Herr Haseloff, Sie haben vor einem Jahr als damaliger Wirtschaftsminister mit den Gewerkschaften eine gemeinsame Erklärung zur Stärkung der Tarifpartnerschaft im Land Sachsen-Anhalt unterzeichnet. Darin steht, dass die Anwendung der Flächentarifverträge ein Gütezeichen für eine zukunftsorientierte Personalpolitik in den Unternehmen ist. Sie haben damals gesagt: Wir werben für eine stärkere Tarifbindung als ein wirksames Instrument der Fachkräftesicherung und bekennen uns zum Grundsatz der Tarifautonomie.
Dem stimmen wir ausdrücklich zu. Wir würden uns freuen, wenn wir jetzt gemeinsam den nächsten Schritt gehen und das auch mit Leben erfüllen könnten. Denn ich halte dies in der Tat für existenziell. Dafür ist jetzt dringend der Zeitpunkt gekommen.
Zum Schluss möchte ich noch das Thema Wirtschaftspolitik ansprechen. Dieses Thema ist mir heute in den Debatten in der Tat ein wenig zu kurz gekommen.
Wir waren vorgestern Abend beim Verband der Chemischen Industrie. Dieser hat eingefordert, es müsste für Deutschland wieder eine Industriepolitik geben. Das ist richtig so, und zwar nicht nur für die chemische Industrie, sondern für alle Branchen. In Sachsen-Anhalt ist eine ganze Menge strukturbestimmender Branchen wieder ansässig gewor
den. Ja, wir brauchen in Deutschland und ganz konkret in Sachsen-Anhalt auch eine industriepolitische Strategie.
Dabei geht es uns nicht, wie uns vielleicht manche vorwerfen würden, um die Abschottung von Märkten. Es geht uns dabei vielmehr um einen fairen Wettbewerb, bei dem wir unsere Unternehmen unterstützen. Denn wir sind wieder so etwas wie ein Industrieland, in dem aber noch viele Potenziale zu entwickeln sind. Es geht dabei um Rahmenbedingungen, die die Politik mitgestalten muss. Dabei geht es um Energie, Rohstoffe, Infrastruktur und Fachkräfte.
Ich habe neulich abends auch gesagt: Ich hätte es mir nicht träumen lassen, dass die Sozialdemokraten, auch auf der Bundesebene, einmal die letzte große Partei sein werden, die für niedrigere und vertretbare Strompreise wirbt und beim Atomausstieg von der CDU und der FDP rechts und links überholt wird. Das hätte ich mir vor einem Dreivierteljahr wirklich nicht träumen lassen.
Fakt ist: Wir müssen bei dem Thema Energie in der Tat am Ball bleiben, damit Deutschland nicht abgehängt wird. Und auch das Thema Wasser spielt eine Rolle. Selbstverständlich ginge die Industrie in Sachsen-Anhalt nicht pleite, wenn wir einen Wassercent erheben würden. Ich glaube, darum geht es denjenigen, die sich inzwischen dazu artikulieren, auch gar nicht.
Ich habe von einem meiner Vorgänger im Ministeramt, von Dr. Klaus Schucht, dem wir - das darf man, glaube ich, ab und zu einmal sagen - einen Großteil der Privatisierungserfolge in Sachsen-Anhalt und damit die Basis für eine mögliche industrielle Entwicklung zu verdanken haben, viel gelernt. Ich habe von ihm gelernt, dass Wirtschaftspolitik auch sehr viel mit Psychologie zu tun hat.
Deshalb müssen wir als Land Sachsen-Anhalt, als vertretende Fraktionen und auch als Landesregierung gut abwägen und uns gut überlegen, ob und auf welche Weise wir den Wohlfühlfaktor der Industrie verschlechtern sollten.
Lassen Sie mich noch vier Dinge zusammenfassen. Erstens. Eines der wichtigsten Ziele nicht nur der Bundesrepublik, des Staates, sondern auch des Landes Sachsen-Anhalt ist es, Wohlstand und Beschäftigung der Bürger zu sichern und zu fördern. Die Grundvoraussetzung dafür ist eine gesunde und dynamische Wirtschaft. Dazu gehört eben nicht zuletzt eine wettbewerbsfähige industrielle Basis.
Das verarbeitende Gewerbe wird nach meiner festen Überzeugung auch in Zukunft eine zentrale Bedeutung für eine positive gesamtgesellschaftliche Entwicklung haben.
Zweitens. Aufgrund der zentralen Bedeutung der industriellen Produktion für unsere Wirtschaft ist die Politik und damit wir alle aufgerufen, ein günstiges Umfeld und eine gedeihliche Entwicklung für die heimischen Standorte zu schaffen. Damit haben wir in Sachsen-Anhalt noch eine große Aufgabe vor uns.
Drittens. Um gute Standortbedingungen zu schaffen, muss die Industriepolitik als Querschnittsaufgabe in die verschiedenen Politikbereiche hineinwirken.
Viertens. Politik für Sachsen-Anhalt muss darüber hinaus - das ist mein Schlusssatz - insgesamt eine Querschnittsaufgabe sein. Wie wir dies mit Zahlen, mit Geld untersetzen, darüber werden wir in den nächsten Wochen zu diskutieren haben. - Ich wünsche uns allen viel Spaß dabei und gute Erfolge.
Vielen Dank, Frau Kollegin Budde. - Damit ist die Debatte zur Einbringung des Haushaltsplanentwurfs abgeschlossen. Wir treten nunmehr in das Abstimmungsverfahren ein.
Wir stimmen zunächst über den Entwurf eines Haushaltsbegleitgesetzes für die Jahre 2012/2013 in der Drs. 6/444 ab. Ich schlage vor, diesen Gesetzentwurf an alle ständigen Ausschüsse mit Ausnahme des Petitionsausschusses zu überweisen. Federführend soll der Finanzausschuss beraten. Wer dem zustimmt, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Gegenstimmen? - Keine. Stimmenthaltungen? - Auch keine. Damit ist der Gesetzentwurf an die Ausschüsse überwiesen worden.
Wir stimmen nun über Überweisung des Entwurfes des Haushaltsgesetzes 2012/2013 in Drs. 6/445 ab. Ich schlage vor, den Gesetzentwurf an alle ständigen Ausschüsse mit Ausnahme des Petitionsausschusses zu überweisen. Federführend soll der Finanzausschuss beraten. Wer so verfahren möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Das sind alle. Gegenstimmen? - Keine. Stimmenthaltungen? - Auch keine. Damit ist das so beschlossen worden und der Tagesordnungspunkt 1 ist erledigt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Ihnen vorliegenden Antrag wollen wir für die amtliche Anerkennung einer Behinderung werben, die für Betroffene und ihre Umwelt eine besondere Herausforderung bedeutet. Diese Anerkennung soll im Rahmen der Gewährung eines speziellen Merkzeichens auf dem Schwerbehindertenausweis erfolgen und bedarf einer Verankerung im SGB IX. Deshalb wollen wir eine Bundesratsinitiative unterstützen.
Eine große Anzahl von Behinderungen wird von der Mehrheit der Menschen nicht wahrgenommen. Nur wenn ein Mensch auf die Hilfe anderer angewiesen ist, wird der Zustand unübersehbar.
Taubblindheit ist nicht einfach die Summe aus Blindheit und Gehörlosigkeit. Sie ist eine spezifische Behinderung, die mit besonderen Benachteiligungen einhergeht und besondere Aufwendungen und Hilfen zur Teilhabe an der Gesellschaft erfordert. Dies wird auch in einer Erklärung des Europäischen Parlaments vom 12. April 2004 zu den Rechten von Hör- und Sehbehinderten - Taubblinden - festgehalten.
Als „taubblind“ werden Menschen bezeichnet, die eine doppelte Sinnesschädigung haben. Dabei sind die Einschränkungen des Hör- und Sehvermögens so stark, dass das Fehlen des einen Sinnes nicht durch andere kompensiert, sondern nur mit Hilfe Dritter ausgeglichen werden kann.
Treffender als mit dem folgenden Satz, kann es nicht beschrieben werden: Ein gehörloser Mensch sieht ein vorbeifahrendes Auto, ein blinder Mensch hört es, ein taubblinder Mensch nimmt es nicht wahr.
Die wohl bekannteste Taubblinde ist Helen Keller. Sie hat es in einem unwahrscheinlichen Lebenskampf geschafft, die Schwelle zur akzeptierten Mitbürgerin zu überschreiten.
Vieles an ihr und ihrem Lebensweg ist faszinierend. Im Alter von 18 Monaten verliert sie ihr Hör- und Sehvermögen, jahrelang lebt sie ohne wirklichen Kontakt zur Außenwelt. Siebenjährig erlernt sie mit Hilfe einer Lehrerin und Freundin das Fingeralphabet. Sie lernt zu sprechen, studiert und versteht mit 20 Jahren mehrere Sprachen. Sie schreibt Bücher, hält Vorträge, bereist die Welt und setzt sich überall für die Emanzipation Unterdrückter ein. Damit wurde sie zum Vorbild für Behinderte in aller Welt.
Sie wollte den selbsternannten Nichtbehinderten ihre Welt und die ihrer Mitmenschen, die im Land des Dunkels leben, verständlicher machen. In einem ihrer Werke beschrieb sie ihre Einschränkung so - ich zitiere -:
„Ob blind oder sehend, wir unterscheiden uns voneinander nicht durch unsere Sinne, sondern durch den Gebrauch, den wir von ihnen machen, durch die Einbildungskraft und den Mut, womit wir Weisheit jenseits unserer Sinne suchen.“
Helen Keller war in ihrer Zeit - und wäre es vielleicht auch heute noch - eine Ausnahmeerscheinung, aber gleichzeitig ein Beispiel dafür, was möglich ist.
Werte Kolleginnen und Kollegen! Auch heute noch ist Taubblindheit nicht als eigenständige Behinderung im Verwaltungsverfahren anerkannt. Nach wie vor fehlen deshalb bedarfsgerechte Leistungsverzeichnisse und kommen die betroffenen Menschen nicht problemlos an mögliche Hilfen. Festzustellen bleibt: Taubblindheit ist nicht einfach die Summe aus Blindheit und Gehörlosigkeit.
Gehörlose, blinde, geistig oder körperlich behinderte Menschen sind bereits in den Hilfesystemen oder per Merkzeichen durch den Staat erfasst. Die Zahl taubblinder Menschen kann in keinem Bundesland auch nur annähernd benannt werden. Man weiß nicht genau, wie viele es sind und wo oder wie sie leben. Man weiß nur, dass es wenige sind.
Die Folge dieses Nichtwissens ist, dass viele betroffene Menschen ohne Beratung, ohne Hilfsmittel und ohne Schulungsmöglichkeiten im Umgang mit der eigenen Behinderung leben oder als Angehörige damit umgehen müssen. Ohne Hilfen - das haben wir hier bereits mehrfach erörtert - sind ein selbstbestimmtes Leben und Teilhabe aber nicht möglich.
Der Minister für Arbeit und Soziales Norbert Bischoff hat in seinem Redebeitrag beim sechsten behindertenpolitischen Forum zum Thema „Inklusion“ vor wenigen Tagen von der Akzeptanz der Vielfalt der Menschen gesprochen, die uns allen neue Chancen des Miteinanders eröffnet, wenn wir miteinander kommunizieren. Aber was ist, wenn Kommunikation ohne Hilfsmittel unmöglich ist?
Bislang werden taubblinden Menschen zwei Merkzeichen zugewiesen: „Gl“ für „gehörlos“ und „Bl“ für „blind“. Ob das tatsächlich geschieht, ist allerdings vom Grad der jeweiligen Schädigung abhängig. Es kann zum Beispiel sein, dass eine Hörschädigung gegeben ist, die für das Merkzeichen „Gl“ nicht ausreicht, ohne dass die Blindheit oder Sehschädigung durch das Resthörvermögen ausgeglichen werden kann. Die Behinderung beider Hauptsinne führt zu einem erheblichen spezifischen Bedarf an Hilfen und ist eben nicht in der Summe aus „GI“ und „BI“ zusammenzufassen.
Wie alle anderen behinderten Menschen benötigen Taubblinde spezifische Leistungen, keine pauschale Anerkennung von der Stange, sondern Maßanzüge für ihre Behinderung.
Das Fehlen des spezifischen Merkzeichens und daran gebundener klarer Ansprüche erschwert die ohnehin hindernisreiche Lebenssituation taubblinder Menschen.
Als gehörloser Mensch erhält der Taubblinde anstandslos eine Lichtklingel. Die hilft ihm aber nicht; er benötigt eine Vibrationsklingel. Ist doch einleuchtend, aber nicht Realität.
Ein taubblinder Mensch benötigt ein Lesesystem mit Braillezeile. Da ein blinder Mensch unterwegs problemlos über die Lautsprache kommunizieren kann und ein gehörloser Mensch keine optischen Hilfsmittel benötigt, ist es schwierig, eine solche Braillezeile zu bekommen. Einfacher ist es, ein Lesesystem mit Sprachausgabe zu erhalten, was dem Taubblinden wiederum wenig nützt.
Hinzu kommt, dass ein taubblinder Mensch sowohl zuhause als auch unterwegs Kommunikationshilfe benötigt, um mit vollsinnigen Menschen in Kontakt treten zu können. Neben dem stationären Lesegerät benötigt der taubblinde Mensch also auch noch ein mobiles Lesegerät oder je nach Grad der Sehbehinderung eine mobile Braillezeile.
Die Gruppe taubblinder Menschen ist klein, zugegebenermaßen sehr klein, aber dies sollte uns nicht davon abhalten, Erleichterungen für ihre konkrete Lebensqualität politisch zu organisieren.