Die Revolution stürzte auf friedlichem Wege ein bis an die Zähne bewaffnetes System. Wie war das möglich? - Eine Revolution ist nichts anderes, als eine morsche Tür einzutreten. Das System war wirklich morsch. Doch bis zum Beweis dafür vermochten viele Menschen dies nicht zu glauben.
Es stellte sich jedoch heraus, dass es die Kommunisten - oder wie immer sie sich nannten - im DDR-System mit dem Primat der Politik ernst gemeint hatten. Alles hing an der herrschenden Partei bzw. an denen, die die Partei beherrschten. An dieser Säule wiederum hingen Staatsapparat, Polizei, Armee und Staatssicherheitsdienst. Sie waren keineswegs ein Staat im Staat. Als die Säulen der politischen Macht in sich zusammenschmolzen, weil sie keine innere Kraft mehr aufbrachten und die militärische Unterstützung von außen verloren, fanden sich auch die Instrumentarien der Macht am Boden wieder und leisteten keinen Widerstand, der durchaus möglich gewesen wäre.
Die Friedfertigkeit wurde zu einem in der deutschen Geschichte einzigartigen Merkmal der Revolution. Trotz der Freude darüber müssen wir fragen: Warum floss kein Blut? - Von den vielen Gründen dafür, zu denen auch der Zufall gezählt werden mag, nenne ich nur drei:
Die meisten Demonstrationen gingen von Montagsgebeten in den Kirchen aus, in denen von Beginn an zu Gewaltlosigkeit aufgerufen worden war.
Allen Beteiligten war zumindest im Unterbewusstsein klar, dass man einen physisch überlegenen Gegner nicht ungestraft reizen darf. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Die russischen Panzer waren im Land.
Schließlich hatten sich zwar eine große Unzufriedenheit und Zorn aufgestaut, aber nur bei sehr wenigen Menschen wirklich tiefer Hass, der zum Ausdruck hätte drängen können.
Meine Damen und Herren! Dem alle Widerstände brechenden Ruf „Wir sind das Volk!“ schloss sich Wochen später der Ruf „Wir sind ein Volk!“ an. Das war die deutsche Frage getreu dem Satz aus den 60er-Jahren: So lange das Brandenburger Tor zu ist, ist die deutsche Frage offen.
Der Ruf nach der Einheit Deutschlands war die letzte Phase der Revolution und ihre einzig logische Folge. Nun galt es, sich auf diese Forderung einzustellen und auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Eine gewendete DDR auf Dauer neben der Bundesrepublik Deutschland erschien grotesk. Die Reihenfolge der damaligen Abläufe war anders als in unserer Nationalhymne, nämlich zuerst die Freiheit, dann die Demokratie, durch eine demokratische Entscheidung die Einheit und durch diese wiederum das Grundgesetz mit dem darauf aufbauenden Rechtsstaat.
Dieses hohe Gut, der Rechtsstaat kann nicht alle Probleme zur Zufriedenheit aller und möglichst auch noch gleichzeitig lösen. Das wissen und akzeptieren wir. Auch an seiner Perfektion sind durchaus Zweifel erlaubt. Doch die Worte „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ sind böse und irreführend.
Man könnte genauso sagen: Wir wollten Gesundheit und bekamen das Gesundheitswesen. Beide hohen Werte, Gerechtigkeit und Gesundheit, sind abstrakt nicht zu haben. Um ihnen nahe zu kommen, bedarf es eines Instru
mentariums. Das ist bei der Gerechtigkeit der Rechtsstaat, den es unter allen Umständen zu verteidigen gilt.
Als die deutsche Einheit auf der Tagesordnung stand und von den Siegermächten zugelassen werden würde, galt es, den geeigneten Weg zu finden. Welcher von beiden möglichen beschritten werden sollte, war von Beginn an strittig - ich war dabei -: entweder der Zusammenschluss nach Artikel 146 des Grundgesetzes oder der Anschluss nach Artikel 23 des Grundgesetzes.
„Das Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.
Die Mehrheit der Bevölkerung entschied sich - wohl auch durch das Wohlstandsversprechen gelockt - für jene politischen Kräfte, die in einem demokratischen Prozess für diesen kurzen Weg eintraten. Der geschichtliche Augenblick war günstig. Somit wurde am 3. Oktober 1990 die Einheit Deutschlands in Freiheit vollzogen. Seitdem singen wir in ganz Deutschland gemeinsam den wunderbaren Text unserer Nationalhymne: Einigkeit und Recht und Freiheit. - Ich danke Ihnen.
(Starker, lang anhaltender Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP - Zustimmung von der Regierungsbank)
Herzlichen Dank, Herr Dr. Fikentscher, für Ihren Redebeitrag. - Ich darf jetzt um den Redebeitrag der Fraktion DIE LINKE bitten. Herr Gallert, bitte schön, Sie haben das Wort.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste! Herr Präsident! Ich spreche gerne zu diesem Thema, weil ich glaube, dass in diesem Jahr, in dem wir sowohl den 60. Jahrestag des Grundgesetzes als auch den 20. Jahrestag der friedlichen Revolution begehen, im Osten Deutschlands substanzielle Zusammenhänge und Aufträge an die politische Landschaft, auch an den Landtag bestehen, über die sich zu diskutieren lohnt.
60 Jahre Grundgesetz - das ist eine zivilisatorische Grunderrungenschaft, die ich kurz auf die folgenden Punkte bringen will:
Erstens Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Diese zivilisatorische Grunderrungenschaft ist in der Geschichte leider viel zu selten erreicht worden.
Zweitens die horizontale und vertikale Gewaltenteilung, über die bereits mehrfach geredet worden ist, die es zu erhalten gilt, die ein politischer Auftrag ist und bei der wir als Landtag Teil dieser zivilisatorischen Errungenschaft sind.
Drittens - auch das ist bereits gesagt worden - die Garantie der Bürgerrechte, das heißt der Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat, die - das hat Professor Böhmer bereits ausgeführt - in einer viel substanzielleren Stellung waren als noch in der Weimarer Verfassung.
All dies sind zivilisatorische Errungenschaften, die es zu bewahren gilt, die es in der Bevölkerung zu verankern gilt und die es zu verteidigen gilt. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren gemerkt, wie häufig sie verteidigt werden müssen und wie schwer das sein kann.
20 Jahre friedliche Revolution im Osten Deutschlands - ein eigenständiger Beitrag und eine eigenständige Zielstellung, die nachher darin gemündet ist, das Grundgesetz in seinem Geltungsbereich auf den Osten Deutschlands auszuweiten, die aber mitnichten damit begann und primär dadurch motiviert war. Auch das ist heute schon mehrfach gesagt worden. Sie hatte eine eigenständige Zielstellung, nämlich die Reformierung der DDR, das vollständige Umkrempeln des politischen Systems, das vollständige Herstellen einer völlig anderen politischen Kultur, die sich allerdings ab dem Ende des Jahres 1989 auf den Weg begeben hat, das Grundgesetz zu übernehmen.
Trotzdem - auch das muss man sagen - sind es zwei unterschiedliche Dinge. Die zentrale Losung der friedlichen Revolution im Osten Deutschlands war die Abschaffung von Fremdbestimmung, die Abschaffung von politischer Diktatur, die Herstellung von politischer Selbstbestimmung, die Herstellung von Freiheit gegenüber dem Staat und die Herstellung von Freiheit, Politik selbst zu gestalten. Das war das Credo der friedlichen Revolution im Jahr 1989.
Es gibt noch einen zweiten Hinweis, den man geben muss, wenn man die Verhältnisse zwischen 60 Jahren Grundgesetz und 20 Jahren friedlicher Revolution benennt. Das betrifft Artikel 146 des Grundgesetzes, der genau für den Fall, der dann auch eingetreten ist, einen anderen Weg vorhergesagt hat. Das heißt, selbst die Väter des Grundgesetzes sind davon ausgegangen, dass das Grundgesetz in dem Augenblick, in dem es eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten gibt, nicht mehr gilt und, wie es dort steht, das deutsche Volk sich eine neue Verfassung gibt. Das heißt, es gibt eine Vielzahl von Wechselbeziehungen zwischen beiden Daten. Es gibt keine einfache Kausalität. Es gibt keinen einfachen Determinismus.
Schauen wir uns als LINKE heute das Grundgesetz an, dann können wir feststellen - das sage ich ausdrücklich -, dass alle unsere Zielstellungen in dem vorgegebenen institutionellen Rahmen dieses Grundgesetzes erfüllbar sind. Wir erkennen dieses Grundgesetz als Grundlage unseres politischen Handelns an und wir sagen ausdrücklich: Ja, wir sind bereit, es in dieser Bundesrepublik Deutschland zu verteidigen.
Warum sind wir das? - Weil das Grundgesetz eine vielfach breitere gesellschaftliche Entwicklung ermöglicht, als die gesellschaftliche Realität in dieser Bundesrepublik Deutschland es derzeit darstellt. Das Grundgesetz hat in fast allen Fragen, die uns wichtig sind, sehr wohl Spielräume und die Möglichkeit eröffnet, soziale Gerech
tigkeit und soziale Vorstellungen umzusetzen. Das ist ausdrücklich nicht unser Problem. Wir sagen aber, man ist, um das zu verändern, dazu gezwungen, die politische Realität zu verändern, aber nicht das Grundgesetz.
Wenn wir uns allerdings heute über 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre friedliche Revolution unterhalten, dann ist die öffentliche Reflexion, die Reflexion beider Dinge in der Bevölkerung in Sachsen-Anhalt, vielleicht wichtiger als die historische Bewertung beider Ereignisse. Das heißt, für uns als Politiker ist es entscheidend, wie die Menschen heute zu den institutionellen Garantien, zu dem institutionellen Staatsaufbau, den das Grundgesetz vorgibt, und zu den Zielen von 20 Jahren friedlicher Revolution im Osten Deutschlands stehen.
Diese entscheidende Frage ist bei den Reden bisher relativ selten und nur am Rande gestreift worden. Ich glaube, das geht so nicht. Ich glaube, wir müssen uns auf diese Fragen konzentrieren und wir können uns auf diese Fragen konzentrieren, weil wir seit zwei Jahren ein sehr beeindruckendes Dokument für Sachsen-Anhalt haben, das uns die Fragen, wie die Bürger in SachsenAnhalt zur institutionellen Ordnung und zur Frage der politischen Teilhabe und der politischen Selbstgestaltung stehen, beantwortet.
Ich bitte Sie alle, noch einmal in diesen Sachsen-AnhaltMonitor hineinzuschauen und zu schauen, wie das Ansehen des Bundestages und der Bundestagsabgeordneten ist, wie der Landtag und die Landtagsabgeordneten sowie die politischen Institutionen in Sachsen-Anhalt von der Bevölkerung reflektiert werden, und zwar nicht, weil wir das so definieren, sondern weil sie es in dieser Studie offengelegt haben. Hierzu sage ich ausdrücklich: Wer meint, es käme ein feierlicher Verfassungspatriotismus auf, der irrt. Die Realitäten sind sehr andere. Daher stellt sich für uns die Frage, woher das kommt.
Damit kommen wir zu einem zweiten Punkt, der in diesem Sachsen-Anhalt-Monitor sehr gut erläutert worden ist, nämlich zu der Frage, inwieweit das Credo der friedlichen Revolution, die Teilhabemöglichkeit und die Selbstgestaltung von politischen Prozessen, eigentlich erfüllt ist. In dem Monitor wurde den Menschen unter anderem die folgende Frage gestellt: Haben Sie Einfluss auf Politik? Außerdem ist gefragt worden: Haben Sie irgendeine Möglichkeit, Regierungspolitik zu beeinflussen, oder kümmert sich die Regierung um das, was die Menschen im Land denken?
Ich weiß nicht, wer von Ihnen die Zahlen kennt. Ich nenne Ihnen zwei Angaben. 42 % der Befragten lehnen vollständig ab, dass sie irgendeinen Einfluss auf politische Entscheidungen in diesem Land haben. 25 % der Menschen sagen, sie hätten fast keinen Einfluss. Zwei Drittel der Sachsen-Anhalter sagen für sich, dass die Ziele der friedlichen Revolution in Bezug auf die politische Selbstbestimmung nicht erreicht sind.
Die Frage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, ist, warum das so ist. Ich würde Ihnen dazu gern einen Vorschlag machen. Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang, der uns dargelegt wird. Je schlechter die individuelle Situation ist, je schlechter die Möglichkeit der Menschen im Einzelnen ist, gesellschaftliche Teilhabe zu realisieren, und zwar im materiellen Bereich und im Bildungsbereich, umso öfter wird die Aussage gemacht, wir hätten in diesem Land keinen Einfluss auf die Politik.
Deswegen sagen wir ausdrücklich: Wenn man einen wirklichen Verfassungspatriotismus in dem Sinne, wie
wir ihn möglicherweise alle möchten, herbeiführen will und wenn man die Aufgabenstellung der friedlichen Revolution von 1989 realisieren will, dann geht es darum, allen Menschen in Sachsen-Anhalt und in der Bundesrepublik diese Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, und zwar hinsichtlich materieller Voraussetzungen, Bildungsvoraussetzungen, sozialer Voraussetzungen sowie Voraussetzungen des Gesundheitswesens und des Bereichs der Rente.
- Ich komme gleich zu Ihnen, Herr Gürth. - Ich habe ausdrücklich erwartet, dass diese Debatte zu einem großen Teil zu einem Thema geführt wird, das nicht Thema der Aktuellen Debatte ist, und zwar zu dem Thema 40 Jahre DDR. Ich bin darüber nicht überrascht. Am Ende will ich aber sagen, warum ich das als ein Problem empfinde.
Ich empfinde es nicht deshalb als Problem, weil man nicht über 40 Jahre DDR und deren geschichtliche Bewertung reden sollte. Vielmehr halte ich es für problematisch, weil ich - dieser Eindruck ist heute wieder verstärkt bei mir aufgetreten - inzwischen den Eindruck habe, dass mangelnde Identifikation mit dem politischen System, mangelnde Bereitschaft, sich hierin zu engagieren, und mangelnde Überzeugungskraft gegenüber den Menschen in diesem Land offensichtlich dadurch aufgehoben werden sollen, dass man eine negative Kontrastschablone auflegt; und das ist die DDR.
(Herr Stahlknecht, CDU: Leute, Leute! - Zurufe von Frau Feußner, CDU, und von Herrn Kolze, CDU - Frau Dr. Klein, DIE LINKE: Wir haben auch zugehört!)
- Lassen Sie mich ausreden. Ich habe Sie auch ausreden lassen. - Die DDR als negative Kontrastschablone zu benutzen funktioniert aus zwei Gründen nicht. Erstens funktioniert diese negative Kontrastschablone deswegen nicht, weil die DDR in ihrer realen Existenz sehr viel differenzierter gewesen ist, als sie sich mit einem Begriff wie dem des Unrechtsstaats beschreiben lässt.
Es geht insofern nicht, als die Erinnerungen der Menschen in diesem Land sehr, sehr unterschiedlich sind, ihre Reflexion sehr unterschiedlich ist, auch ihre Bewertung dieses Landes und dieses Staates sehr, sehr unterschiedlich ist. Auch das ist übrigens alles in eben diesem Sachsen-Anhalt-Monitor dokumentiert. Deswegen funktioniert diese Schwarz-Weiß-Gegenüberstellung nicht.
Es gibt einen zweiten Punkt. Auch das belegt übrigens dieses Papier des Sachsen-Anhalt-Monitors. Aus dieser negativen Kontrastschablone wird plötzlich eine positive Kontrastschablone. Ich habe hier vor zwei Jahren bei der Bewertung dieses Sachsen-Anhalt-Monitors schon gesagt, dass es im Jahr 2007 große Bevölkerungsgruppen gibt, die ein positiveres DDR-Bild haben, als es Ende der 80er-Jahre in der DDR selber existierte.
Das hängt einfach damit zusammen, dass die Leute bei dieser Spiegelung, bei dieser bipolaren Gegenüberstellung ihre eigene persönliche Reflexion, ihre eigene subjektive Wahrnehmung ihres Lebens in dieser Bundesrepublik Deutschland einfach spiegeln. Wenn sie unzufrieden mit ihrer eigenen Position sind, bewerten sie die DDR hoch.