwas unwahrscheinlich Durchschnittliches, aber sie ist gerade deswegen so aussagekräftig. Deswegen will ich Ihnen einige Passagen aus dieser Erzählung vorlesen.

Die Schilderung beruht auf der Darstellung einer Frau, die zusammen mit 20 Flüchtlingskindern aus Serbien, Syrien, der Türkei und Bosnien in Halberstadt unterwegs ist und in einen Bus einsteigen will. Darin heißt es wie folgt:

„’Nee, die wollen da alle mitfahren, das gibt es doch nicht’, prustete die eine Frau. ‚Das ist ein Schul- und Kindergartenbus. Die da sind gesund und können laufen, haben gesunde Beine!’, sagte ein ca. 25-jährige Mutter mit ihrem eineinhalb Jahre alten Mädchen. Ich sagte, dass dies meines Erachtens ein Bus für alle Menschen ist, und lächelte sie an! ‚Ich kann dir gleich eine in die Fresse hauen, du …’, sagte sie daraufhin zu mir, ‚ich will nicht, dass die die Luft im Bus verpesten!’, und stieg in den Bus ein! Ich sagte zu den 20 Kindern und fünf Frauen (aus Syrien, der Türkei, Bosnien und Ser- bien) , dass sie einsteigen sollen, und schrie gleichzeitig ein ‚Willkommen in Deutschland, Rassismus 2012’ in den trüben späten Nachmittag, nichtsahnend, was im Bus noch alles passieren sollte …

Kaum in den Bus hineingegangen, sah ich sie schon hinten prustend im Bus sitzen! Ein paar Kinder und Frauen saßen ihr ebenfalls gegenüber, und sie sagte zu einer weiteren Frau: ‚Die brauchen bloß die Hände aufzumachen, und schon kriegen sie alles!’ Ein Mädchen aus Serbien sah, wie ich da hingehen wollte. Sie hielt mich fest und sagte: ‚Sage nichts …, die ist nicht ganz richtig.’

Doch ich wollte das nicht so stehen lassen und meinte, dass sie Unwahrheiten erzählt! ‚Wir Hartz-IV-ler wissen nicht, wie wir zum Ende der Monats noch was zu Essen bezahlen sollen, und die kriegen alles in den Arsch geblasen!’. Daraufhin applaudierten alle ‚Biodeutschen’ und mischten sich in die Diskussion ein!

Von einer Seite war zu hören, dass sie alle schwarzfahren dürfen; denn wenn sie erwischt würden, müssten sie ohnehin nichts bezahlen … Die prustende Mutter zählte auf: ‚Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg, den deutschen Männern die Frauen, kaufen sich bei Meyers, Deichmann und ProMarkt die tollsten Sachen, fahren mit den neusten Fahrrädern rum und brauchen nichts zu machen. Verpissen sollen die sich!’"

Das geht so weiter. Ich komme nun zum Ende:

„Als sie weg war“

- diese Frau stieg dann aus -

„sah ich in die verstörten Gesichter der Kinder und Mütter und entschuldigte mich für all diese dummen …Deutschen und fing aus Wut an zu heulen, dass ich nicht noch bessere Argumente … sagen konnte. Und nein, niemand hat geholfen im Bus, applaudiert haben sie und mitgehetzt!

Und viele Details habe ich aber auch schon verdrängt... Da waren noch so viele andere Sachen. Wie zum Beispiel, dass Hitler wenigstens für Arbeitsplätze gesorgt hat und dass sie es auch nicht gut finden, was er mit den Juden gemacht hat, aber die Ausländer sollen sich in die Schweiz, nach Italien oder sonst wohin verpissen...!“

Wissen Sie, das Schlimme an dieser Geschichte ist, dass sie so durchschnittlich ist, dass sie so häufig ist, dass sie so alltäglich ist.

Das, was uns mit der Studie der FES heute vorgelegt wird, ist die quantitative Erhebung zu diesen Prozessen. Meine erste Bitte in dieser Debatte ist: Lassen Sie uns diese Studie und diese Ergebnisse ernst nehmen und lassen Sie uns sie nicht verdrängen. Sie sind eine schlechte Botschaft. Aber sie sind eine wahre Botschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN - Zustimmung bei der SPD)

Nun weiß ich, dass diese Studie massiv angegriffen wird. Aber sie wird nicht deswegen massiv angegriffen, weil sie eine besonders schwierige oder komplizierte Fragestellung hat. Sie wird auch nicht deswegen besonders angegriffen, weil man sie wissenschaftlich nicht begründen kann.

Diese Studie hat eine Besonderheit. Sie verwendet zwar den Begriff „Rechtsextremismus“, aber sie verwendet ihn anders als unsere Verfassungsschutzämter. Sie besagt nicht, wir definieren einmal eine politische Mitte, und diejenigen, die sich nach rechts oder links davon entfernen, sind dann die jeweiligen Extremisten. Das ist politisch inzwischen völlig inhaltslos.

Ich erinnere sie bloß einmal an die Debatte und die Pressemeldungen des Bürgermeisters von Insel, nachdem wir dort gewesen sind. Der hat einen neuen Extremismusbegriff gefunden. Das sind die linken und rechten Chaoten und die Landtagsabgeordneten, vor denen er seine Bürger schützen muss. Deswegen hat er sie sich zu Hause aufs Schloss eingeladen.

Nein, der Rechtsextremismusbegriff ist hier ein anderer. Es wird gesagt, wir untersuchen antidemo

kratische und rassistische Einstellungen bei allen, und zwar völlig unabhängig davon, wo sich die Leute politisch selbst verorten oder wo sie von anderen verortet werden.

Eine Aussage wie: „Ich werde die deutschen Sozialversicherungssysteme bis zur letzten Patrone vor Zuwanderung schützen“, wird in dieser Studie losgelöst davon bewertet, ob es ein NPD-Funktionär oder ein bayerischer Ministerpräsident sagt. Das, sage ich, ist das Umstrittene an dieser Studie. Das ist aber auch das Gute an dieser Studie, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie legt die Wahrheit schonungslos offen.

(Beifall bei der LINKEN)

Welche Aussage trifft nun diese Studie?

Erstens. Wir haben es, was antidemokratische und rassistische Einstellungen betrifft, mit einer Stagnation auf hohem Niveau in ganz Deutschland zu tun. Aber wir haben es bei diesen Einstellungen mit einem erschreckenden Wachstum im Osten Deutschlands zu tun.

Punkt 2 dieser Aussage ist: Dieses Wachstum ist nicht historisch erklärbar. Dieses Wachstum ist erklärbar aus der aktuellen Situation in Ostdeutschland, der sozialen, ökonomischen, kulturellen Situation in Ostdeutschland; denn ein Zusammenhang ist deutlich herausgestellt worden: Überall dort, wo es Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit, mit negativem Wanderungssaldo gibt, wo es Regionen gibt, in denen sich die soziale und öffentliche Daseinsvorsorge bzw. der Staat zurückzieht, wachsen antidemokratische und rassistische Einstellungen.

Es wird gesagt, das trifft auf den Osten zu. Das trifft aber auch in den Regionen im Westen zu, die mit ähnlichen sozialen und ökonomischen Problemen zu tun haben. Es gibt eine Reihe von Studien in Westeuropa, in denen das Gleiche festgestellt wird: Überall dort, wo Regionen in dieser Art und Weise betroffen sind, gibt es Wachstum von antidemokratischen und rassistischen Einstellungen.

Punkt 3 ist: Die Studie sagt ganz klar, wir sollten uns keine Illusionen über die Ursachen des Wachstums dieser Einstellungen machen.

Ich stimme dem Kollegen Herbst von den GRÜNEN ausdrücklich zu, wenn er sagt: Nicht die Qualität irgendwelcher Broschüren, Plakate oder Publikationen der Landeszentrale für politische Bildung sind daran schuld oder nicht schuld, ob die Dinge wachsen oder nicht, ob Demokratie Bindungskraft entwickelt oder nicht.

Es gibt einen ganz eindeutigen Zusammenhang, und dieser Zusammenhang ist: Je geringer die Menschen ihre Teilhabechance in der Gesellschaft einschätzen, umso anfälliger werden sie für antidemokratische und rassistische Positionen. Je geringer sie die Entwicklungsmöglichkeiten ihres un

mittelbaren gesellschaftlichen Umfeldes einschätzt, desto anfälliger wird eine Gesellschaft für antidemokratische und rassistische Positionen.

Meine Bitte ist, diesen ganz grundlegenden Zusammenhang in die Mitte der Debatte zu stellen, diesen ganz grundlegenden Zusammenhang zu diskutieren; denn es geht hierbei um grundlegende Prozesse. Es geht hierbei nicht primär um politische Bildung, sondern es geht um unsere Gesellschaft in ihrer gesamten Funktionsweise, liebe Kolleginnen und Kollegen. Kleiner ist es leider nicht zu haben.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Das Interessante an der Studie ist aber auch, dass sie Vorschläge unterbreitet. Sie unterbreitet Vorschläge dazu, wie die Dinge zustande kommen. Sie sagt, es gibt eine ganz eindeutige Korrelation: Je geringer der Bildungsgrad, das Einkommen und die politische Partizipation sind und je geringer die soziale Sicherheit ist, also je größer die Angst vor Verlust des sozialen Status ist, desto anfälliger werden die Menschen für autoritäre Konzepte, für demokratiefeindliche Konzepte, für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit.

Die Studie sagt ganz klar: Will man diesen Wirkzusammenhang wirklich außer Kraft setzen, will man diese Entwicklung bekämpfen, dann geht es um Verteilungsfragen in unserer Gesellschaft im Bereich der Bildung, der Einkommen und der sozialen Sicherheit und es geht um die Erweiterung von politischen Partizipationsmöglichkeiten.

Wir werden bei der Bekämpfung von antidemokratischen und rassistischen Einstellungen nur erfolgreich sein mithilfe einer guten Sozialpolitik, mithilfe einer guten Wirtschaftspolitik und mithilfe einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die nicht polarisiert, sondern integriert, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Zweitens gibt uns die Studie den Hinweis, dass wir Verteilungskämpfe in dieser Gesellschaft nicht ethnisieren und nicht kulturell oder religiös verbrämen dürfen. Was ist damit gemeint? - Ich möchte dies an einem Zitat von Herrn Seehofer deutlich machen.

Natürlich gibt es eine politische Auseinandersetzung um die Perspektive der sozialen Sicherungssysteme. Es gibt natürlich die Auseinandersetzung darüber, wie ich diese Sicherungssysteme gestalte.